The Origin of Chess

By Sam Sloan

Copyright December 14, 1985 by Sam Sloan

Sloan Publishers

ISBN 0-9609190-1-5

Übersetzt aus dem Englischen: Christian Hörr

 

Die deutsche Version des Artikels wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht. Die englische Originalfassung finden Sie hier.

 

Der Ursprung des Schachs

 

Mitte der 50er war die berühmteste Fernsehsendung eine Zeit lang die „$64.000-Frage“. Die Teilnehmer, die angeblich im Vorfeld gezielt ausgesucht wurden, waren Experten, jedoch keine Profis in ihrem gewählten Gebiet. Ihnen wurden Fragen mit steigendem Schwierigkeitsgrad gestellt. Das war die erste der großen TV-Game-Shows. Zuerst wurde die $64-Frage gestellt. Wenn diese richtig beantwortet wurde, konnte der Teilnehmer aussteigen und das Geld behalten oder den Einsatz verdoppeln. Die Einsätze waren $64, $128, $256, $512, $1.000, $2.000, $4.000, $8.000, $16.000, $32.000, $64.000.

Viele Teilnehmer kamen sehr weit und die Spannung stieg Woche um Woche, wie sie dem großen Ziel immer näher kamen. Ich habe jedoch nur einmal gesehen, wie ein Teilnehmer tatsächlich die erste $64-Frage falsch beantwortete.

Damals wurde ein ungefähr 12-jähriger Junge auf die Bühne geholt. Sein Fachgebiet war Schach. Natürlich wurde er als ein Wunderkind des Spiels gepriesen. Wie gewöhnlich begann der Moderator mit der relativ einfachen $64-Frage. „Wo wurde Schach erfunden?“, fragte der Moderator.

„In China“, antwortete der Junge.

„Falsch“, sagte der Moderator. „Die richtige Antwort ist Indien.“

Damit wurde der Junge schnell von der Bühne gedrängt. Vom angeblichen Wunderkind hat seitdem nie jemand wieder etwas in der Schachwelt gesehen oder gehört.

Einige Zeit später flog auf, dass das ganze Programm ein Schwindel war. Einige Teilnehmer waren nicht mehr als Schauspieler, denen vorher gesagt wurde, welche Antworten sie zu geben hatten. Viele berühmte Leute, vor allem Charles Van Doren, der in einer ähnlichen Show „21“ auftrat, haben sich durch diesen Skandal um ihren Ruf gebracht.

Jedoch gibt es noch einen anderen unaufgedeckten Skandal um dieses spezielle Fernsehprogramm. Der Junge, der China als Antwort auf die erste Frage gab, sollte zurückgebracht werden, um nun die $128-Frage zu lösen. Die Antwort, die er gab, war richtig! Schach wurde nicht in Indien, sondern in China erfunden!!!

Wenn ich das meinen gut informierten Schachfreunden erzähle, dann starren sie mich mit einem Gesicht an, dass entweder Horror, Bestürzung, Ekel oder eine Kombination davon ausdrückt. Schließlich sagen sie nach einer höflichen Pause gewöhnlich: „Tut mir leid, das stimmt nicht. Schach wurde in Indien erfunden. Das kann jeder bei H.J.R. Murray nachlesen.“

Natürlich habe ich bei H.J.R. Murray nachgelesen. Ich habe auch die Quellen studiert, die er angibt. Das ist zwar nicht so einfach, als dass mir die alten Seiten zwischen den Fingern zerbröseln, aber andererseits auch nicht so schwer. Alle Quellen, die Murray zitiert, kann man in der New York Public Library und ähnlichen Bibliotheken finden.

Ich glaube, dass ziemlich bald Murrays haltlose Behauptung, dass Schach in Indien erfunden wurde, als klassisches Beispiel von Blinden, die Blinde führen, widerlegt wird. Es gibt noch viele weitere Beispiele dieses Phänomens, aber dieses eine ist besonders unerhört. Scheinbar jeder gebildete Mensch der westlichen Welt, ob Schachspieler oder nicht, glaubt zu wissen, oder akzeptiert es wenigstens als wissenschaftlich bewiesen, dass Schach in Indien erfunden wurde. Jede Quelle zitiert dabei Murray. Jedoch bezieht sich Murray im Wesentlichen auf keine Quellen.

Noch erstaunlicher als das ist die Tatsache, dass die Wahrheit über den tatsächlichen Ursprung des Schachs jeden geblendet hat, der sich mit dieser Frage ernsthaft über längere Zeit auseinandergesetzt hat. Das ist fast so extrem wie bei den mittelalterlichen Astronomen. Damals gab es viele, die den Himmel mit dem bloßen Auge beobachtet haben. Sie machten präzise mathematische Berechnungen, die noch heute Gültigkeit besitzen. Sie berechneten detailgenau alle Kreise und Ellipsen, auf denen sich die Himmelskörper um die Erde, dem Zentrum des Universums, bewegen. Als ihre Berechnungen genauer wurden, hatten sie immer größere Schwierigkeiten, das zu tun, aber es war jederzeit möglich, eine neue Ellipse durch eine alte mathematisch zu erklären.

Eines Tages befasste sich Kopernikus mit dieser Masse von Daten, die von anderen gesammelt wurden. Er musste feststellen, dass all das viel einfacher erklärt werden könne, wenn man die Erde um die Sonne kreisen ließe, als anders herum.

Genauso haben im vorliegenden Fall Beweise immer gezeigt, dass Schach in China erfunden wurde und frühestens 1000 Jahre später erst in Indien ankam. Weil jedoch fast jeder Forscher und Autor unkritisch annahm, dass das Schachspiel im 6. oder 7. Jahrhundert in Indien erfunden wurde und sich dann über andere Länder ausbreitete, war es nötig für sie einen verwickelten Erklärungsprozess zu durchlaufen, um sein frühes Erscheinen an anderen Orten zu erklären.

Es wurde gezeigt, dass Schach nicht früher als im 6. Jahrhundert n. Chr. in Indien zum ersten Mal gespielt wurde. Sogar indische Gelehrte glauben, dass das tatsächliche Datum noch später war. Es erscheint unlogisch, dass dieser Fakt falsch wäre, da es eine Menge literarisches Material in Form von Sanskrit-Texten gibt, die bis 1500 v. Chr. zurückreichen. Falls Schach schon eher in der indischen Geschichte existiert hätte, wäre es bestimmt irgendwo erwähnt worden. Leute, die als Autoritäten auf diesem Gebiet gesehen werden, haben aber schon lange gewusst, dass das sehr ähnliche Spiel des chinesischen Schachs, oder mindestens ein Vorläufer davon, definitiv in China existierte – und zwar mindestens seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. Wie vereinbaren sie diese beiden Fakten?

Im Wesentlichen betonen sie zwei Punkte. Erstens sagen sie, dass die antiken chinesischen Manuskripte einfach falsch sind. Das Spiel, dass dort erwähnt wird wäre vielleicht Go oder eine anderes Spiel, aber bestimmt nicht Schach, weil jeder weiß, dass Schach erst im 6. Jahrhundert erfunden wurde.

Der zweite Vorschlag ist, dass chinesisches Schach ein vollkommen anderes Spiel ist, das mit dem westlichen Schach überhaupt nichts zu tun hat. Sie betonen, dass das chinesische Schach einen Fluss, eine Kanone und einen Springer, der nicht springen kann hat. Die Figuren sind als chinesische Buchstaben geschrieben und stehen auf „Punkten“ und nicht auf Quadraten. Der Fakt, dass China-Schach auch einen Turm, einen König, einen Bauern und einen Läufer hat, die alle die gleiche Grundstellung haben, die alle genauso ziehen und sogar die gleichen Namen haben wie beim mittelalterlichen Vorläufer des westlichen Schachs, wird einfach ignoriert. In einigen Fällen wird deutlich, dass die sogenannten „Gelehrten“ nicht einmal die einfachsten Regeln des chinesischen Schachs kennen.

Es gibt zwei Erwähnungen des Schachs in der antiken chinesischen Literatur. Die erste stammt aus einer Gedichtsammlung, die als „Chu Chi“ bekannt ist. Ihr Autor war Chii Yuan. Er war der berühmteste Schriftsteller der Chou-Dynastie (1046-255 v. Chr.). Er tötete sich selbst, indem er in einen See sprang. Die zweite stammt aus dem berühmten Buch über Philosophie „Shuo Yuan“, dass Chu Chi zitiert. Es stammt aus der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 221 n. Chr.). Beide Werke müssten jedem Student der chinesischen Literatur bekannt sein.

Eine „aktuellerer“ Bezug zum Schach kommt aus der Song-Dynastie (960–1279). Zu dieser Zeit lebte die berühmte Dichterin Li Ching Zhou. Sie schrieb ein Buch mit dem Titel „???“ (engl.: „Hitting Horse Picture“, Anm. des Übersetzers). Schon zu dieser Zeit hatten die Figuren die selben Namen wie heute.

