Andrea Hafenstein: "Schach dem Tumor"

"Dies ist die Geschichte einer Frau, deren von schweren Unglücken gezeichnetes Leben unerwartet bedroht wird: ein Tumor.
Die Autorin berichtet in diesem rasant und spannend geschriebenen Text, wie die fürchterliche Entdeckung ihren Alltag verändert und wie sie sich dem Schicksal widersetzt. Vor allem das Schachspiel, so sagt sie, habe ihr das Leben gerettet."


Schach

Nur die kurzen Schritte des Mannes sind zu hören. Schon nach zehn Minuten entledigt er sich seines Jacketts, man sieht ihm die Anspannung an. Was er leistet scheint manchem Zuschauer schier unbegreiflich. Wie kann ein einzelner Mensch so viele Gegner in Schach halten? Aber er ist geübt, trainiert täglich mehrere Stunden und dieser Wettkampf gehört sicher nicht zu seinen schwersten. Trotzdem, er nimmt ihn ernst, er konzentriert sich. Niemand spricht ein Wort. Es wird nicht mehr lange dauern und die ersten seiner fünfundzwanzig Gegner werden aufgeben. Offensichtlich sind sie einer frühen Finte des Meisters aufgesessen, er hatte ihnen eine Falle gestellt und sie bemerkten es erst, als es schon zu spät war. Man sieht es ihren nervösen Blicken an, unruhig überfliegen die Augen das Geschehen in der verzweifelten Hoffnung, doch noch einen Ausweg zu finden. Verschieden sind die Taktiken: der eine greift in wilder Attacke noch einmal an, um schließlich um so eher alle Kräfte zu verzehren, der andere verschanzt sich hinter seiner Stellung und zieht den Kampf, den er nicht mehr gewinnen kann, unnötig in die Länge. Endlich, es ist noch keine halbe Stunde vergangen, da gibt der erste Herausforderer auf. Dies wirkt wie ein Signal, drei, vier weitere werfen wenig später das Handtuch. Niemand wollte der erste sein. Leise erheben sie sich von ihren Plätzen, um den anderen über die Schulter zu schauen. Es wird hektischer, denn je weniger Spieler standhalten, um so schneller hat der Meister seine Runde gemacht und fordert die nächste Entscheidung. Wer nicht von Beginn an ihm entgegenhalten konnte, dessen Chancen sinken nun. Nur eine wirklich starke Position wird sich auf die Dauer halten lassen, denn eines hat der Meister allen voraus: er ist schnell, unglaublich schnell. Nach einer Stunde zeichnet sich schon ab, wer ihm Paroli bieten kann. Man erkennt es an seiner Verweildauer. Mancher Zuschauer wundert sich darüber, weil er die Gesetze dieses Kampfes nicht kennt. Im Gewirr der Figuren scheint ihm die eine Stellung nicht weniger verwirrend als die andere und manchmal wundert er sich sogar, weshalb wieder ein Spieler aufgegeben hat. Das Brett war doch noch voll. Das Matt in zwei Zügen, welches unabwendbar kommen wird, hat er nicht erkannt. Fünf Spieler halten dem Angriff des Meisters nach zwei Stunden Spielzeit noch stand. Nur an einem Brett ist es anders, hier hält der Meister mit Müh und Not seine Position noch zusammen. Ihm gegenüber sitzt ein junges Mädchen, kaum vierzehn Jahre alt, sie wirkt jünger. Soeben kündigt der Profi am Nebenbrett, an dem ein russischer Soldat sitzt, ein Matt in fünf Zügen an. Man übersetzt es ihm. Viele hier sprechen seine Sprache. Noch ungläubig klotzt der Uniformierte auf sein Brett, dieses sagenhafte Matt zu suchen. Er wird es finden, mit Sicherheit. Man wird es ihm zeigen.

