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1. LANDESKLASSE St. B – Saison 2007/2008
 

Wofür man in der Orangerie einen Amboss braucht
oder über Sergej Lozovoys Raub der Sabinerin im Caro-Kann

"Die Leute, wie ich es selbst mit Schrecken erlebt habe, kommen um neun Uhr früh an, stellen sich unter die Dusche und laufen auf eine Tennispartie, fallen tot um und sind um zwei Uhr Nachmittag schon auf dem Friedhof. Der Süden beseitigt die Toten sofort."
(Thomas Bernhard, "Beton")

"Schon das Wort Orangerie hat mich immer fasziniert, hatte ich zu Gambetti gesagt, es war das Lieblingswort meiner Lieblingswörter."
(Thomas Bernhard, "Auslöschung")


"Eigenartig, alle Löwen, die ich kenn', haben orange als Lieblingsfarbe." (Peter Luban)

"Jawohl, die Apfelsinen unten rein und den Amboss obendrauf." (Peter Paul)


Wer von Andreas Götz jemals einen orangefarbenen Hefter überreicht bekommen hat, für den ist es Zeit geworden, höchste Zeit, endlich in grundlegende Schachgeheimnisse eingeweiht zu werden, nicht jene sind gemeint, die Andreas Götz selbst herausgefunden hat, sondern ausschließlich solche, die John Nunn aufgeschrieben hat und von Andreas Götz mit Kugelschreiber unterstrichen wurden, im orangefarbenen Hefter, der Christof Beyer unbedingt ausgehändigt werden musste, weil es nötig war, ihn zu unterstützen, so schnell wie möglich von der hässlichen Zeitnotsucht loszukommen, die Zeitnot für immer, und also für alle Zeit abzuschütteln, und um diesen immer wiederkehrenden Zeitmangel bewältigen zu können, ist pünktliches Erscheinen zur Partie der offensichtlichste und einfachste Weg, Zeit zu sparen, noch lange bevor überhaupt über den ersten Zug nachgedacht werden kann. Und so erschien Christof Beyer auch zum Therapiebeginn, zur Partie gegen Allianz Leipzig, eine Viertelstunde vor neun Uhr früh in der Orangerie des Hotels Alexandra, während alle anderen, abgesehen von Lion Pfeufer, einige Minuten später eintrafen. Zeitnotmentor Andreas Götz betrat sogar erst ganz kurz vor neun, also zum ehemaligen Beyer'schen Zeitpunkt, als Letzter die Wettkampfstätte. Da hatte dessen Gegner, Jürgen Pohlers, schon ein paar Minuten im schnaufenden Mandolinentiefgang das fünfte Brett gesucht (nur Jochen Franz vermag es sonst noch, einen so großen Schatten mitten auf ein fremdes Schachbrett zu werfen), bevor er sich schließlich nach dem Weg zum fünften Brett bei Christof Beyer erkundigte, bei dem der Platz auf der gegenüberliegenden Brettseite noch frei zu sein schien, aber nicht für Jürgen Pohlers, die Weichen nämlich noch nicht gestellt waren, ob Kontrahent Thomas Filipiak, wenn schon nicht rechtzeitig, so doch innerhalb der nächsten Stunde eintreffen würde, der Sitzplatz aber schließlich unbesetzt blieb, so dass die Plauener mit einem kampflosen Punkt in Führung gingen, während Christof Beyer zwar auch den zweiten Zeitnottherapieschritt erfolgreich absolvierte, nicht einen Augenblick länger am ersten Zug überlegte als ihn sofort auszuführen, aber dieser erste Zug sollte eben auch gleichzeitig der einzige bleiben, so dass die erste Zeitnottherapiesitzung eine ganz kurze wurde, sie also abgebrochen werden musste, denn um vollständig von der Zeitnot geheilt zu werden, bedarf es unbedingt eines Gegners, der auf der anderen Seite des Schachbretts die Uhr betätigt.