Um zum Beispiel den Ursprung einer Sprache zu entdecken, müssen Sprachforscher den sogenannten Prozess der linguistischen Rekonstruktion durchlaufen. Zuerst identifizieren sie die Mitglieder einer Sprachfamilie, indem sie Merkmale ausmachen, die nur durch den gemeinsamen Ursprung erklärt werden können. Danach lokalisieren sie einheitliche Veränderungen in der Sprachmelodie, die über den ganzen Wortschatz auftraten, als die Sprachen sich gewissermaßen trennten. Schließlich sind sie dann in der Lage eine detaillierte Ausgangssprache zu entwickeln mit der Beschreibung, wie die Ursprache in die heutigen Sprachen zerbrach. Dann können sie fast den exakten Ort in der Welt feststellen, wo sich die Ursprache entwickelte und wann sie sich zerstreute und teilte.

Zum Beispiel weiß man, dass die indoeuropäische Sprache sich vor etwa 5000 Jahren im Norden von Schwarzen und Kaspischen Meeres, südlich des Urals ausbreitete, lange bevor die geschriebene Geschichte dort einsetzt. Der einzige Streitpunkt diesbezüglich ist ein Radius von etwa 300 km um dieses Gebiet.

Theorien, die von bestimmten Interessengruppen gefördert worden, erwiesen sich als schlichtweg falsch. So  behaupteten z.B. die Nazis, dass die indoeuropäischen Sprachen von einer blonden, blauäugigen Rasse an der südlichen Küste der Ostsee entwickelt wurde.

Man fragt sich, wie können diese Sprachforscher so sicher sein, obwohl das alles schon tausende Jahre zurückliegt, wo es noch nicht einmal die Schrift gab.

Das geschieht durch Wörter, die ähnlich in allen indoeuropäischen Sprachen sind und deren Ähnlichkeit nicht durch sogenanntes „Leihen“ erklärt werden kann. Wörter wie z.B. „Birke“, „Pferd“, „Pferdewagen“ und „Streitwagen“ sind ähnlich in allen indoeuropäischen Sprachen von Europa bis Indien (obwohl die deutsche Sprache oft aus der Reihe fällt, Anm. des Übersetzers). Pferde, Pferdewagen und Streitwagen existierten ursprünglich weder in Europa noch Indien, jedoch in Massen in Gebieten nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres, wo es auch jede Menge Birken gab. Das ist eines der vielen Beweisstücke, die auf dieses Gebiet zeigen. (Die besondere Relevanz des ursprünglichen Fehlens von Pferden und Streitwagen in Indien wird in Kürze offensichtlich.)

Der nächste logische Schritt ist, diesen Prozess auf das Schachspiel anzuwenden. Glücklicherweise gibt es genauso viele verschiedene Schachspiele wie es indoeuropäische Sprachen gibt. Es gibt das westliche Schach, das chinesische Schach, das japanische Schach („shogi“), koreanisches Schach, Schach aus Burma, Kambodscha, Thailand, Malaysia, Indonesien, der Türkei und möglicherweise sogar aus Äthiopien.

Wenn wir den o.g. linguistischen Prozess verfolgen, müssen wir feststellen, ob tatsächlich alle Formen von ursprünglich dem selben Spiel abstammen. Das ist nicht sehr schwer. Alle o.g. Spielformen haben das Ziel, den König schachmatt zu setzen. Alle haben den König in der Mitte, einen Turm in der Ecke und einen Springer daneben. Die Bauern bilden die Front und alle Züge sind (fast) identisch mit denen des westlichen Schachs. Keines von ihnen, außer dem westlichen Schach, hat eine Dame, jedoch wissen wir, dass die Dame zuerst in Italien im 15. Jahrhundert eingeführt wurde, lange nachdem sich der „Schachbaum“ geteilt hatte. Nur Japan hat noch einen Läufer, allerdings glauben die Japaner, dass diese Gemeinsamkeit ziemlich modern ist. Andere Formen des Schachs haben einen Elefant, z.B. arabisches oder persisches Schach. Wir wissen jedoch, dass der Läufer eine pure westliche Neuerung ist, die nur vom Elefant abgeleitet wurde, wahrscheinlich auch im 15. Jahrhundert.

Im japanischen Schach hat jede Seite nur einen Läufer, und dieser beginnt von einem unscheinbaren Punkt direkt vor dem linken Springer. Diese Unterschiede belegen entweder, dass der japanische Läufer unabhängig vom westlichen entwickelt wurde und die Gemeinsamkeiten nur Zufall sind oder das Europäer den Läufer nach Japan brachten (oder umgekehrt) in relativ junger Zeit. Die Elefanten des chinesischen Schachs verwandelten sich in „Silber“ der japanischen Version, während die Streitwagen (Türme) der Chinesen zu Lanzenträger der Japaner reduziert wurden.

Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Gemeinsamkeiten zwischen allen Formen des Spiels, aber wir wissen schon genug, um mit Sicherheit sagen zu können, dass sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Als nächstes müssen wir also feststellen, wann und wo dieser Ursprung war.

Als erstes werden wir annehmen, dass Schach in Indien erfunden wurde. Wir wissen, dass es chinesische Werke gibt, die das Schach bis in 2. Jahrhundert v. Chr. datieren. Viele Autoren, inklusive H.J.R. Murray sind sich dessen überhaupt nicht bewusst, während andere Schriftsteller über Schachgeschichte, so wie mein guter Freund Fred Wilson, hastig darüber hinwegfliegen und mit einem Thema fortfahren, von dem sie mehr wissen, wie z.B. Bobby Fischers Sieg über Boris Spassky 1972. Ein Autor, der wenigstens die Frage stellt, ist Harry Golombek, der in seinem Buch „Chess, a History“ sagt:

„Ich habe ein Gedicht aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. gesehen, worin es nach dem Übersetzer zwei Hinweise auf das Schachspiel gibt. Wenn das Spiel tatsächlich um diese Zeit gespielt worden wäre, würde das alle heutigen Theorien über den Haufen werfen; jedoch gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten für diese Hinweise, die die heutigen Theorien unberührt lassen. Entweder ist mit dem Spiel ‚wei-chi’ bzw. ‚Go’ gemeint, das bekanntlich älter als Schach ist (oder ein anderes Brettspiel, wie z.B. Backgammon) oder es handelt sich um eine chinesische Flussvariante des Schachspiels, dass nicht das ist, was wir heute kennen.“ (Golombek, „Chess, a History“, G. P. Putnam’s Sons, New York, 1976, S. 10.)

Einige Seiten später wird klar, dass Golombek mit der “chinesischen Flussvariante des Schachspiels” das moderne chinesische Schach meint, dass einen Fluss in der Mitte hat. Er fährt fort, indem er die ungefähren Regeln dieses Spiels erklärt:

„Das Flussspiel hat Ähnlichkeiten mit Chaturanga und Schach, die ziemlich auffällig sind. Genauso aber die Unterschiede, die so viele sind, dass es immer noch unbewiesen ist, ob es eine Variante von Chaturanga ist oder ob es von anderen antiken Spielen abstammt (vielleicht dem, das im „Goldenen Palast“ beschrieben wird) und dann stark von Chaturanga beeinflusst wurde, als es seinen Weg von Indien nach China machte.“

Chaturanga gilt als Vorfahr des modernen Schachs, das in Indien gespielt wurde. Wie viele andere Autoren hat Golombek einen blinden Fleck auf der Möglichkeit, dass Schach nicht in Indien erfunden wurde. Auf der folgenden Seite schreibt er:

„Go, ein weitaus älteres Spiel als Chaturanga, hat keine Ähnlichkeit mit Schach. Als wei-chi bekannt, gibt es viele Erwähnungen in der antiken Literatur Chinas. Ich habe Übersetzungen gesehen, von denen ich meine, dass sie falsch sind, die es als Schach umschreiben. Ein Beispiel dafür ist der „Goldene Palast“, ein anonymes Gedicht, verfasst im 1. Jahrhundert v. Chr.“ (S. 23)

Wenn er sagt, dass das „Flussspiel“ vielleicht von einem antiken Vorfahr abstammt, wie im „Goldenen Palast“ beschrieben wird, übersieht er offensichtlich die klare Möglichkeit, dass das antike Spiel, was auch immer es war, vielleicht der gemeinsame Vorfahr von Chaturanga und chinesischem Schach war. Ein professioneller Sprachforscher hätte diese Möglichkeit sofort erkannt. Golombek hingegen ist nur eine gewöhnlicher Schachspieler.

Dafür gibt es viele weitere Beispiele, aber legen wir diese beiseite und fahren direkt mit der Quelle fort: H.J.R. Murray. Murrays Arbeit, „A History of Chess“, wurde 1913 veröffentlicht. Sein anderes Werk, „A Short History of Chess“, wurde erstmals 1963 veröffentlicht, aber schon 1917 geschrieben. Es wurde nach seinem Tod gefunden. Daher wurde sein jüngstes Werk über Schachgeschichte im Jahre 1917 geschrieben.

Auf fast jedem anderen Gebiet von akademischen Bestreben ist eine Arbeit diesen Alters aus heutiger Sicht überholt. Überraschenderweise waren jedoch ernsthafte akademische Forscher nicht sehr an der Schachgeschichte interessiert. Niemand hat sich daher gequält oder gar daran gedacht, die Richtigkeit von Murrays Schlussfolgerung zu untersuchen. Genauso überraschend ist, dass Murrays andererseits gut dokumentierte Arbeit nur eine konkrete Quelle hat, mit der er behauptet, dass Schach in Indien erfunden wurde. Diese Quelle ist H.J. Raverty.