Die Konzentration des Meisters richtet sich nun nur noch auf das Spiel mit dem jungen Mädchen. Alle anderen Partien wähnt er als gewonnen, zwei Remis musste er schon zulassen. Immer länger verweilt er am Brett. Mit großen Augen schaut ihn die Kleine an. Sie ist aufgeregt. Sollte es tatsächlich wahr werden, kann ich, als einzige gegen den berühmten Großmeister, gegen Großmeister Uhlmann gewinnen? Jeder kennt ihn. Er ist seit vielen Jahren der stärkste Spieler des Landes, geachtet und gefürchtet auf der ganzen Welt. Selbst Weltmeister hat er bezwingen können, er hat sogar Bücher über das Schachspiel geschrieben, ein wirklicher Meister in allen Belangen, ein Experte ersten Ranges und ein wichtiger Repräsentant des Sports in der DDR. Nun steht er schon vier Minuten am Brett - eine unglaublich lange Zeit für eine Simultanpartie. Seine Bewegungen sind fahrig, von einem Bein aufs andere schaukelt sein Körper, er kratzt sich gedankenverloren am Kopf, stemmt die Arme in die Hüften. Fünf Minuten. Greift auf eine Figur zu und zieht doch die Hand zurück. Soll er es wagen? Stille. Sechs Minuten. Dann entschließt er sich, fasst den Turm und zieht ihn weit in die gegnerische Stellung hinein. Während er zum sowjetischen Soldaten wechselt, schaut er zurück aufs Brett. Wird sie die Falle, ein letzter Versuch vielleicht ein bisschen zu schwindeln, erkennen? Wenn nicht, dann hilft wohl nichts mehr. Der Soldat gibt auf, er hat das Matt, vier Züge später, erkannt. Für einen Moment schien das Mädchen erstaunt, fast erschrocken. Mit solch einem Angriff hatte sie nicht gerechnet. Was soll der Turm auf der siebten Reihe? Hat sie etwas übersehen? Wie bekommt sie diesen unbequemen Turm wieder los?... aber nein, was kümmert sie der Turm. Der kann da vorne allein nichts ausrichten, Nein, es ist ihr eigener Angriff, der das Spiel entscheiden muss. Kaum hat sie dies gedacht, da steht der Großmeister schon wieder an ihrem Brett. Kurz entschlossen zieht sie ihre schwarze Dame auf das Feld d4, womit sie zugleich den König mit Matt bedroht und den zweiten Turm auf dem Feld a1. Der wird verloren gehen. Wortlos reicht Großmeister Uhlmann ihr die Hand, er gratuliert zum Sieg, er lächelt und sie lacht. Später wird er die junge Spielerin vor der Presse loben: sie hat mit Abstand am besten gespielt und verdient gewonnen.

Liebe Schachfreundin Hafenstein!

In Ihrer krankhaft bedingten Situation möchte ich Ihnen beste Genesungswünsche übermitteln. Ich hoffe, dass Sie mittels unseres geliebten Schachsports die Kraft aufbringen, weiterhin als Spielerin sowie als Funktionärin tätig zu sein.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass unsere erste schachliche Begegnung schon über 24 Jahre zurückliegt, wo Sie mich bei einer Simultanveranstaltung besiegen konnten. Betrachten Sie das Schachspiel als Lebenselixier und seien Sie weiterhin die gute Seele der Bundesligamannschaft von Plauen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Großmeister Wolfgang Uhlmann

Dies war ohne Zweifel einer meiner schönsten und wichtigsten Siege. Er war das Ergebnis von langen Jahren harten Trainings.

Begonnen hatte ich mit dem Schachspiel an der Käthe-Kollwitz-Schule in Wittenberg. Direktor Hartmann, der später fast ein zweiter Vater für mich wurde, hatte das Schachspiel in den Unterricht eingeführt. Er war ein starker Spieler und trainierte uns selbst. Mit sechs Jahren erlernte ich das Spiel und konnte bald viele Erfolge damit erringen. Dutzende Medaillen gewann ich auf den alljährlichen Spartakiaden, spielte in der ersten Mannschaft (Frauen-Oberliga) von Wittenberg, wurde Bezirksmeisterin, nahm an DDR-Meisterschaften teil usw., um nur die wichtigsten zu benennen. Das Schach war mein zweites Zuhause und die Eheleute Hartmann meine zweite Familie.

...Schach bedeutete aber auch fast tägliches Training und nahezu jedes Wochenende fuhren wir zu Spielen im ganzen Land herum. Selbst die Ferien waren oft mit Trainingslagern oder Turnierreisen ausgefüllt.

Das Schachspiel hat eine einzigartige Anziehungskraft, es ist ein Universum, in dem man sich verlieren kann. Aber ich wollte mich verlieren. Es ist, in gewisser Weise, ein Extremsport. Das mag vielleicht überraschen, denn für den Außenstehenden stellt es den Inbegriff der Langeweile dar - zwei Menschen sitzen sich stundenlang regungslos gegenüber und schieben alle paar Minuten Klötzchen hin und her - aber wer einmal in diese Welt richtig eingetaucht ist, wer sich einmal von der inneren Dramatik einer Partie hat infizieren lassen, für den ist die Phrase vom Extremsport unmittelbar einsichtig. Ich meine, heutzutage stürzen sich Menschen Brücken hinunter oder durchqueren Wüsten oder fahren auf Flößen reißende Ströme hinunter und was es dergleichen nicht noch alles gibt, um diesen sogenannten „Kick“ zu erleben, um den Körper zu zwingen, euphorisierende Stoffe, körpereigene Drogen, auszustoßen, die einem ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Befreiung, der Losgelassenheit verschaffen, und übersehen dabei, dass der einfachste Weg, dies zu erreichen, in einem Spiel liegt, welches die Menschheit seit Tausenden von Jahren begleitet. Sie sehen den Wald vor Bäumen nicht. Sie wollen sich aus dem tristen Alltag ausklinken und glauben, dafür nach Neuseeland oder an den Klondike fliegen zu müssen. Dabei haben sie das Abenteuer vielleicht sogar bei sich Zuhause im Schrank stehen, dieses karierte Brett mit den schwarzen und weißen Figuren.

