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Gipfelstürmer und Tiefseetaucher
im Lokschuppen
oder wenn wenig Mehrwert mehr wert ist
"Der Vergangenheit nachtrauern,
von der Zukunft träumen und die Gegenwart verschlafen:
das ist das Geheimnis des Erfolges." (Johannes
Rau)

Wer am Morgen betet, hat den Rest des
Tages Zeit für Spaß und Sauereien. Richtig
versaut wird der Tag aber erst dann, wenn es deutlich
vor dem Morgengebet an der Haustür schellt, also
die Glocken an der verschlafenen Wettinstraßenhaustür
läuten und ein schmieriges "Guten Morgen!
Ist der Johannes schon aufgestanden?" gnadenlos
daran erinnert, dass das sonnige Novemberwochenende
zwar nicht auf einen U20-Termin gefallen ist, aber zum
auswärtigen Fischen in der 1. Landesklasse ruft
- und plötzlich nur noch fünf Minuten bleiben,
das ohnehin schon tragische Wochenende zu verfluchen,
die Freundin zu hinterlassen, aber auf die Marx'sche
Mehrwerttheorie keinesfalls zu verzichten, sie stattdessen
zu repetieren, schon auf dem Weg zur Notdurft, die Treppe
herunter, zum Verkehr mit anderen Menschen, obwohl er
das Bedürfnis für Bewusstsein und Sprache
noch nicht gefunden hatte, Bruder Johannes im Halbschlaf
lediglich ein bisschen nachtrauerte, doch nicht in Jößnitz
gewesen zu sein.
"Die Partien nur nicht zu zeitig
remis geben, erst einmal abwarten, was passiert",
wie sich also die Stellungen entwickeln, so die Lehre
aus der kürzeren Heimspielvergangenheit, prolongiert
auf den selbstständig tänzelnden Götz'schen
Zeigefinger, in der staubig-zonigen Veranstaltungs-
und Beratungsraumluft des Lokschuppens, zumal Olaf
Dobierzin, Wolfgang Just und Anet Gempe währenddessen
im Hotel Alexandra gegen Plauens Erste in der Oberliga
zusammen äußerst mühsam nach wenigstens
einem halben Pünktchen suchten, dagegen im heimischen
Lokschuppenaufgebot spürbar fehlten.
Aber damit ist das Leipziger Aufstellungsfragment
noch nicht vollständig beschrieben, eine riesige
Besetzungslücke klaffte zudem an den Brettern drei
und vier. Während Johannes Titz nach nur einem
einzigen Zug vollends zur Inhalierung der Mehrwerttheorie
zurückkehren konnte, zum Grundpfeiler der materialistischen
Orientierung, also die schleichende Plauener Führung
in Gang setzte, sah sich Andreas Götz nur für
vierzig Minuten der friktionellen Arbeitslosigkeit
ausgesetzt. Christof Beyer hatte da schon längst
als Kompensation für einen geopferten Bauern einen
hingestellten seines Gegners erhalten, zuzüglich
einer komfortablen Stellung. Und auch Lion Pfeufer strahlte
am Spitzenbrett Angriffslust gegen FM Gottfried Braun
aus. Unter Ausnutzung der gedrückten schwarzen
Verteidigungsstellung sollte der vorstürmende Bauer
auf der g-Linie, in Verbindung mit der anschließenden
Schwerfigurenverdopplung auf der e-Linie, im Idealfall
eine gegnerische Leichtfigur abschleppen. Christian
Hörrs Weißpartie entwickelte sich ebenfalls
solide, ganz im Sinne seiner häuslichen Vorbereitung
wurde hier eine geschlossene sizilianische Bügelkanne,
mit einer Öffnung auf e6, ausgegraben, die später
die 2:0-Führung erlaubte.
In den Schwarzpartien der Plauener zeichneten
sich dagegen Vorteile für die Leipziger Gastgeber
ab, die Eröffnungsbehandlung von Etienne Engelhardt
und Daniel Butzke bewegte sich am unteren Ende der Euphorieskala.