„Raverty!“, rief ich, als ich das las. Ich kenne Raverty gut, weil er einer der größten Autoritäten in einem völlig anderen Problem ist, an dem ich großes Interesse habe. Das ist die Pashtu-Sprache, die in Afghanistan und der nordwestlichen Ecke von Pakistan gesprochen wird. Ich habe Ravertys komplettes Pashtu-Englisch-Wörterbuch daheim und lese oft darin. Es ist eine exzellente Arbeit, die er nach Jahren der Anstrengung und Mühen zusammengestellt hat. Klar ist jedoch, dass Raverty nicht mehr als ein Laie war und kein trainierter Sprachforscher. Zum Beispiel verstand Raverty nicht richtig den Unterschied zwischen retroflexen und palatalen Konsonanten (was auch immer das sein mag, Anm. des Übersetzers). Dieser Unterschied ist sehr fein in der Pashtu-Sprache und untrainierte Linguisten machen logischerweise solche Fehler.

Raverty war ein britischer Armeeoffizier im 19. Jahrhundert. Seine größte Leistung war, indem er in den fortwährenden Kriegen gegen Afghanistan während dieser Zeit diente. Offenbar an das Motto „Kenne deine Feinde“ glaubend, begann Raverty die afghanische Sprache, Kultur und Literatur zu studieren. Murray andererseits konnte zweifelsohne kein Wort Hindu, Urdu oder Pashtu lesen, noch weniger Sanskrit. Deshalb musste er sich auf Raverty verlassen, der das konnte.

1902, in den letzten Lebensjahren, veröffentlichte Raverty einen Artikel im Journal of the Royal Asiatic Society of Bengal. Der Artikel war betitelt mit „Geschichte des Schachs und Backgammons“. (Raverty, H.J., „History of Chess and Backgammon“, Journal of the Royal Asiatic Society of Bengal, Vol. 71, Part I, p. 47, Calcutta, 1902)

Dieser Artikel unterstützte zum ersten Mal die Geschichte, die jeder Schachspieler heute kennt. Die Geschichte geht zusammengefasst etwa so: „Es war einmal ein Weiser, der sich Shashi in Sind nannte, unter der Herrschaft von König Rai Bhalit in Nordwest-Indien. Eines Nachts erfand Shashi ein wunderbares neues Spiel. Am nächsten Morgen brachte er es dem König, der es bestaunte und fragte, was er dafür haben wolle. Jeder Wunsch würde ihm erfüllt werden. Shashi sagte, dass er nur ein Weizenkorn auf das erste Feld haben wolle, zwei auf das zweite, vier auf das dritte, acht auf das vierte und so weiter, solang bis aller 64 Felder gefüllt worden seien. Sofort willigte der König ein.“ Wir alle kennen das Ende der Geschichte. Nach Raverty hatte Shashi einen Sohn mit Namen Shah, von dem der Name „Shak“ oder Schach stammt. Im gleichen Artikel erzählt Raverty auch, wie Backgammon vermutlich erfunden wurde, nur eine kurze Zeit vor Schach. Jetzt ist zumindest schon bewiesen, dass dieser Teil der Geschichte völliger Schwachsinn ist.

Obwohl Murray die Geschichte als eine Fabel abtut, ohne konkret Raverty zu nennen (es ist Davidson, der klarstellt, das Raverty Ausgangspunkt für diese Geschichte ist), bestätigt er sie nichtsdestotrotz. Er sagt, dass Schach in einer einzigen Nacht von einem Philosophen in Nordwest-Indien erfunden wurde. Zur Zeit Murrays, vor der Teilung Indiens 1947, bedeutete Nordwest-Indien die nordwestliche Grenzprovinz des heutigen Pakistans und möglicherweise Teile Afghanistans.

Diese geographische Region schien Ravertys Einsatzgebiet zu sein. Sind ist heute jedoch die südöstlichste Provinz Pakistans. Vielleicht wusste Murray nicht genau wo Sind war. Schließlich kann Pakistan, inklusive Sind, auch zu Nordwest-Indien gezählt werden. Zufälligerweise weiß ich einiges über Pakistan. Ich schrieb ein Wörterbuch dort und habe besonders in Nordwest-Pakistan wie auch in Afghanistan gelebt und Reisen unternommen. Die Leute dort sind ursprünglich Wüstenbewohner. Sie sind großartige Kaufleute und Händler. Ihre Karawanen können leicht den ganzen Weg von Arabien nach China schaffen. Jedoch zu sagen, dass diese Leute, von denen die Mehrheit weder lesen noch schreiben kann, ein Spiel wie Schach erfanden, ist einfach lächerlich. Ich bin sicher, dass mir meine vielen Freunde in Pakistan dabei zustimmen werden.

Die Inder selbst sind verblüfft von der Behauptung, sie hätten das Schachspiel erfunden. Folgendes wurde in einer anerkannten historischen Zeitschrift veröffentlicht:

„Obwohl das Schachspiel von Gelehrten im Allgemeinen indischen Ursprungs angesehen wird und Hinweise darauf in verschiedenen frühen indischen Werken zu finden seien, sind Sanskrit-Texte, die davon handeln und seine Komplexität beschreiben, ziemlich rar. Tatsache ist, dass darüber kein frühes indisches Werk bekannt ist und bis heute gibt es nur wenige Beschreibungen des Spiels.“ (Chakravarti, Chintaharan, „Sanskrit Works on the Game of Chess“, Indian Historical Quaterly, Calcutta, June 1938, Vol. 14, No. 2, Part I, p. 275)

Dieses Journal behauptet auch, dass Schach in verschiedenen antiken Schriftstücken von indischen Autoren erwähnt wird. Allerdings wird auch gesagt, dass das ein allgemein üblicher Trick zu jener Zeit war. Wenn jemand ein Publikum für seine Ideen haben wollte, behauptete man einfach, dass diese oder jene berühmte Persönlichkeit das einmal gesagt haben soll. Die Zeitung fährt dann fort mit einer Liste von Autoren die über Schach geschrieben haben sollen und verwirft all diese Behauptungen. Alles in allem findet dieses Journal nicht eine einzige Quelle in der indischen Literatur, die über Schach schreibt, als frühestens Sulipani im 15. Jahrhundert (mehr als 900 Jahre später, als Murray behauptet, dass es dort erfunden worden wäre)!!! Kurz gesagt, jede Quelle die von Murray, Davidson, Forbes, Golombek, Eales und anderen zitiert wird, die angeblich sagen, dass von Schach schon im ersten Jahrtausend n. Chr. geschrieben wurde, ist unbelegt! Der Schluss ist: „Das mag weniger merkwürdig erscheinen und lässt offenbar Zweifel an der Genialität der Arbeit aufkommen.“

Es scheint unwahrscheinlich, dass diese Aussage falsch ist. H.J.R. Murray nennt zwei Arbeiten aus dem 7. Jahrhundert und zwei weitere aus dem 9. Jahrhundert, von denen er behauptet, dass sie Hinweise auf das Schach geben. Murray sagt, dass Hinweise auf Schach in „Harshacharita“ von Bana und in „Vasavadatta“ von Subhandu zu finden seien. Diese Aussagen werden blind von Golombek, Eales und anderen übernommen. Jedoch sind das berühmte klassische Werke in der indischen Literatur. Wenn sie wirklich Hinweise auf Schach gäben, würde sie jeder indische Schüler kennen. Murray behauptet auch, dass Schach in frühen persischen Werken diskutiert wurde, z.B. in „Karnamak“ und in „Chatranj Namak“. „Karnamak“ ist eine verloren gegangene Arbeit, die Murray also nie gelesen haben konnte, und dessen Existenz nie bewiesen wurde. „Chatranj Namak“ scheint ein Werk zu sein, dass von Murray einfach erfunden wurde. Niemand sonst hat je etwas davon gesehen oder gehört. Jüngere Werke, die Murray anführt sind „Haravijaya“ von Ratnakara und „Kavyalankara“ von Rudrata. Nach der Lehrmeinung enthalten auch sie keine Hinweise auf Schach. Murray sagt weiterhin, dass der berühmte Reisende Al-Beruni das Schachspiel im Jahre 1030 in Indien beobachtet habe. Arabische Forscher, die die Arbeiten Al-Berunis in der Originalsprache studierten, sagen jedoch, dass sie keinerlei Hinweise aus Schach enthalten.

„Chaturanga“ war das indische Wort für das vertraute Brett mit 8x8 Feldern, auf dem viele Spiele gespielt und heute noch gespielt werden. Die Verwendung des Wortes „Chaturanga“ in der indischen Literatur beweist also nicht, dass das Spiel, das wir als Schach kennen auf diesem Brett gespielt wurde. Es scheint also, dass Murray, ein gewöhnlicher Lehrer ohne Befähigungszeugnisse niemals diese Arbeiten selbst gelesen hat, sich stattdessen aber auf Material berief, das in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde. (Murray scheint nie seine eigentliche Quelle zu nennen.) Kurz gesagt hat die Behauptung, dass Schach in der klassischen indischen Literatur erwähnt werde, kaum eine vernünftigere Grundlage, als die, dass Schach von Pharaonen in Ägypten gespielt wurde und dass Alexander der Große ein starker Schachspieler war.