Freilich, die Faszination muss man sich erarbeiten. Das mag ein wesentlicher Unterschied sein: ein Gummiseil kann man sich kaufen und eine Brücke über einer wilden Schlucht wird man in Australien schon finden - und es kann losgehen. Im Schach muss man sich dies erst mühsam erringen - durch Selbstüberwindung. Je mehr man davon versteht, um so tiefer sind die Erlebnisse. Über zehn Jahre lang habe ich aktiv Schach gespielt und wenn ich je in meinem Leben einen Fehler gemacht habe, dann war es der, als junge Frau damit aufgehört zu haben. Wer weiß, vielleicht hätte ich es noch zu einer wirklich starken Spielerin gebracht. Aber das ist leider der normale, besser der übliche, Weg, insbesondere für Frauen und Mädchen. Ab einem gewissen Alter, wenn Familie, Kinder, Beruf, Haushalt das Leben zu dominieren beginnen, dann schaffen es nur die wenigsten, dabei zu bleiben. So erging es damals auch mir. Aber es hat bleibende Spuren hinterlassen...

Ich legte mich auf den Röntgentisch, der Kopf wurde arretiert, mit Hilfe eines Gestells. Es darf keine Verschiebungen geben und kein Mensch ist in der Lage seinen Kopf so unbeweglich zu halten, wie es die Maschine verlangt. Ein seltsames und klammes Gefühl überkam mich. Wie ein Torpedorohr lag die Röntgenröhre nun hinter mir und ich sollte das Geschoss sein. Eng und wenig vertrauenerweckend sah sie aus. Ich befürchtete Platzangst und Atemprobleme. Als die ganze Vorrichtung langsam hineingeschoben wurde, da schloss ich die Augen, wie man es beim Zahnarzt macht. Man will das nicht sehen oder vielleicht ist es auch eine Form der Konzentration, der bangen Erwartung. In die Hand gab man mir eine Art Ballon, eine Klingel, die im Notfall gedrückt werden könne. Welcher Notfall? Vielleicht kann es einem darin schlecht werden? Eine Klimaanlage wedelte frische und kühlende Luft zu, die Sorge zumindest hatte ich los. Um mich abzulenken und auch um der beängstigenden Enge Herr zu werden, begann ich in Gedanken Schach zu spielen. Eine Partei gegen mich selbst, in der ich nur gewinnen konnte und - verlieren musste. 

Es war kein Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Bliebe noch eine moralische Schuld. Bin ich für ein Fehlverhalten bestraft worden, für eine Sünde? Sünde, das ist der richtige Begriff, denn wenn die Krankheit in diese Richtung gedeutet werden will, dann führt sie eine neue Entität ein: Gott. Nur ein Gott wäre als Strafrichter denkbar, nur er wäre in der Lage, ein moralisches Vergehen, eine Sünde, mit einer Krankheit zu bestrafen. Steht nicht sogar geschrieben in der Heiligen Schrift: „Wirst du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchen und tun, was recht ist vor ihm, und merken auf seine Gebote und halten alle seine Gesetze, so will ich dir keine der Krankheiten auferlegen; denn ich bin dein HERR und Arzt.“ Ja, so steht es geschrieben. Gott also kann Krankheiten auferlegen und er will dies tun, wenn man seinem Wille und seinen Vorschriften nicht gehorcht, wenn man ihnen nicht zuwider handelt. Allein, ich habe die Stimme der Herrn nie gehört, ich kenne die Bibel kaum, ich glaube nicht an diesen Gott. Man darf nicht vergessen, dass wir in einem atheistischen Land aufgewachsen sind. Vater und Mutter entstammen der Arbeiterklasse, da war von Gott keine Rede. Religiöser Glaube war für uns „Opium fürs Volk“ und wir belächelten eher die wenigen Kirchgänger am Sonntag. Da stehen sie nun morgens, in aller Herrgottsfrühe auf, wenn normale Menschen sich noch mal im Bett umdrehen, gehen in die Kirche und hören sich lange Reden an. Nein, das war nichts für uns. Also hörte ich die Stimme Gottes nicht und kannte seine Gebote nicht und wusste auch nicht, was recht ist vor ihm und konnte folglich auch nicht dagegen verstoßen haben. Eine einfache Rechnung, zugegeben, aber sie ging auf. Im Übrigen bin ich mir auch sonst keiner Missetat bewusst, keiner, die im Gesetzbuch festgeschrieben steht.

Schließlich kam es sogar so weit, dass ich das Schachspiel damit in Verbindung brachte. Niemand, der es nicht selbst gut kennt, kann ermessen, wie intensiv die geistige Anspannung während eines richtigen Spieles ist. Drei, vier, fünf, manchmal sogar sechs oder sieben Stunden ununterbrochen höchst angestrengt nachzudenken, das fordert seinen Tribut. Danach ist man geschafft. Und man sieht die Welt einen Moment lang mit anderen Augen. Man hatte sie nämlich zuvor, und zwar bei vollem Bewusstsein, verlassen. So etwas schafft man sonst nur mit Drogen und selbst dann ist man nicht mehr bei vollem Bewusstsein. Die Beanspruchung des Hirns ist enorm. Untersuchungen ergaben sogar, dass ein Schachspieler während einer Partie zwei bis vier Kilogramm seines Gewichts verliert.

