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1. LANDESKLASSE St. B – Saison 2007/2008
 

Große Köpfe und kleine Geister
oder wenn Schmerzschreie bipolarer Störung Dauerremisgebote übertönen


"Es ist eine Landschaft, die, weil von solcher Hässlichkeit, Charakter hat, mehr als schöne Landschaften, die keinen Charakter haben. Alle haben sie da versoffene, bis zum hohen C hinaufgeschliffene Kinderstimmen, mit denen sie, wenn man an ihnen vorbeigeht, in einen hineinstechen. Zustechen. Aus Schatten zustechen, muss ich sagen, denn in Wahrheit habe ich bis jetzt nur Schatten von Menschen gesehen, Menschenschatten, in Ärmlichkeit und in wie tobsüchtig zitternder Schwüle." (Thomas Bernhard, "Frost")


So mancher große Kopf hat hier drin schon geschrien und die Zuhörer intim berührt. Als Speisegaststätte ist der Treffer zwar keine Heimstatt, der Gaumen wird hier nicht verwöhnt, eher der Hang zur oralen Defäkation befriedigt, aber wer den Schlagabtausch sucht, nach prekärer Unterhaltung zwischen Vergnügungs-Etablissement und Nahkampfdiele lechzt, findet hier ein Zuhause, eine ganz feine Adresse, die im längst Vergangenen Treffsicherheit beweist, traditionell auf das Rustikale setzt, ohne den Verfall zu vernachlässigen, und für alle Angewiderten, die danach das Verlangen haben, sich sofort reinigen zu müssen, weil sie sich mit Dreck beworfen fühlen, gibt es immerhin den Weg zurück durch den ausweichlichen Notausgang. Ungeschehen bleibt danach nichts mehr, aber freier Atem ist allemal wohltuend nach den Berührungen der unangenehmsten Art.

Schachspieler kommen sich unterschiedlich näher, berühren sich auf die unterschiedlichste Art und Weise, können sich begegnen und laufen doch einander vorbei. Was für eine DWZ Alexander Klassen habe, wollte Andreas Götz noch vor Partiebeginn wissen. Und so oft er bei ihm nachfragte, genau so häufig schien er sie mit seinem Kugelschreiber auf dem Partieformular nachzuschreiben, die übermittelte Wertzahl. Immer und immer wieder, als traute er entweder ihr nicht richtig, der genannten Wertzahl, oder aber er misstraute seiner eigenen Schrift. Dass er beides für unglaubwürdig hielt, war dabei nicht auszuschließen. Die liebenswürdige Auskunft Alexander Klassens war gerade verklungen, als das erste Hauptthema intoniert wurde. Siegfried Kadner therapiert seine Berührungsängste auf dem Schachbrett bekanntlich gern mit Remisgeboten im Rudel, was offensichtlich ansteckend sein kann, denn plötzlich fiel auch Frank Bicker wieder ein, warum er den Sonntagmorgen so früh begonnen hatte, nämlich Christof Beyer unbedingt Remis zu bieten, noch bevor es in Vergessenheit geraten würde, um mit den Händen rechtzeitig, also so schnell wie möglich, den halben Punkt zu berühren. Da war zwar erst eine halbe Stunde gespielt, aber nach einem vorherigen Qualitätsnotopfer hatte Frank Bicker schon drei Züge lang den ersten Verlust einer Realität zu erleiden. Völlig ruiniert war dagegen bereits die Position von Sergej Lozovoy. Roland Därr hatte mit einem Qualitätsopfer den Stützpfeiler der Lozovoy'schen Stellung unreparabel zertrümmert und kurz darauf geriet der SK König Plauen gegen den VSC, wie in der vergangenen Saison, in frühen Rückstand, wenn auch der Grund das letzte Mal ein ganz anderer war. Sergej Lozovoy fühlte sich nach seiner nun schon dritten Saisonniederlage unangenehm an die Deutsche Mannschaftsmeisterschaft im Jahr 2005 erinnert, denn auch da hatte er nach den ersten vier Runden erst einen Punkt verbucht.