Die Tatsache, dass Schach in Indien nicht besonders populär ist, auch heute noch, ist auch sehr bedeutsam. Die Hindus sind große Philosophen, aber nicht sehr interessiert an Spielen. Erst vor kurzem trat Indien der FIDE (dem Weltschachbund) bei und hat bis vor einigen Jahren keinerlei Mannschaften zu internationalen Wettkämpfen geschickt. Der einzige große indische Schachspieler der Geschichte, Sultan Khan, kam ursprünglich auch nicht aus dem heutigen Indien. Er war ein Moslem aus der Nähe von Lahore, Pakistan und seine angebliche Stärke ist auch zum Teil Folge davon, dass er aus einem nichtschachspielenden Land kam.

Es gibt weitere Arbeiten, die behaupten, dass Schach in Indien erfunden wurde, aber sie beziehen sich alle auf Murray. Noch vor der Zeit Murrays hat die Mehrheit der Gelehrten Persien als den möglichen Ursprungsort des Schachs vermutet. Darüber hinaus glaubt Murray aus verschiedenen historischen Gründen, um die Richtigkeit seiner These zu belegen, dass Schach nicht eher als während der Huri-Herrschaft in Nordindien um etwa 500 n. Chr. erfunden werden konnte. Davidson, der aus einer Quelle von 600 n. Chr. zitiert, meint: „Das ist der erste Hinweis auf Schach in der gesamten Literatur.“

Dummerweise schien Murrays Problem nicht nur zu sein, dass er weder Hindu noch Urdu lesen konnten, sondern er konnte genauso wenig Chinesisch. Raverty schreibt in seinem Artikel, dass Shuli, einer der ersten großen Schachspieler und Gefolgsmann des Erfinders Shashi, im Jahre 946 gestorben sei. Er erwähnt auch verschiedene ungewöhnliche historische Figuren wie König Rai Bhalit, der zur Zeit Shashis lebte (manchmal auch Sassi, Sissa oder Sahsih geschrieben). (Die Schreibweise „Shashi“ ist für den Engländer wohl am besten, da die beiden „sh“-Laute retroflex sind.) (In Deutsch wäre vielleicht „Schaschi“ die beste Lösung, Anm. des Übersetzers). Raverty sagt auch, dass Shashi der Sohn von Dahir war, einem Gebieter aus Sind, der im Kampf im Jahre 712 n. Chr., während der Akasirah-Dynastie fiel. Das würde den Ursprung des Schachs in das 8. Jahrhundert legen.

Andere Quellen sind ähnlich wie Murray. Zum Beispiel schreibt Professor D.W. Fiske:

„Schach ist ein altes Spiel, dass erstmalig in Dokumenten aus dem frühen 7. Jahrhundert erwähnt wird. Es wird mit Nordwest-Indien und Persien in Verbindung gebracht. Vor dem 7. Jahrhundert unserer Zeit ist die Existenz des Schachs in jedem Land nicht einfach mit einem Fetzen eines zeitgenössischen Beweises zu belegen.“ (Fiske, D.W., The Nation, 1900)

Dann gibt es noch Davidson, einen anderen gut bekannten Autor auf dem Gebiet der Schachgeschichte. Er sagt:

„Die Spur des Schachs geht zurück bis etwa 500 n. Chr. Danach durchbrechen wir eine Barriere, hinter die die historische Forschung noch nicht gedrungen ist. Alles was wir wissen ist, dass die Einwohner während des 6. Jahrhunderts Chaturanga gespielt haben, ein Spiel, das im Wesentlichen wie modernes Schach ist.“ (Davidson, H.A., A Short History Of Chess, Greenberg, New York, 1949, S. 22)

Von den o.g. Quellen können wir logisch schlussfolgern, dass Schach in Indien nicht eher als dem 6. Jahrhundert n. Chr. gespielt wurde, unter Umständen sogar noch später. Genauso wissen wir aber auch, dass über chinesisches Schach schon viel eher geschrieben wurde.

Als nächstes müssen wir uns mit dem Streitpunkt auseinandersetzen, dass chinesisches Schach nicht wirklich etwas mit dem westlichen Schach zu tun hat. Aus den Schriften von Lucena wissen wir, dass die moderne Form des Schachs in Italien zwischen 1475 und 1497 erfunden oder zumindest kodifiziert wurde und danach sich schnell über ganz Europa ausbreitete. Dieses Spiel vereinte drei Merkmale, die das mittelalterliche Schach nicht hatte: Die moderne Dame, den modernen Läufer und das En-passant-Schlagen. Die Rochade und die Bauernumwandlung wurden noch nicht festgelegt. Nichtsdestotrotz veranlassten diese Veränderungen Ruy Lopez im Jahre 1561 seine berühmten Eröffnungsanalysen zu veröffentlichen. Die älteste Partie in „The Oxford Encyclopedia of Chess Games“ ist von 1490 datiert, wo auch noch nicht nach den modernen Schachregeln gespielt wurde. (Levy, David and O’Connell, Kevin, The Oxford Encyclopedia of Chess Games, Oxford University Press, 1983)

Das Spiel in Europa vor 1475 war also immer noch im Wesentlichen das gleiche wie das aus Persien, Indien und Arabien aus dem 7. Jahrhundert. Bewusst werden hier die Bezeichnungen persisches Schach, indisches Schach, arabisches Schach und mittelalterliches Schach mehr oder weniger austauschbar benutzt, da es keine bekannten Unterschiede zwischen den Spielen gibt. Vierhändiges Schach, dass einige glauben, das ursprüngliche Spiel gewesen zu sein, (Forbes, Duncan, The History of Chess, W.H. Allen 5 Co., London, 1860) ist erwiesenermaßen eine sehr erfolglose Variante gewesen.

Anders gesagt, blieb das Spiel, oder zumindest seine beliebteste Form, die gleiche für 800 Jahre. Dann plötzlich wurden mehr oder weniger gleichzeitig drei wesentliche Veränderungen gemacht und das alte Spiel war unmittelbar danach fast schon vergessen. Tatsächlich gab es während dieser 800 Jahre verschiedene Experimente mit einigen Figuren, z.B. Greifen, Einhörnern und anderen seltsamen Tieren. Zweifelsohne dachte man an den modernen Läufer und die moderne Dame schon lange vor 1497. Jedoch war es nicht dieses ungefähre Datum, an dem alle diese Elemente vereint wurden, zum selben Spiel zur selben Zeit. Dieser Prozess verlief vielmehr darwinistisch mit unzähligen Abweichungen, aber nur die wenigen stärkeren überlebten.

Das alte persische oder indische Spiel hatte exakt die gleichen Figuren mit den gleichen Zügen wie das mittelalterliche, nur hatten die Figuren etwas andere Namen. Die Figur in der Ecke war nicht der Turm, sondern der Streitwagen. (Erinnern Sie sich, was wir über die indoeuropäischen Sprachen gesagt haben.) Als nächstes kam das Pferd. (Springer, bzw. Ritter (von engl. „knight“) ist eine rein europäischer Ausdruck.) Danach kam der Elefant. (Noch heute gibt es den Elefanten in der russischen und einigen anderen Sprachen. Auch im Spanischen ist es der „alfil“, abgeleitet vom Arabischen „Al-Fil“, was soviel bedeutet wie „der Elefant“. „Al“ bedeutet „der“ und „fil“ bedeutet „Elefant“. Natürlich waren es die Araber, die das Schach nach Spanien brachten.) Der Elefant sprang zwei Felder diagonal, nicht mehr und nicht weniger. Als nächstes kam der Kanzler oder Minister, der nur ein Feld diagonal zog. Schließlich kam in der Mitte der König, der wie unser König zog. Der persische Name des Spiels war und ist „Shatranj“. Das Spielfeld hatte 8x8 farblose Felder.

Untersuchen wir nun das chinesische Schach. Der chinesische Name wird „Shiangchi“ gesprochen. Manchmal wird es auch „Hsiang-chi“ geschrieben und in der Pinyin-Sprache in der Volksrepublik China heißt es „Xiangqi“. Jedoch wird in diesem System „X“ wie „Sh“ (retroflex) (also „Sch“, Anm. des Übersetzers) und „Q“ wie „Ch“ (retroflex) gesprochen. Der chinesische Name „Shiangchi“ klingt also sehr ähnlich wie das persische „Shatranj“ – ungefähr so ähnlich wie ein persisches Wort und ein chinesisches nur klingen können. „Shiangchi“ klingt auch etwas wie „Shakmat“, das russische Wort für Schach, wie „Shogi“ auf Japanisch und „Chaturanga“ auf Indisch. Jeder Sprachforscher wird bestätigen, dass das ein starker, wenn nicht sogar entscheidender Beweis für den gleichen Ursprung des Spiels ist.