Die Diskussion, ob eine solche mentale Anstrengung auf die Dauer und in ständigen Wiederholungen gesund sei, ist wohl so alt, wie das Spiel selbst. In manchen Ländern zum Beispiel ist sogar das Blindspiel, also das Spiel nur in der Vorstellung, ohne Ansicht des Bretts, verboten, da es das Hirn überanstrenge. Manche Spieler haben diese Fähigkeit, über die ich, wie alle Geübten, zum Teil auch verfüge, so weit getrieben, dass sie zugleich, simultan, gegen zwanzig, dreißig, ja sogar vierzig Gegner blind spielen. Sie konnten dann mitunter nächtelang nicht schlafen, was sicherlich wirklich nicht gesund ist. Aber es handelt sich hier um Übertreibungen, nicht um das Spiel an sich. Und dass Schachspieler seltsam seien, eine Macke haben, das gehört schon zum allgemeingültigen Vorurteil. Wie immer ist an solchen Überlegungen sicher was dran.

Fußballer klagen über Kniebeschwerden, Turnerinnen leiden unter Rückenproblemen und Marathonläufer sterben oft an Herzinfarkt. Wäre es nicht einfach, diese Kausallinie fortzusetzen? Schachspieler haben Probleme mit dem Kopf! In der Tat, die Reihe der großen Schachspieler, die wahnsinnig wurden, ist lang. Schon Siegbert Tarrasch, der Praeceptor Germaniae, der Lehrer Deutschlands im Schach widmete sich vor fast hundert Jahren diesem Problem. Ich begann derartige Texte zu lesen. Tarrasch war Mediziner und einer der besten Spieler seiner Zeit und er schrieb: „Durch Überanstrengung allein entsteht überhaupt keine geistige Erkrankung. Diese entwickelt sich stets in einem durch konstitutionelle Krankheit geschwächten Körper.“ Ich musste, ich wollte ihm Recht geben, selbst wenn es sich bei mir nicht um eine geistige Krankheit handelte. Nein, aber die Frage, ob durch eine geistige Überanstrengung das Hirn physisch beeinträchtigt werden könne, musste beantwortet werden. Das Schachspiel, wenn man so will, wäre meine einzige „Schuld“ gewesen.

Diese Überlegung widerstrebte sehr meinen eigenen Erfahrungen. Ich selbst habe es immer als sehr angenehm, letztlich sogar als gesund empfunden, wenn ich Schach spielte. Ganz im Gegenteil, erst nachdem ich, mit der Ehe, mit den Kindern, diese Tätigkeit aufgab, begann ich mich körperlich schwächer zu fühlen. Vielleicht lag die „Schuld“ eher darin, aufgehört zu haben? Ja, das war es. Nicht hinsichtlich der Krankheit, sondern weil ich meine liebste Beschäftigung aufgab, um Mutter, Gattin, Hausfrau zu sein, das war mein Fehler. Wie ach so viele Frauen ergab ich mich in mein Schicksal und wurde Angestellte des Haushaltes, freiwillig streifte ich die Ketten über, um in einer patriarchalischen Gesellschaft meine mir zugedachte Rolle als Frau, als Hausfrau, als Ehefrau zu spielen. So etwas kann man nur dann aufopferungsvoll tun, wenn man keine anderen Interessen besitzt, und also muss man seine bisherigen Beschäftigungen aufgeben. „Du sollst keinen Gott neben mir haben“, sagt der Mann und die Frau gehorcht...

 

Erste Bundesliga

Alles begann auf einer der alljährlichen Vereinswanderungen. Nach anstrengendem Marsch saßen wir müde und geschafft am Wirtshaustisch und diskutierten die Aussichten für die nächste Saison. Es würde verdammt schwer werden, die Klasse zu halten, denn fast alles, was im Weltschach Rang und Namen hat, gab oder gibt sich in der Deutschen Liga ein Stelldichein. Um überhaupt eine Chance zu haben, entschloss sich der Verein, einen der weltbesten Spieler, den slowenischen Supergroßmeister Alexander Beliavsky zu verpflichten, dessen bisherige Erfolge wirklich atemberaubend sind: Jugendweltmeister, UdSSR-Meister und Weltmeisterschaftskandidat. Trotzdem würde es eine unglaublich schwere Aufgabe werden, denn selbst wenn am ersten von acht Brettern ein Weltklassemann sitzt - der im Übrigen gegen gleichwertige hochkarätige Gegner sich erst beweisen muss -, so müssen auch die weiteren Bretter unbedingt Punkte holen, soll ein Erfolg möglich gemacht werden. An jenem Abend schließlich lachten und scherzten wir, tranken sogar, was unter ernsthaften Schachspielern eher selten ist und schließlich warf ich im Übermut ein, die Männer begleiten zu wollen und zwar als - Maskottchen. Was als Scherz in weinseliger Stimmung gedacht war, wurde schließlich Realität: ich durfte bei allen acht Begegnungen dabei sein und sorgte für das leibliche und mentale Wohl der Denkriesen. So hatte ich Gelegenheit, nicht nur unsere Spieler näher kennenzulernen, sondern genoss es unter den Besten der Besten weilen zu dürfen. Das ist, ich kann es versichern, äußerst interessant, denn Schach, auf allerhöchstem Niveau gespielt, vereinnahmt alle Konzentration, so dass bei den Spielern mitunter Reaktionen und Verhaltenswiesen zu beobachten sind, die den unvorbereiteten Beobachter von deren psychischer Zerrüttung überzeugen müsste, wohingegen genau das Gegenteil der Fall ist: diese Männer sind in einem hellwachen Zustand.