Mit der Behandlung der sizilianischen Eröffnung war Andreas Götz nicht zufrieden, aber in verwickelter Stellung gelang ihm plötzlich der Ausgleich. Mathias Paul bekam von Siegfried Kadner inzwischen wieder ein neues Remisangebot zugeraunt, immer wenn drei Züge vorüber waren, durchschnittlich betrachtet, ertönte das verbale Remisbegehren, mindestens zwölf dieser Remisgebote waren zu hören gewesen, jedes klang für das geschulte Ohr ein kleines bisschen anders - eine Art Remisgewinsel, vorgetragen als Zwölftonstück. Frank Bicker ließ sich da mit seinem nächsten Remisgebot immerhin fünf Züge Zeit. Der Qualitätsnachteil hatte sich in diesem Zugabstand auf einen ganzen Turm vergrößert, aber eben auch - und das völlig unnötig - die Zeitnot bei Christof Beyer. In seiner Stellungsverliebtheit ignorierte er das einzige Kriterium, von dem aus überhaupt noch Ungemach in dieser Partie zu erwarten war - der Zorn der Zeit. Als er mit der einen Hand seine Dame berührte, mit der anderen Hand nach dem gegnerischen Bauern griff, um diesen durch Schlagen (natürlich mit der Dame) vom Brett zu stellen, ertönte das zweite disharmonische Hauptthema dieses Vereinsderbys, viel lauter als das erste und auf der Tonleiter viele Halbtöne höher, als hätte sich Frank Bicker einen Kapodaster auf die Stimmbänder implantieren lassen, geschliffene Aufschreie, wie sie sonst nur von einem gezüchtigten Knabenchor zu hören sind, Angstschreie tiefer Betroffenheit über die angewandte Komplexität der FIDE-Regeln, denn berührt (abweichend von der Grundsätzlichkeit) ein Spieler, der am Zuge ist, je eine Figur beider Farben, muss er die gegnerische Figur mit seiner eigenen Figur schlagen. Unprofessionell, dass Christof Beyer - unter den Einflüssen von Zeitnot und gegnerischer Lautmalerei - im 37. Zug zunächst eine relativ simple Mattkombination übersah, danach den Faden sogar komplett verlor, so dass ihm die zwei weit vorgerückten Freibauern seines Gegners noch zum Verhängnis wurden. Zuvor hatte Mathias Paul seine Partie gewonnen. Dass es wohl jetzt nicht mehr Sinn hätte, Remis zu bieten, schwappte kurz zuvor noch von der Stellung Siegfried Kadners herüber, vergleichsweise im angenehmen Sound. Am Schluss resümierte er, dass es wenigstens ein paar Züge gewesen seien, die sie gemacht hatten. Ein paar sogar gänzlich ohne Remisgebot.

Dem Angriffsdruck Gerhard Rehbeins, dieses Mal hatte er nicht mit seinem geliebten Doppelschritt auf der b-Linie eröffnet, sondern den Bauern nur bis b3 gezogen, musste sich Daniel Butzke geschlagen geben. Vom Damenfang wurde er zwar noch verschont, aber gegen die nachfolgenden Mattdrohungen fand er keine Verteidigung mehr. Wenn sich Etienne Engelhardt mit beiden Händen die Halsschlagader zudrückt, überträgt sich das interaktiv auf den augenblicklich ihm gerade zur Verfügung stehenden freien Raum, den er braucht, um sich im Caro-Kann wohl zu fühlen, gerade so viel Platz darf es sein, dass er dabei nicht erstickt. Fast verräterisch offensiv wirkte da der Springer auf der vierten Reihe, der sich dann plötzlich siegreich auf b2 in Felix Zeuners lange Rochadestellung opferte. Glücklich gelang den Königen dann sogar noch einmal die Führung zum 4:3, als Christian Hörr in schlechterer Stellung überraschend gewann. Vaceslav Ananev war der zweite Spieler an diesem Tag, dieses Mal auf VSC-Seite, der für die rücksichtslose Behandlung der Bedenkzeit bestraft wurde. In der letzten noch laufenden Partie hatte sich längst abgezeichnet, dass Lion Pfeufer diese Führung nicht würde retten können. Stefan Merkel kontrollierte schon lange das Geschehen, strategisch war die Boleslawski-Partie längst entschieden und er behielt auch die Nerven, den vollen Punkt zum verdienten Ausgleich zu holen. Ein finaler Streich auf dem Kontrabass.

Zorn der Zeit. Schwarz überschritt in besserer Stellung nach 39.Td1-d2 die Zeit.

Der Schrei war noch nie ein Symbol der Vergeistigung, er tötet immer ab und lebt ausschließlich für die totale Auslöschung des Geistes. Er hält kein freies Plätzchen für das Romantische bereit und verabscheut das Realistische zutiefst. Niemals das Beobachtete genau aussprechen, es sich nicht zu sagen trauen, es niemals herausschreien, auch wenn es weh tut, erst dann ist man endlich in der seelischen Tiefe angekommen, die den Symbolismus ausmacht. Andächtig und ein bisschen ambitioniert kommt der Mensch am Ende immer zur Ruhe. Das gilt auch für das umkämpfte Duell der beiden Plauener Schachvereine. Im Remis, und also im Teilen der Punkte liegt der Frieden.

 

VSC Plauen 1952
SK König Plauen II
4
:
4
Merkel, Stefan
1921
Pfeufer, Lion
2069
1
:
0
Därr, Roland
1960
Lozovoy, Sergej
1984
1
:
0
Bicker, Frank
1965
Beyer, Christof
2003
1
:
0
Klassen, Alexander
1960
Götz, Andreas
2061
0
:
1
Ananev, Vaceslav
1891
Hörr, Christian
1889
0
:
1
Zeuner, Felix
1682
Engelhardt, Etienne
1884
0
:
1
Kadner, Siegfried
1887
Paul, Mathias
2143
0
:
1
Rehbein, Gerhard
1876
Butzke, Daniel
1933
1
:
0

 

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letzte Änderung: 05.12.2022