Von Mehrwert nach der Eröffnung konnte jedenfalls
überhaupt nicht die Rede sein. Während Maria
Fuchs am sechsten Brett ohne Mühe und Gegenwehr
in Richtung Königsstellung marschierte, Etienne
Engelhardt bis zum bitteren Ende nicht aus den Augen
ließ, hatte sich Ilia Khassine schon ans Nachbarbrett
gesetzt, denn Daniel Butzke hielt ohnehin nicht viel
Arbeit für ihn bereit. Zu untersuchen, ob dagegen
nebenan im geschlossenen Sizilianer überhaupt noch
ausgeholfen werden konnte, war unbestritten die größere
Herausforderung. Zudem deutete Albrecht Steiners Leistungskurve,
die sich sequentiell auch schon mal zwischen 2400 und
1200 DWZ-Punkten bewegt, an diesem Tag eher einen Swing
in Richtung Tauchstation an. Nach Christian Hörrs
souveränem Sieg und den beiden beklagenswerten
Schwarzpartien war das Match plötzlich wieder offen.
Christof Beyer hatte in der Zwischenzeit ungewöhnlich
flott gespielt, aber eben nicht weit genug gerechnet:
Die Kombination, in deren Folge die gegnerische Dame
und zwei Leichtfiguren hingen, wollte er mit dem Gewinn
einer Leichtfigur krönen - zu ungeduldig, denn
dabei unterschätzte er die eigene schwache Grundreihe,
musste also selbst eine Figur opfern, um sich der zwischenzeitlichen
Mattdrohung zu entziehen; der Positionsvorteil war ausgelöscht,
wenigstens blieb die Stellungsdynamik erhalten.
Das Motiv der unterbrochenen Türme
nutzte Sergej Lozovoy zu einem ungewöhnlichen Qualitätsgewinn
und kurz darauf zu einem wichtigen Schwarzsieg, der
die Plauener wiederholt das Match anführen ließ.
Völlig unerwartet kam hingegen der ganz große
Fang in Christof Beyers Mattnetz. Ausgerechnet die vernachlässigte
Grundreihe, dieses Mal die seines Gegners, brachte den
vollen Punkt, gab also am Ende den Ausschlag. André
Dorsch verpasste den vierten Sieg im vierten Spiel,
verbessert habe er sich in der letzten Zeit, so FM Gottfried
Braun, wenn man die Eröffnung und das Finale, dieses
Mal zumindest, außer Acht lässt. Dass die
Absicht, eine Mehrfigur zu fangen, letztlich auch bei
Lion Pfeufer fehlgeschlagen ist, weil er nicht tiefgründig
genug war, sich die Angel noch als zu schmächtig
für den FIDE-Meister erwies, blieb glücklicherweise
für die Plauener Könige ohne Folgen.
Unverzüglich führte nun Andreas
Götz die Punktteilung herbei, nicht zu zeitig,
das Remis, genau im richtigen Augenblick, den halben
Punkt mit beiden Händen fest an sich reißend.
Es gewinnt, wer zum Schluss remisiert, denn dann ist
so ein halber Punkt plötzlich zwei Punkte wert.
Lok Leipzig-Mitte III
|
|
SK König Plauen
II
|
3½
|
:
|
4½
|
FM
Dr. Braun, Gottfr. |
2187
|
|
Pfeufer,
Lion |
2105
|
1
|
:
|
0
|
Sonntag,
Hermann |
1932
|
|
Lozovoy,
Sergej |
1937
|
0
|
:
|
1
|
Grüner,
Sven |
2024
|
|
Titz,
Johannes |
2013
|
|
:
|
+
|
Beyer,
Till |
1993
|
|
Götz,
Andreas |
2062
|
½
|
:
|
½
|
Dorsch,
André |
1907
|
|
Beyer,
Christof |
1957
|
0
|
:
|
1
|
Fuchs,
Maria |
1805
|
|
Engelhardt,
Etienne |
1883
|
1
|
:
|
0
|
Steiner,
Albrecht |
1680
|
|
Hörr,
Christian |
1869
|
0
|
:
|
1
|
Khassine,
Ilia |
1661
|
|
Butzke,
Daniel |
1896
|
1
|
:
|
0
|
|
|