So lernte ich sie alle kennen, die Koryphäen des Schachspiels: den jungen und einst als Wunderkind gefeierten Etienne Bacrot, der sehr schüchtern und zurückhaltend zu sein schien; Jan Timman, die holländische Legende, ein vielgebildeter Mann, den man sonst nur aus Presse und Fernsehen kennt und der keine Gelegenheit ungenutzt lässt, sich nervös eine Zigarette anzuzünden, um sie nach zwei, drei heftigen Zügen wieder auszudrücken. Oder der stille Wladimir Epishin, der in Russland schwere Schicksalsschläge hat hinnehmen müssen und nun in Deutschland von einem Turnier zum anderen tingelt, offensichtlich, um seinen Lebensunterhalt mit Hilfe der Preisgelder zu garantieren. Mit ihm assoziiert man den gelben Pullover, den er seit Jahren schon zu jeder Partie überstreift: ob aus Armut, Aberglaube oder Abwesenheit, das wird wohl ein Rätsel bleiben. Gegen ihn jedenfalls hatte unser „Big“, Beliavsky also, zuerst anzutreten und remisierte auch prompt. Je verzweifelter Epishin ausschaute, die Brille schief auf dem verzerrten Gesicht, um so besser sah es für ihn auf dem Brett aus. Selbst den neuen Stern am Chesshimmel, der derzeit fünftbeste Spieler der Welt, Morozewitsch, durfte ich kennenlernen. Minutenlang starrte er mich während seiner Partie an, wahrscheinlich ohne mich überhaupt wahrzunehmen. Er hatte einen seltsamen, aber einprägsamen Stil: er starrte einige Minuten wie gebannt auf das Brett, um sich danach ausgiebig im Saale umzuschauen oder seine Augen an einem Besucher festzusaugen - man hätte denken können, das Spiel interessiere ihn nicht mehr -, um dann, nach erneutem kurzen Studium der Situation, seinen Zug auszuführen. In derartigen Momenten spürt man die ganze Macht, die dieses unscheinbare Spiel birgt.

Wir reisten stets zusammen mit der Dresdener Bundesligamannschaft, in der noch immer Großmeister Uhlmann eine hervorragende Rolle spielt. Es schien mir wie ein Wunder, als er mich, nach etwa fünfundzwanzig Jahren, wiedererkannte, nach jenem für mich so denkwürdigen Simultanspiel, in welchem ich eine von fünfundzwanzig Teilnehmern war. Was für ein Gedächtnis! Auch Uwe Bönsch, ein anderer Großmeister, gebürtig aus Halle, und heute Bundestrainer konnte sich meiner entsinnen, denn zu jenen Zeiten fungierte er als Bezirkstrainer und hatte die damals jugendliche Spielerin kurzzeitig unter seinen Fittichen. Diese Aufmerksamkeit rührte mich glücklich an.

Am interessantesten freilich waren die Erfahrungen mit unseren Spielern. Es war eine wirkliche Mannschaft und das will beim Schach viel besagen, denn obwohl man als Team antritt, so hat doch jeder, im Unterschied zu den richtigen Mannschaftssportarten, seinen eigenen Kampf durchzustehen. Den höchsten Dienst, den man der Gemeinschaft leisten kann, ist es, mitunter ein Remis zu akzeptieren oder aber eine vielleicht weniger aussichtsreiche Position noch auf Sieg zu spielen, dann nämlich, wenn es das Gesamtresultat verlangt. Eine Mannschaft besteht aus acht Spielern und um die alles entscheidenden Mannschaftspunkte zu erringen, muss man mehr als die Hälfte der Partien gewinnen, also 4,5 Punkte erreichen, wobei der mit Weiß spielende Akteur möglichst einen Sieg erringen sollte, denn er hat stets den Anzugsvorteil, und der Spieler mit den schwarzen Steinen zumindest ein Unentschieden anstrebt. Trotz dieser Eigenarten des Schachs, war unsere Mannschaft wirklich eine solche, im Wortsinne. Nichts war zu spüren von den sonst üblichen Eifersüchteleien, den Rivalitäten und Starallüren, nein, es war wie eine große Freundschaft, wie ein vereintes Ringen um ein gemeinsames Ziel. Selbst unsere auswärtigen Großmeister, die wie überall im Profisport zeitlich begrenzte Verträge unterzeichneten und die von dem hier verdienten Geld leben - nicht üppig, im übrigen -, selbst Beliavsky, Kindermann, Bischoff und Gdanski, nahmen regelmäßig und gut gelaunt an den abendlichen Zusammenkünften teil, an denen gescherzt, gelacht, auch sich ein Bierchen genehmigt oder Doppelkopf gespielt, vor allem aber analysiert wurde. Hier zeigten sie, was sie konnten: wenn Großmeister Kindermann sein Magnetschachspiel rausholte und man die gespielten Partien besprach, da flogen die Varianten nur so über das Brett, viel zu schnell, als dass ich alles hätte verstehen können. Keiner von ihnen benötigte sein Partieformular, jeder kannte sein Partie in- und auswendig und hunderte durchdachte Varianten, Abweichungen und Stellungen dazu. Es war unglaublich und es waren viel eher diese Momente als das eigentliche Spiel, welche mir die Ehrfurcht vor diesen Schachmeistern einpflanzte, und selbst wenn es nur Übung gewesen sein sollte, so war sie doch perfekt. Über dreihundert Photographien habe ich vor allem von jenen Zusammenkünften gemacht und sie in drei dicken Alben, die mittlerweile dem Klub gehören, gesammelt.