Schauen wir uns als nächstes die Figuren von links bis zur Mitte an. Die Figur in der Ecke des chinesischen Schachs wird Streitwagen genannt. (Moderne chinesische Spieler nennen es manchmal Auto.) Auch im persischen Schach heißt sie Streitwagen. Die Züge sind auch die gleichen. Sie zieht wie unser Turm. Die nächste Figur ist das Pferd („asp“ auf Persisch, das ich ein bisschen kann). Auch in der chinesischen Version ist vom Pferd die Rede. In beiden Spielen zieht es auch gleich, nur dass das Pferd im chinesischen Schach nicht springen kann. (Die Chinesen sagen, dass diese Beschränkung eine modernere Neuerung ist, um die Stärke des Pferdes zu reduzieren.) Die dritte Figur ist der Elefant. Erneut ist der Name der gleiche, genauso wie auf Arabisch, Russisch und vielen anderen Sprachen. Der Zug ist auch der gleiche. Beide ziehen exakt zwei Felder diagonal. Im chinesischen Schach kann der Elefant nicht über eine blockierende Figur hinwegspringen. Einige sagen, dass er das in Indien oder Persien konnte, was aber nicht ganz geklärt ist. Jetzt kommt der Berater, Minister oder Kanzler. Wieder ist der Name in China im Wesentlichen der gleiche wie in Persien. Auch der Zug ist der gleiche: ein Feld diagonal. Allerdings gibt es hier einen wichtigen Unterschied. Chinesisches Schach hat zwei Berater oder Beschützer, weshalb es neun Figuren in einer Reihe gibt, nicht acht wie im persischen oder westlichen Schach. Weiterhin können die Berater und der König im chinesischen Schach ein zentrales Gebiet, die „neun Paläste“ nicht verlassen. Abschließend ist die zentrale Figur der König.

Wenn man all das betrachtet, wie ist es dann möglich, dass irgendeine vernünftige, informierte Person behaupten kann, dass diese beiden Spiele nichts miteinander zu tun haben? Die Antwort ist, dass Verleumder sich primär auf das Vorhandensein von Kanone und Fluss stützen. Die Kanone ist eine einzigartige Figur. Sie zieht wie ein Turm, kann aber nur Schlagen, indem sie über eine Figur hinwegspringt und die Figur dahinter schlägt. Diese Figur existiert nicht nur nicht im westlichen Schach, sondern auch nicht im japanischen Schach oder irgendeiner anderen Version des Spiels, außer im koreanischen Schach. Die Erklärung hierfür ist einfach. Die Kanone ist eine Neuerung, von denen die Chinesen sagen, dass sie nicht eher als im 10. Jahrhundert erfunden wurde, nachdem das Schach längst weit verbreitet war. Wie dem Fluss wurde ihr zuviel Bedeutung beigemessen. Der Fluss ist einfach eine künstliche Grenze zwischen den gegenüberstehenden Streitkräften ohne echte gesonderte Bedeutung, außer das er einen Bezugspunkt gibt und im Wesentlichen die gleiche Funktion ausübt, wie die weißen und schwarzen Felder im westlichen Schach. Die Streitwagen, Pferde und Kanonen können ungehindert vor- und rückwärts über den Fluss. Neben der Zentralisierungsfunktion haben nur zwei Regeln wirklich etwas mit dem Fluss zu tun. Die erste ist, dass Elefanten den Fluss nicht überqueren können, sie sind also reine Defensivstreitkräfte. Die zweite ist, dass Bauern die Fähigkeit erlangen, seitwärts zu ziehen, nachdem sie den Fluss überquert haben. Bauernumwandlungen wie im westlichen Schach gibt es im chinesischen Schach nicht. Ohne diese Regel würden Bauern im chinesischen Schach sterben, wenn sie die hinterste Reihe erreichen würden. In der chinesischen Version können sie seitlich ziehen und oft eine bedeutende Rolle beim Mattsetzen des Königs im Endspiel spielen. Klar ist jedoch, dass auch die Einführung des Flusses eine relativ neue Änderung ist. Nicht einmal das sehr ähnliche koreanische Schach hat einen Fluss, weil es keinen braucht, obwohl auch koreanisches Schach auf einem 9x10 Spielfeld gespielt wird. Der offensichtliche Grund dafür ist, dass in Korea der Elefant anders zieht. Er ist nicht auf eine Seite des Bretts beschränkt, und auch Bauern können sofort seitlich ziehen und müssen dazu nicht erst das feindliche Territorium erreichen.

Fakt ist, dass chinesisches Schach genauso wie die westliche Version, sich nach und nach über eine lange Zeitspanne entwickelt hat. Die Chinesen haben dieses Problem mit weitaus mehr Eifer studiert als ihre westlichen Gegenüber und wissen daher viel mehr über die Geschichte ihres Spiels. Ich traf Herrn Liu Guo Bin, den Direktor und obersten Schiedsrichter des Chinesischen Schachbundes in der Tiyuguan-Straße 9 in Peking im April 1985 und es stellte sich heraus, dass er eine der Referenzen auf diesem Gebiet ist. Er meinte, dass die modernen Regeln des chinesischen Schachs während der Song-Dynastie (um 1000 n. Chr.) fertiggestellt wurden. Zwar gibt es Streitigkeiten in diesem Punkt, Fakt ist jedoch, dass die Chinesen die Geschichte ihres Spiels sehr genau studierten, während wir unsere offensichtlich vernachlässigten.

Die geschriebene Sprache hat sich in 2000 Jahren kaum geändert, obwohl sich die gesprochene Sprache naturgemäß in einer ständigen Veränderung befand. Es wurden die selben Buchstaben verwendet, um den Namen des chinesischen Schachs zu schreiben, wie heute. Wenn ein westlicher Mensch wie Golombek behauptet, dass die Chinesen ihre eigene Sprache nicht kennen und Schach mit Go in ihren alten Geschichten verwechselten, dann präsentiert er nur eine halbgebackene Meinung, die es nicht wert ist, beachtet zu werden. Gleichzeitig muss man aber auch den Chinesen einen Teil der Schuld geben, da sie nicht energischer dagegen protestierten, außer in Artikeln in ihrer eigenen Sprache.

Es gibt zwei bedeutende chinesische Spiele: „Shiang-chi“ und „Wei-chi“. Wei-chi ist das Spiel, das in Japan als Go bekannt ist. Es scheint ziemlich gesichert, dass wei-chi wirklich in antikes Spiel ist, dessen Geschichte vielleicht 4000 Jahre zurückreicht, ursprünglich aber auf einem kleineren Brett gespielt wurde. (Interessanterweise behaupten Gegner dieser Theorie, dass die antiken Schriftsteller von Schach und nicht von Go redeten.) Das Symbol für „wei“ ist ein chinesischer Buchstabe, dessen Bedeutung gleich ist mit der des Wortes „go“ in der japanischen Sprache (die auch chinesische Schriftzeichen benutzt). Das zeigt den Unterschied in beiden Namen auf. Das andere Spiel, Shiang-chi, benutzt den Buchstaben, der im Chinesischen „Shiang“ gesprochen wird und der „Elefant“ bedeutet oder bedeutet hat. Das chinesische Zeichen für „chi“, was soviel heißt wie „Spiel“ ist in beiden Name gleich. So heißt „Shiang-chi“ „Elefantenspiel“. Japanisches Schach wird „shogi“ genannt. Wie bereits erwähnt, wird das ähnlich gesprochen wie „Shiang-chi“ und sogar „Shatranj“. Jedoch werden im Japanischen verschiedene chinesische Buchstaben verwendet. Weil das Wort „Elefant“ auf Japanisch sehr anders gesprochen wird, suchten die Japaner (eine Modeerscheinung) nach einem Wort, dass so ähnlich wie möglich wie „Shiang“ ausgesprochen wird. Da fanden sie „Sho“, was soviel heißt wie „General“. Der Name „General-Spiel“ ist eine gute Umschreibung für das Shogi-Spiel, also behielt man den Namen. (Die Japaner nennen unser westliches Spiel „internationales Shogi“ und das chinesische Schach „chinesisches Shogi“.)

Es gibt allerdings noch zwei weitere entscheidende Unterschiede zwischen chinesischem oder persischem und westlichem Schach, die ich noch nicht untersucht habe. Der erste ist, dass im chinesischen (und koreanischen) Schach die Figuren auf die Schnittpunkte oder „Punkte“ gesetzt werden, während man sie im westlichen (und japanischen) Schach auf quadratische Felder setzt.

Wir kennen den Grund dafür. Der Grund ist, dass in dem wesentlich älteren Spiel Go die Steine auf Punkte gesetzt wurde, was bei einem neuen Spiel einfach übernommen wurde. Wir können jedoch nicht sicher sein, ob die Figuren in der Originalversion des Schachs auf Punkte oder Felder gesetzt wurden. Das stellt aber auch den gemeinsamen Ursprung der beiden Spiele nicht in Frage. Stattdessen gibt es womöglich die Erklärung für einen weiteren Unterschied. Das heutige chinesische Schachbrett hat 9x10 Punkte. Das scheint das gleiche zu sein, wie ein Brett mit 8x9 Feldern, inklusive des Flusses in der Mitte. Wenn wir uns den Fluss wegdenken (und den Fluss kann man nicht wirklich als Felder bezeichnen) haben wir tatsächlich 8x8 Felder auf dem chinesischen Schachbrett, genauso wie im westlichen Schach. Wieder scheint das auf einen gemeinsamen Ursprung hinzudeuten, wir können nur nicht sagen, ob die komplizierte Version des chinesischen Schachs zuerst da war und dann zur einfachen persischen Version reduziert wurde, oder anders herum. (Das chinesische Schach ist definitiv komplizierter als das westliche, wenngleich diese Aussage den Stolz manchen Europäers oder Amerikaners kränkt. Es gibt mehr verschiedene Arten von Figuren auf dem Brett, mehr mögliche und/oder vernünftige Züge in einer normalen Stellung und das Spiel dauert länger, manchmal hunderte von Zügen. Das japanische Schach ist sogar noch komplizierter.)