Am amüsantesten allerdings, hier kann ich es ja sagen und ich hoffe, keiner nimmt es mir übel, am lustigsten, waren die jeweiligen Macken der Spieler. Jeder hat so seine eigenen Angewohnheiten, frönt seinem privaten Aberglauben. So will der eine am Morgen einen Drei-Minuten-Tee und scheint jede gesündigte halbe Minute herauszuschmecken, während der andere sich im Morgengrauen dem Kinderfernsehen - bevorzugt den Teletubbies - widmet. Der dritte schließlich sitzt stets als erster am Frühstückstische, allein um die ungelesene Morgenzeitung für sich zu haben. Während des Wettkampfes betreute ich „meine Männer“, und schon nach zwei Einsätzen wusste ich genau, wer zu welcher Zeit was benötigt, sei es nun der Kaffee für Alex, der Tee für Jacek, der Schokoladenriegel für Stefan, der Multivitaminsaft und Traubenzucker für Sven oder die obligatorische Banane für alle. Und während Klaus Bischoff seinen Magen im Spiel zu vergessen schien und Asket blieb, schlug Kindermann gleich mehrfach zu.

Einmal stellte ich unserem Lutz Espig eine Tasse Kaffe hin, doch er, in Gedanken versunken, merkte das nicht, stand wenige Augenblicke später auf und holte sich selbst eine Tasse, um dann fragenden Blickes um sich zu schauen, woher denn nun plötzlich zwei Tassen kämen. Lutz ist überhaupt ein lustiger Mensch. Vielen wird sein Name sehr vertraut sein, denn auch er gehört neben Uhlmann, Malich und Bönsch zu den Legenden des DDR-Schachs. Neben dem Schach scheint er seinen Hund wohl am meisten zu lieben - und vice versa. So beobachtete ich folgende köstliche Szene: Eines Morgens, es war in der Passage in Andernach rief er zu Hause an und telefonierte tatsächlich - mit seinem Hund! Als er rief: „Jerry, hallo Jerry, hier ist dein Herrchen, und aus dem Hörer deutlich vernehmbares Jaulen ertönte, da war mir alles klar.

Ach, man könnte noch hunderte derartige Anekdoten erzählen, etwa von Großmeister Tischbierek, der sich beim Spiel immer den Zeigefinger ins Ohr steckt oder von einem FIDE-Meister, der stets sehr ausgiebig das Bad nutzt und dann die anderen antreibt, sie sollten sich doch beeilen im Bad, auch von unserem Kura, der einmal früh um vier Uhr aufstand, um endlich mal erster im Bad zu sein, von unserem Spitzenspieler Beliavsky, der immer mit der gleichen Krawatte spielt und die erste Partie verlor, als er die Vereinskrawatte trug, die ich Unselige ihm geschenkt hatte, ich könnte von den vielen interessanten, tragischen und glücklichen Partien erzählen, aber all das würde gut genug sein, um ein eigenes Buch zu füllen.

Auch das macht die Magie des Schachs aus: es ist eine so reiche Welt, dass sie die Menschen zusammenführt. Sicherlich kann man ebenso stundenlang über Fußball reden, aber ich weiß nicht, ob es dort wirkliche Probleme zu lösen gibt. Probleme, die jeden persönlich angehen. Das Schach bietet diese Gelegenheit und es ist fast zwangsläufig, dass man sich kennenlernt, sich näher kommt. So war es bei uns...

Früher oder später hätte ich zu Grunde gehen müssen. Jetzt, wo ich dies niederschreibe, wird mir es äußerst deutlich bewusst. Das Schach war es, was mir das Leben rettete!