Es gibt aber noch einen weiteren quälenden Anhaltspunkt, der von der Vorstellung, chinesisches Schach wurde auf Punkten gespielt, um Go zu folgen, abweicht. Go hat die Eigenheit, dass es auf jedem Brett beliebiger Größe gespielt werden kann, nur dass die Anzahl der Punkte vorzugsweise ungerade sein sollte (um die Möglichkeiten von Unentschieden zu reduzieren). Im Laufe der Geschichte wurde Go auf Brettern verschiedener Größen gespielt. Heute sind drei Größen üblich: 19x19 (Standard), 13x13 und 9x9. Die 9x9-Größe wird vorwiegend benutzt, um es Kindern und Anfängern beizubringen, aber es ist auch auf eigene Weise ein kompliziertes und herausforderndes Spiel. Ein 9x9-Go-Brett ist also das gleiche wie ein 8x8-Schachbrett. Das ist besonders wichtig, weil die ursprünglichen Schachbretter in Indien und Persien weder weiße noch schwarze Felder hatten. (Das ist auch eine moderne Neuerung). Murray sagt, dass es auf den originalen 8x8-Schachbrettern mysteriöse „Markierungen“ gab. Ist es möglich, dass diese „Markierungen“ die Handicap-Punkte in Go waren? (Leider gibt es eine andere störende Möglichkeit. Alte persische Kunst, wie die von Golombek gezeigte (pp. 31, 36, 53), zeigt die Namen der Figuren, die in Arabisch auf das Brett geschrieben wurden, weniger stehende Figuren. Andere Markierungen habe ich nicht ausmachen können. Es scheint unglaublich, aber vielleicht hat Murray nicht einmal gewusst, was diese arabischen „Markierungen“ waren.)

Kurz gesagt kann man es als selbstverständlich voraussetzen, dass, als Schach aus China nach Indien kam, es auf einem 9x9-Go-Brett gespielt wurde. Als die Inder (oder Perser oder Araber, wer auch immer der Erste war), die nichts von Go wussten, das sahen, haben sie einfach und ganz natürlich die Figuren von den Punkten genommen und auf die Felder gestellt. So wurde aus dem 9x9-Go-Brett ein 8x8-Schachbrett. Dann war jedoch eine Figur zuviel, deswegen eliminierten die Inder einfach einer der Berater (oder Kanzler). Genauso haben sie drei Bauern hinzugefügt, um die leeren Stellen in der Front zu füllen. (Chinesisches Schach hatte damals nur fünf Bauern, aber es kann früher mehr gehabt haben). Auf diese Weise ist es möglich, dass sie chinesisches Schach mit einem Schlag in indisches Schach umgewandelt haben.

Ein anderer Unterschied ist, dass westliches Schach stehende Figuren hat, während die meisten orientalischen Versionen des Schachs, inklusive chinesischem, koreanischem und japanischem Schach, flache „Fliesen“ (etwa wie Münzen, Anm. des Übersetzers) mit chinesischen Buchstaben darauf, benutzten. (Es gibt geringe Unterschiede zwischen diesen drei Figurentypen: Chinesische Figuren sind kreisförmig, koreanische achteckig und japanische fünfeckig.) Deshalb haben sowohl das chinesische Pferd als auch das koreanische und das japanische einfach nur das chinesische Zeichen für Pferd auf der Figur, währenddessen das westliche Spiel tatsächlich die geschnitzte Figur eines Pferdes benutzt.

Was war zuerst da? Wieder können wir darauf keine Antwort geben. Jedoch sollte erwähnt werden, dass die alte persische und arabische Kunst betreffs Schach keine physischen Figuren auf dem Schachbrett zeigt, sondern nur die Namen derer in Arabisch auf dem Schachbrett, genauso wie die chinesischen Figuren auf Chinesisch geschrieben sind. Der erste Beweis für richtige Holzfiguren erscheint erst, als das Spiel das christliche Europa erreichte. Das erklärt vielleicht den Fakt, dass Archäologen nicht viel Erfolg beim Ausgraben alter Figurensätze hatten, wenn man bedenkt wie beliebt Schach zu dieser Zeit war. Es ist sogar möglich, dass die Namen der Figuren nur auf Papier geschrieben und die Schachbretter in den Sand gezeichnet wurden.

Zweitens glauben chinesische Historiker, dass die originalen chinesischen Schachfiguren stehende Figuren aus dem Westen waren. Sie sagen, dass antike Gräber aus der Song-Dynastie geöffnet wurden, die stehende Schachfiguren enthielten. Die Theorie sagt, weil China immer ein armes Land war, haben sich die Leute keine handgeschnitzten Figuren leisten können, weshalb sie schließlich auf kleine Scheiben mit den chinesischen Buchstaben darauf umgestiegen sind. Weiterhin konnte man dadurch die Figuren auch für andere Spiele benutzen. Zum Beispiel gibt es eine Variante, die immer noch im Park von Chinatown in San Francisco gespielt wird. Bei diesem Glücksspiel beginnen die Spieler mit dem „Gesicht“ der Figur nach unten, um die Figur vor dem Gegner geheimzuhalten. Nach und nach werden die Figuren aufgedeckt. Auf ähnliche Weise haben die Japaner dieses Feature genutzt, weil die Rückseite der meisten Figuren eine andere Figur enthält, zu der sich die obere Figur umwandeln kann.

Hier ist noch ein weiterer Aspekt, den ich bisher umgangen habe. Das ist die sowjetische Behauptung, dass Schach in Usbekistan erfunden wurde. Jeder spottet darüber, wegen dem sowjetischen Brauch, dass alles in Russland erfunden worden sei. Jedoch ist die eigentliche Tendenz die, dass alles von den Russen erfunden wurde, eine nordische Rasse, die ursprünglich aus Skandinavien kam. Die Usbeken sind andererseits nicht unbedingt eine der „Lieblingsrassen“ der Russen. Usbeken sind Türken, die wiederum die Erzfeinde der Russen sind. Die Usbeken sind Leute mit mongolischem Touch, die erst in jüngster Geschichte ins heutige Usbekistan kamen. Sie lernten Türkisch von anderen Rassen. Wer auch immer dort war, wurde von den Horden Kengis Khans (der ein Vorfahr meiner Tochter Shamema sein soll, aber das ist eine andere Geschichte...) vertrieben. Von daher kann Usbekistan, das in dem viel größeren Gebiet des einstigen Turkistan liegt und nur eine Karawanenreise von Indien und China entfernt ist deshalb nicht eindeutig als mögliches Ursprungsgebiet ausgeschlossen werden.

Andererseits ist Usbekistan vorwiegend von Wüstenlandschaften geprägt, und seine Einwohner waren schon immer einfache Nomaden. Es ist kaum zu glauben, dass sie ein Spiel wie Schach erfanden. Logischer wäre, dass sie es mit Karawanen von anderswo importierten. Der Grund für die Annahme, Usbekistan sei Ursprungsgebiet des Schachs ist ein Fund von möglicherweise einem alten Schachspiel, neben anderen Dingen, mit der Figur eines Elefanten, ausgegraben 1972. Es wurde auf das 2. Jahrhundert n. Chr. datiert, was logischerweise einen Aufschrei derer verursachte, die glaubten, Schach wäre damals noch gar nicht erfunden gewesen. (Dickens, A.S.M., British Chess Magazine, Juli 1973) Dennoch wurde Usbekistan schon lange vor dem Errichten des Sowjetimperiums als Quelle des Schachs gehandelt. (siehe Savenkov, I.T., The Evolution of the Games of Chess, Moskau, 1905, zitiert von Murray) Wann immer die Existenz von Schach in Usbekistan erwähnt wird, wird oft gesagt, dass das ein Beweis für dessen Ursprung in der Nähe von China ist. Niemand scheint zu glauben, dass die so herabgesetzten Usbeken ein derartiges Spiel erfinden könnten.

Usbekistan ist sogar noch wahrscheinlicher als Ursprungsgebiet des Schachs als Indien. Das wird offensichtlich, wenn wir uns die Sprachforschung bei den Figurennamen anschauen. Die Hauptfiguren sind der Streitwagen, das Pferd und der Elefant. Pferde existierten, wie gesagt, ursprünglich nicht in Indien. Vielleicht zahme, aber keine wilden Pferde. Die Arianen aus Zentralasien sollen Pferde und Streitwagen vor 4000 Jahren benutzt haben, um Indien zu erobern. In jüngerer Zeit haben die Briten Indien und das heutige Pakistan einfach erobert, indem sie mit Pferden angriffen. Die indischen Armeen flohen in Angst, weil sie Pferde nie zuvor gesehen hatten. Ich war nie in Usbekistan gewesen (außer auf der afghanischen Seite), aber ich habe erst kürzlich einen Monat in der Nähe von Kashgar auf der chinesischen Seite der Grenze verbracht und ich habe nichts außer tausenden, vielleicht Millionen Pferden gesehen, die meisten davon wild. Pferde gibt es zuhauf im Norden, nicht aber im Süden, im Hindukusch und im Himalaya. Es gibt sie auch im Norden von ganz China. Zwei der Figuren im chinesischen, persischen und vielleicht auch im alten indischen Schach hatten Pferde, nämlich Pferd und Streitwagen. Ein Spiel indischen oder pakistanischen Ursprungs hätte wohl eher ein Kamel gehabt. Gleichzeitig existierten Elefanten in Indien und möglicherweise China, jedoch nicht in Persien, Pakistan oder Usbekistan, obwohl die Persier schon von Elefanten gehört hatten. Damit hätten wir also Persien, Indien, Pakistan und Usbekistan als mögliche Ursprungsorte des Schachs ausgeschlossen – bleibt nur noch China.

Tatsächlich glauben selbst viele Chinesen, dass der Name „Elefanten-Spiel“ für chinesisches Schach stark auf einen indischen Ursprung hinweist. Andere Chinesen hingegen sagen, dass es erstens Elefanten im antiken China gab, diese jedoch aufgrund klimatischer Veränderungen ausstarben und zweitens der Buchstabe „Shiang“ in „Shiang-chi“ zwar Elefant bedeutet, früher aber auch andere Bedeutungen hatte. Als sich diese Bedeutung dann änderte, hätte es auch der Name des Spiels getan. Zum Beispiel, wenn „Shiang“ mit einem anderen chinesischen Buchstaben kombiniert wird, bedeutet es die Sternenkonstellation im Himmel. Deswegen soll „Shiang-chi“ auch ein astrologisches Spiel sein. Auch ist der Elefant einer der schwächsten Figuren in fast allen Versionen des Schachs. Weil aber der Elefant an sich ein starkes Tier ist, bestätigt das wiederum die Behauptung, dass der Buchstabe in der Antike eine andere Bedeutung hatte.

Letztenendes gibt es einen Punkt, den vielleicht wichtigsten, der meinen Fall abschließt. Dieser ist, dass chinesisches Schach das beliebteste Spiel auf der ganzen Welt ist, mit hunderten Millionen von aktiven Spielern. Es ist weitaus beliebter als das westliche Schach auf einer Mann-gegen-Mann-Basis. Wo auch immer man in der Volksrepublik China ist, man wird immer Leute finden, die chinesisches Schach spielen. Man sieht Spiele im Zug, im Bus, in Hotels, Büros und anderen Treffpunkten, sogar auf dem Fußweg wird gespielt. Das Spiel ist auch in der chinesischen Kultur verwurzelt. Im Grunde genommen kennt jede männliche Person in der Welt Chinas wenigstens die Regeln des chinesischen Schachs und hat mindestens ein oder zwei Spiele gemacht, als man es in der Kindheit gezeigt bekam. Wenn man ein Spiel chinesisches Schach in China machen will, muss man nur ein Brett samt Figuren auf dem Bürgersteig aufstellen und ein Gegner wird sich unverzüglich materialisieren. Nach einer Minute oder zwei, wird eine Menge darum stehen, um das Spiel zu beobachten (und unaufgeforderte Kommentare und Zugvorschläge loszuwerden). Weiterhin gibt es viele verschiedene Varianten des chinesischen Schachs, einige sind ausgestorben, aber andere werden immer noch gespielt.

Die enorme Beliebtheit des chinesischen Schachs ist ein Punkt, der von fast jeder westlichen Quelle übersehen wird. Golombek sagt zum Beispiel, dass Schach, als es nach China kam, vom beliebteren Go in den Schatten gestellt wurde (Golombek, Chess, a history, S. 22). Das Gegenteil war der Fall. Chinesisches Schach ist das jüngere der beiden Spiele. Heutzutage ist die Zahl der Schachspieler in China um ein Vielfaches größer als die der Go-Spieler. Go ist das Spiel der intellektuellen Oberschicht. Schach ist das Spiel der Massen.

Des weiteren, wenn wir zurück zur Fabel von Shashi gehen, wo der Erfinder des Schachspiels ein Weizenkorn auf das erste Feld, zwei auf das zweite u.s.w. wollte, wissen wir, dass der Erfinder dieser Fabel sowohl Schachspieler als auch Mathematiker war, dem klar war, dass 264 eine unvorstellbar große Zahl ist. Aus Erfahrung wissen wir auch, dass so etwas oft der Fall ist. Viele Schachspieler sind Mathematiker und viele Mathematiker sind Schachspieler. Die Verbindung von Schach und Mathematik ist allgemein bekannt. Heute betteln die mathematischen Fakultäten an jeder Universität der Vereinigten Staaten, dass sie ihren Anteil an Mathematikern bekommen, die nun in Massen aus der Volksrepublik China kommen. Der chinesische Einfluss in der Mathematik ist Teil ihrer Kultur und Geschichte und ist nicht erst seit gestern zu beobachten. Für einen Europäer oder Amerikaner ist es schwer, den vollen Umfang dieser Tatsache zu verstehen, weil es Leute in der westlichen Welt gewöhnt sind, Dinge zu tun aus persönlichen Vorzügen und weniger aus kulturellem und religiösem Hintergrund. Für einen West-Menschen ist es schwer zu verstehen oder zu glauben, dass wenn Schach in Indien gespielt wurde, das nur von Moslems aber nicht von Hindus getan werden konnte. In ganz Asien jedoch spielt die Religion eine weitaus größere Rolle als die persönlichen Interessen, wenn es darum geht, was jemand isst, welche Kleidung er trägt, welchen Beruf er hat und was er in seiner Freizeit macht.

Wenn wir uns das alles noch einmal vor Augen führen, scheint es keine andere Wahl zu geben, als dass Schach seinen Ursprung in China hat. Von diesem Startpunkt aus können wir ausarbeiten, wie sich das Schachspiel entwickelt und sich über die Länder ausgebreitet hat. China hat immer dazu tendiert, ein isoliertes Land zu sein. Es hat die Chinesische Mauer gebaut und ist noch heute widerwillig, Touristen ins Land zu lassen. Marco Polo ist nicht deshalb so berühmt, weil er in China war (der Weg dorthin war nicht allzu schwer), sondern weil er zurückkam und darüber berichtete. Nur während der kurzen mongolischen Herrschaft unter Kublai Khan durften einige Ausländer nach China ein- und wieder ausreisen. Davor und danach waren die Pforten geschlossen. Betrachtet man diese gut bekannte Geschichte, scheint es sehr unwahrscheinlich, dass ein Spiel ausländischen Ursprungs von Indien nach China kam und so schnell so unglaublich populär wurde. Stattdessen ist es viel logischer, dass es in China spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr. erfunden wurde und satte 800 Jahre brauchte, bis es in andere Länder vorstieß. Es erreichte Persien etwa 650 n. Chr., zu einer sehr günstigen Zeit, als der Islam gerade entstand und sich verbreitete.

Die Araber trugen das Schach mit dem Koran weiter über Nordafrika nach Spanien und Frankreich in weniger als einhundert Jahren. Das ist der Grund weshalb Schach fast überall gleichzeitig aufkam. (Murray glaubte andererseits, dass das Spiel sich schnell aufgrund seines eigentlichen Wertes von einer einzige Quelle ausbreitete.) Gleichzeitig breiteten sich die Araber in die andere Richtung, nämlich China, aus. Die Folge davon ist, dass der Islam dort heute die zweihäufigste Religion ist. Vielleicht ist das auch der Weg, auf dem die Araber das Schach lernten und weniger von den Persern oder Indern.

Es gibt eine muslimische Tradition, die besagt, dass nur einige Jahre nach dem Tod Mohammeds im Jahre 642 die Kalifen Omar und/oder Ali schon das Spiel kannten und es vielleicht selbst gespielt haben. (Einige Moslems behaupten heute jedoch, dass Schach spielen eine Sünde ist und so etwas nie passiert sein kann.) Davon abgesehen ist es historisch bewiesen, dass während der Herrschaftsperiode von Ommayad in Syrien im 8. Jahrhundert, die mit dem Tod Alis begann, Schach ein beliebtes Spiel in der gesamten Moslem-Welt war. Es ist daher überflüssig zu sagen, dass der Kalif Vorbild genug war, um alle Moslems für das Spiel zu begeistern.

Schach verbreitete sich von China aus auch in die entgegengesetzte Richtung. Der traditionelle Lehrmeinung ist, dass es Japan in der Nara-Periode erreichte, die von 704 bis 790 dauerte. Wenn das wahr sein sollte, wäre das auch ein starker Gegenbeweis für die indische Ursprungstheorie, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass Schach im 6. Jahrhundert erfunden wurde, über Kaschmir nach China kam, sich dann über ganz China ausbreitete und schließlich Japan nach nicht einmal 100 Jahren erreichte. Es gibt wirklich so viele Unterschiede zwischen chinesischem und japanischem Schach, dass japanische Gelehrte nicht glauben, dass es direkt von China oder gar Korea kam. (Koreanisches Schach ist dem chinesischen ja sehr ähnlich.) Stattdessen glauben sie, dass der Evolutionsprozess um einiges länger dauerte, bestimmt hunderte, vielleicht sogar tausende Jahre. Genauso hat Go Japan nicht vor dem 5. Jahrhundert aus China erreicht, obwohl Go in China schon seit mehr als 2000 Jahren florierte. Bereits Konfuzius hatte es im 5. Jahrhundert v. Chr. erwähnt.