Ich meine nicht nur die neuen Freunde, die mir geholfen haben, wann immer es notwendig war, die mich oft am Abend anriefen, als wüssten sie um meinen Zustand und mich aufmunterten, Witze erzählten, Spaß machten, mich zum Lachen brachten - und das manches Mal zwei Stunden lang -, die mir Aufgaben im Klub zuteilten, etwa das Training der Mädchengruppe, die mir auch zur Hand gingen, wenn etwas erledigt werden musste, die vor allem immer bereit waren, mir beizustehen, wenn ich es brauchte. Manchen bin ich vielleicht als übergeschnappt, als durchgedreht erschienen. Mein Naturell und auch mein Mundwerk sind an sich schon sehr lebhaft, aber nun, da ich die mich umgebende Ruhe nicht mehr ertrug, war die Lebhaftigkeit noch einmal potenziert. Fast aus Verzweiflung - ah, eine lebende Seele - stürzte ich mich auf sie und begann sofort loszuplappern, von allen möglichen Dingen, vor allem aber, von den neuesten Entwicklungen im Krankheitsfall, besonders wenn es Grund zur Hoffnung gab. Und sie alle nahmen mich so, wie ich bin, sie nahmen mich an, sie akzeptierten meine Art und gingen auf sie ein. Sie freuten sich, mit mir zusammen zu sein, luden mich ein, scherzten, spielten Schach. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass sich das Klima im Klub verbesserte und bildete mir ein, dass es etwas mit meiner Offenheit zu tun habe.

Aber nicht nur diese Komponente hatte das Schachspiel, nicht nur das rettete mir mutmaßlich das Leben, sondern auch das Spiel als solches. Gerade in diesen einsamen Momenten zu Hause, half mir oftmals ein Schachbuch. Ich holte mein Schachbrett heraus, baute eine Kombinationsstellung auf und begann zu grübeln. Stundenlang. Oder ich spielte Meisterpartien nach, versuchte mich in eine Eröffnung zu vertiefen. Das gelang nicht immer, mitunter war der Kopf zu voll mit Sorgen, aber es war so und so hilfreich. Selbst, wenn die Lösung nicht zu finden war, ich hatte die Zeit nicht mit sinnlosem Grübeln verbracht. Oft schwirrten die Gedanken dann in die Vergangenheit. Ich erinnerte mich der vielen schönen Stunden im heimatlichen Schachklub, der familiären Atmosphäre, der zahlreichen Erfolge, der alten Kumpels. Ich versank in frühere Zeiten und war in und mit ihnen glücklich. Kurz, ich lebte von der Fähigkeit des Schachspiels, einen Zustand der Versenkung, eine Art Meditation, herbeiführen zu können. Fast war es praktizierter Stoizismus. Seneca bewies nur, was das Schachspiel mich schon lange zuvor lehrte.

Unvorstellbar, wie schnell die Zeit verging. Man glaubt immer, Zeit sei etwas Objektives, etwas, das in immer gleichem Rhythmus neben uns her läuft. Eine Sekunde bleibt eine Sekunde, sie entspricht stets, so hat die Wissenschaft es festgelegt - man kann es in jedem Lexikon nachlesen - der Oszillationsperiode des Atoms Cäsium 133. Demzufolge gibt es an der Zeit nichts zu rütteln, sie kennt keine Abweichungen. Unsinn, sage ich, und mit mir alle jene Menschen, die eine solche Frist schon einmal vor sich hatten. Fünf Wochen Kalenderzeit waren in wenigen Momenten vergangen.

Ich nutzte sie vor allem, um mich auf das große Turnier vorzubereiten. Wie man sich wird vorstellen können, ist mir das nicht immer gelungen, denn der Druck des Danach wuchs stärker und stärker an. Schließlich jedoch war es soweit.

Die Konkurrenz war stark. Gemessen an der numerischen Spielstärke - jeder aktive Schachspieler bekommt eine Wertungszahl, die seine aktuelle Spielstärke in etwa ausdrücken soll - konnte ich mit einem guten Mittelplatz rechnen, all der Druck jedoch, der zusätzlich noch auf mir lastete, ließ die Prognosen eher vorsichtig ausfallen.

Schach sei wie das Leben, sagte der überragende Boris Spassky, der frühere Weltmeister, einst. Während dieses Turniers begann ich den Sinn seiner, Aussage zu begreifen, mehr noch, mit jeder Faser zu fühlen. Schach war, in diesen Momenten, wie das Leben. Es bietet alles: Freude, Leid, Enttäuschung, vor allem aber Kampf. Nein, es ist Kampf. Viele glauben, es sei ein Kampf gegen den Gegner, oft wird sogar von einem Krieg gesprochen, so, als begebe man sich in den Boxring, auf ein Schlachtfeld gar, und haut aufeinander ein, nur mit intellektuellen Mitteln. Nein, Schach ist nicht die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Wer seinem Gegenüber Böses will, der ist falsch am Schachbrett. Der da drüben, das ist dein Partner, wenn nicht, für die Zeit des Spiels, dein Freund. Die Gedanken beider vereinen sich, treffen sich an diesem Ort und konstruieren ein wunderbares Gebilde. Der Kreativere wird in der Regel gewinnen, aber geschaffen haben beide. Wogegen aber wird denn ansonsten gekämpft? Gegen die gegnerischen Figuren, wie ebenfalls verschiedene Stimmen behaupten? Aber kämpfen wir denn gegen Windmühlen? Gleichen wir jenem Ritter von der traurigen Gestalt? Mitnichten. Die Figuren sind nichts anderes als ein Stück Holz, das lediglich von unserer Imagination belebt wird, nicht anders als die Windmühlen des Don Quichote nur für diesen selbst gefährliche Riesen waren. Was also sollte ich gegen ein paar geschnitzte Figuren haben? Und noch dazu gegen sie kämpfen? Nein, der Kampf findet an einem anderen Ort statt und gegen einen anderen Gegner, einen, der wirklich gefährlich ist und den zu besiegen die allergrößte Genugtuung erzeugt. Gegen mich selbst kämpfe ich, mit mir höchstpersönlich ringe ich. Nur, wenn ich mich selbst überwinden kann, meine Ängste, meine Faulheit, meine Arroganz und was auch immer, nur dann kann ich siegen. Ist der Partner freilich zu mächtig, dann vermag ich die Partie trotz allem nicht zu gewinnen - dafür aber das Spiel. Nicht anders als im Leben, wo ich eine Niederlage nach der anderen erleiden kann und doch daran wachse. Das alles begriff ich während dieses denkwürdigen Turniers und empfand doch, wie ungenügend Spasskys Aussage war.