Das japanische Schachspiel entwickelte sich in entgegengesetzt zum westlichen. Im westlichen Schach wurden die Figuren immer stärker. In Japan dagegen wurden die Figuren immer schwächer, dafür aber aggressiver, da sie ihre defensiven Fähigkeiten verloren. Die Figur in der Ecke wurde die japanische Lanze, die wie der Turm vorwärts, jedoch nicht seitwärts oder rückwärts ziehen kann. (Einer der Buchstaben für die japanische Lanze ist immer noch derselbe wie der chinesische Buchstabe für Streitwagen.) Das Pferd aus dem chinesischen Schach wurde der (die oder das) „kiema“ in Japan, der wie der Springer zieht, allerdings nur vorwärts und nicht seitlich oder rückwärts. Vielleicht wurde der Name „kiema“ von „ma“ abgeleitet, was das gesprochene Wort für Pferd in Chinesisch ist. (Das „Pferd“ an sich ist im japanischen Schach ein völlig andere Figur, nämlich der beförderte Läufer, der erst viel später hinzugefügt wurde.) Der Elefant aus China wurde zum „Silber“ im japanischen Schach, der ein, nicht zwei Felder diagonal zieht und auch ein Feld gerade nach vorn ziehen kann. Der Berater oder Kanzler wurde zum japanischen „Gold“, eine etwas andere, aber genauso schwache Figur. Der König blieb derselbe, gleichfalls die Bauern. Die japanischen Bauern ziehen und schlagen wie die chinesischen immer ein Feld nach vorn. Sie schlagen nicht wie im westlichen Schach diagonal.

Da diese Unterschiede größer sind als die zwischen europäischem und chinesischem Schach, können sie nicht einfach mit einem Sprung nach Japan erklärt werden. Die Japaner glauben, dass das Spiel eine Route erst über die malaysische Halbinsel genommen hat und von dort nach Japan kam. Unterstützend zu dieser Theorie wirkt die Tatsache, das burmesisches und thailändisches Schach ebenfalls eine Figur haben, die wie der japanische Silber zieht. Schließlich glauben die Japaner, dass eine Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert die Wiedereinführung des Turms und die Neuerung des Läufers mit sich brachte. Das würde die seltsame Anordnung von Turm und Läufer im Shogi im Vergleich zu anderen Schachtypen erklären. (Kimura, Yoshinori, „An Introduction to Shogi – Past and Present“, Western Shogi Quaterly, North American Shogi Federation, Nr. 3, S. 3, Herbst, 1985)

Der größte Teil dieser Evolution soll in Japan selbst stattgefunden haben. Die Japaner haben wild experimentiert, was sich in mehr als dreißig verschiedenen Figuren im „Super Shogi“ und einundzwanzig im „Mittel-Shogi“ ausdrückt, verglichen mit nur acht im modernen Shogi, sieben im chinesischen und koreanischen Schach und sechs im westlichen Schach. Des weiteren gab es das „Große Shogi“ und viele andere Shogi-Varianten, von denen einige zu ihrer Zeit beliebt waren. Das Resultat war das heutige Spiel, das traditionell „Kleines Shogi“ genannt wird, das zahlreiche Merkmale vereint, die keine andere Form von Schach hat, z.B. dass geschlagene Figuren Teile der feindlichen Armee werden und wieder ins Spiel eingreifen können. Sechs von acht Figuren können in eine andere Figur umgewandelt werden, wenn sie einmal das feindliche Gebiet erreicht haben. Die japanischen Figuren verloren auch ihre Farbe und wurden fünfeckig. Diese gravierenden Veränderungen können nicht mit einem normal langsam verlaufenden Evolutionsprozess erklärt werden. Die einzig mögliche Erklärung ist die japanische Faszination beim Experimentieren und Improvisieren mit einer Idee, die in das Land gebracht wurde.

Chinesisches Schach erreichte auch Korea, wo aber nur relativ wenige Änderungen vorgenommen wurden. Die Namen und chinesischen Symbole für die Figuren blieben die gleichen: Streitwagen, Pferd und Elefant. Jedoch wurde der Zug des Elefanten radikal geändert. Jetzt zieht er wie ein Riesen-Springer: drei nach vorn und zwei zur Seite, was mehr einem Elefanten gleichkommt. Aus den kreisrunden Figuren wurden achteckige, die nun grün und rot waren und nicht mehr rot und schwarz. Die Grundstellung des Königs ist nun ein Feld weiter vorn und Grundstellung von Pferd und Elefant wechseln manchmal.

Schach verbreitete sich auch in andere chinesische Einflussgebiete. Im Süden kam es nach Burma, Laos, Vietnam und Kambodscha und von dort aus nach Thailand, Malaysia und die Insel Java (Indonesien), wo Schachrelikte gefunden wurden. (Chien Chun Ching, „Research in Chinese Chess from the Tang and Song Dynasties“, S. 86, Hong Kong, 1984) Obwohl chinesisches Schach an sich noch immer in Vietnam gespielt wird, halten sich andere Varianten des Spiels in den anderen Ländern. Viele davon sind heute ausgestorben oder, wie im Fall des malaysischen Schachs, wurden kürzlich radikal verändert, um sie an das westliche Schach anzunähern. („Rules in Malay Chess“, Royal Asiatic Society – Striates Branch Journal, Singapore, Nr. 49, S. 87-92 (1907), auch Nr. 8, S. 261, 1917) Viele jedoch, wie das koreanische Schach werden immer noch mit fanatischem Eifer gespielt.

Schließlich und wahrscheinlich ziemlich zuletzt erreichte das Schach den Westen. Möglicherweise wurde es mit Karawanen über die Wüste Gobi nach Usbekistan gebracht, wo die ältesten Holzfiguren, inklusive eines stehenden Elefanten aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. gefunden wurden. Von dort durchquerte es Afghanistan und kam im 7. Jahrhundert in Persien an. Zu dieser Zeit war Persien das dominierende Reich in dieser Region. Sogar die indische Sprache, Hindi, ist im Wesentlichen aus der persischen entstanden. Die Geschichte dieser Region lehrte uns, dass in dieser Zeit die meisten Dinge von Persien nach Indien gingen und nicht anders herum. Schach kam auch von Persien nach Äthiopien, wo eine andere Form noch heute gespielt wird, bei der beide Parteien gleichzeitig und so schnell wie möglich ziehen. („Ethiopian Chess“, Journal of the School of Oriental und African Studies, London, 1912) (Man vermutet jedoch, dass das nicht wirklich das Schach ist, wie wir es verstehen.)

Es gibt eine solide Basis für die Behauptung, dass westliches Schach tatsächlich die jüngste Version des Spiels ist. Der erste ernsthafte moderne Schachschriftsteller, der ein gutes Spiel aufspannen konnte, war scheinbar Lucena im Jahre 1497. (Seine Endspielstudien, wie die berühmte im Turm-Bauer-Endspiel passten aber genauso gut ins mittelalterliche Schach.) Ruy Lopez, der mit Sicherheit über die moderne Version des Spiels im Jahre 1561 schrieb, war wahrscheinlich nicht besser als ein heute drittklassiger Spieler. Sogar McDonnell (aus der berühmten Partie LaBourdonnais-McDonnell) war vielleicht nicht besser als DWZ 2000 (engl.: „class A“, Anm. des Übersetzers). Das war 1834 und er war der beste Spieler Englands. Klar ist, dass vor Paul Morphy im Jahre 1860 kein Schachspieler je den Standard eines heutigen Großmeisters erreichte.

Demgegenüber gab es in Japan im Jahre 1604 Spieler, die auch heute gegen die Besten im Shogi antreten könnten, ohne jede Eröffnungskenntnisse. Genauso lebten die besten Spieler im Go vor mehr als 100 Jahren und nicht heute. (siehe z.B. „Invincible: The Games of Shusaku, the greatest Japanese go genius who ever lived“, übersetzt von John Power, The Ishi Press, Chigasaki, Japan, 1983) Nur weil das westliche Schach so neu ist, braucht man die neueste Ausgabe der “Enzyklopädie der Schacheröffnungen” um mit den jüngsten Entwicklungen Schritt halten zu können. In zweihundert Jahren wird die Eröffnungstheorie nicht mehr so wichtig sein wie heute.

 

Über den Autor

Sam Sloan, auch bekannt als Mohammad Ismail Sloan, vor allem im Mittleren Osten, wird als Schachexperte angesehen (oder Meisterkandidat). Er trägt auch den offiziellen Titel eines Shodan im Shogi (japanisches Schach) vom japanischen Shogi-Bund in Tokio. Er lebte für ein Jahr in Japan wo er für „The Ishi Press“ schrieb, einem führenden Publisher von Büchern über Go, Shogi und anderen orientalischen Spielen. Er reiste oft nach China, wo er chinesisches Schach lernte, Pakistan, Afghanistan und Indien. Er studierte Sprachwissenschaften und ist graduierter Student der New York University. Er ist Autor eines Khowar-Englisch-Wörterbuchs – ein Buch, dessen Sprache nur in Nordwest-Pakistan gesprochen wird, wo er eine gut bekannte Persönlichkeit ist. Er kann Khowar, Pashtu und Spanisch sprechen, wie auch Persisch, Arabisch und Chinesisch. Er war schon in 62 Ländern der Erde, inklusive fast aller Länder, die er hier erwähnt hat. Er ist Präsident und Chief Executive Officer von Berkely Computer Chess, Inc. und hat drei Kinder: Peter, Mary und Shamema.

 

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Copyright © 2001 by Christian Hörr. Aktualisiert am 04. Februar 2002 .