Das Schach sei das Leben, sagte der geniale Bobby Fischer einst und verschärfte in seiner absoluten Art die Radikalität der Aussage. Mit dem Skalpell im Rücken spielte ich diesen Satz in allen seinen Varianten durch. In der Tat, Schach war in jenen Tagen mein Leben, alles, was mir an sicherer Zeit, Lebenszeit, noch bevorstand, das hatte ich hier und jetzt zur Verfügung. Lebenszeit war Spielzeit geworden und je länger und je besser ich spielte, um so länger und um so besser lebte ich. Vor allem lebte ich noch! Solange du spielst, solange lebst du noch. Also spiele! Man kann mit dem Schachspiel dem Tod ein Schnippchen schlagen, wie in jenem Film von Ingmar Bergman, wo der Ritter den Tod fragt: „Du spielst Schach?“ und als dieser von sich behauptete, ein ausgezeichneter Spieler zu sein, ihn überlistete: „Aber du bist nicht so gut wie ich!“ Und so spielte ich, wie in Trance, genoss jede Sekunde, jeden Zug, jeden Gedanken, füllte mich frei von allem und hatte das Gefühl, als gäbe es in diesem Leben nie wieder etwas anderes als dieses Spiel, das alle meine Gedanken gefangen nahm. Irgendwann schließlich ging mir die Idee auf, dass auch Fischers scheinbar absolute Aussage noch zu schwach ist. Das Schach musste mehr sein, als das Leben, denn das Leben bescherte mir Qual und Kummer, das Schach hingegen machte frei davon.

Das Leben ist ein misslungener Abklatsch des Schachspiels - das war die Formel, die mir ins Bewusstsein sprang. Ein ungeheuerlicher Satz, der mir wie eine Erleuchtung aufging. Ja, hier war aller Schmerz überwunden, nur noch Freude, Bejahung, nur noch mehr davon, mehr braucht das Leben nicht. Es gibt in dieser verkorksten Welt einen perfekten Ort, ein Paradies und dieser Ort ist überall, kann überall sein. Wo zwei verständige Menschen aufeinandertreffen und ein Schachspiel zur Verfügung haben, dort wird das Paradies geschaffen. Sie brauchen nichts mehr, sie genügen sich selbst. Sich selbst genügen: Höhepunkt des Glücks. Dieses Spiel, diese 64 Felder und 32 Figuren, bilden eine vollkommene Welt, die unsere Menschenwelt weit überragt. Sie verkörpern die Idee der Vollkommenheit: Aber wie konnte es sein, dass dies zuvor noch nie ein Mensch hat denken können, war es doch so offensichtlich? Seit Jahrtausenden suchen die Menschen die Vollkommenheit und sie haben ihre besten Köpfe auf diese Suche angesetzt. Man fand so viele Dinge: Gott, die Schönheit, die Güte, das Recht, die Wahrheit..., lauter unhandliche Abstraktionen, und übersah das Einfache. Seitdem die Menschheit auf der Suche ist, begleitet sie dieses Spiel, aber den Kopf in der Höhe, übersah man das vor den Füßen liegende. An mir jedenfalls hat das Spiel mehr geleistet als nur Rettungsarbeit, es hat mir das Leben geschenkt.

Ausgerüstet mit dieser monumentalen Einsicht, spielte ich ein Schach, das ich lange nicht für möglich gehalten hatte und belegte - sensationell - den zweiten Platz. Ich war wieder da! Und hätte nicht doch in manchen Augenblicken das zu Erwartende einen dunklen Schatten auf meine hellen Einsichten geworfen, um bösen Zweifel zu säen, dann wäre wohl noch mehr möglich gewesen.

 

(Auszüge aus: Andrea Hafenstein / Jörg Seidel, "Schach dem Tumor", ISBN 3-00-006718-3)

 

 

Das Buch "Schach dem Tumor" kann man für DM 14,80 bei Andrea Hafenstein selbst oder auf ihrer Homepage www.andrea-hafenstein.de bestellen.

 

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Copyright © 2001 by Christian Hörr. Aktualisiert am 13. September 2001.
Die Auszüge aus "Schach dem Tumor" werden hier mit freundlicher Genehmigung der beiden Autoren Andrea Hafenstein und Jörg Seidel verwendet. Jede Weiterverbreitung ohne schriftliche Genehmigung der beiden Autoren ist verboten.