 

Unentschlossenheit in der sizilianischen Eröffnung war bei Lion Pfeufers Gegner ersichtlich. Frühe Zeitnotsymptome zeichneten sich hier ab, während am Brett dahinter ein ganz anderes Tempo angeschlagen wurde, hier beobachtet werden konnte, dass es für den Weißspieler im Caro-Kann durchaus möglich ist, schon im elften Zug auf die Rochade verzichten zu müssen, wenn der König nach einem Schachgebot nämlich nur noch auf das Feld f1 ausweichen kann, aber gerade in dieser speziellen Position fühlte sich Sergej Lozovoy, als Erfinder dieser Neuerung, unheimlich wohl. Ganz zügig returnierend, wie mit einem Tennisschläger in der Hand, spielte er bis dahin die Eröffnung, als hatte er die schwarze Dame zu diesem Schachgebot extra verleiten und so unbedingt auf das ungedeckte Feld a5 locken wollen, um nun mit den taktischen Verwicklungen zu beginnen, das Feuer auf dem Königsflügel zu entfachen, zunächst durch das Öffnen der g-Linie, auf der nur wenig später zwei weiße Schwerfiguren auf schwarze Arglosigkeit trafen. Als David Kober die Mattdrohung abwenden wollte, sich mit Turm g4, gedeckt nur vom Bauern auf f5, zwischen die weiße Dame auf g5 und den weißen Turm auf g1 stellte, war es längst zu spät. Das Matt war bereits nicht mehr abzuwenden, der schwarze Turm auf g4 konnte einfach überrumpelt werden, ohne dass der Bauer auf f5 wiedernehmen konnte, denn die weiße Dame auf g5 hatte nicht nur den schwarzen König im Würgegriff, sondern sie war bereit, noch einen rasanten Haken zu schlagen, quer bis zum anderen Ende der fünften Reihe zu eilen, um jene ungeschützte und ahnungslose schwarze Dame auf a5 zu entführen, die immer noch dachte, einer Einladung beizuwohnen, mitten auf einem friedlichen Volksfest mit viel Musik und Schabernack zu sein. Und als Daniel Butzke in einer nahezu symmetrischen Stellung der französischen Abtauschvariante mit seinem Gegner im 16. Zug die Punkte teilte, beide Seiten hatten sich früh gegen eine Konfrontation entschlossen, spätestens die beiderseitige lange Rochade bekundete den gemeinsamen Willen zur Fortsetzungsstarre, lagen die Plauener Gastgeber bereits mit 2½:½ Punkten in Führung, aber noch nicht beruhigend. Nicht ohne Grund begann jetzt Christian Hörr zum ersten Mal länger nachzudenken, weil er von seinem Gegner im zehnten Zug ein Remisgebot bekam, mittendrin in einer entscheidenden Phase dieses fünften Spieltages: Andreas Götz war in der Nimzowitsch-Indischen Verteidigung in eine völlig hoffnungslose strategische Lage geraten, Olaf Hilbig kämpfte im königsindischen Aufbau immer noch um Ausgleich und Etienne Engelhardt litt schon wieder unter beängstigender Atemnot im Caro-Kann. Nur Lion Pfeufer hatte inzwischen etwas mehr als Ausgleich erreicht, so dass sich Christian Hörr zu diesem Zeitpunkt mehr als ein 4:4 nicht zusammenreimen konnte, was hier eigentlich gespielt wird, und was nicht, konnte er beim besten Willen, selbst bei der nüchternsten Betrachtung, zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen. Dass bei diesem Spielstand beispielsweise Olaf Hilbig und Etienne Engelhardt so schnell ein Remis zugesprochen bekamen, überraschte, und so konnte zwischendrin auch Christian Hörr beruhigt in das gegnerische Friedensangebot einschlagen, wenn er auch nach erstauntem Blick auf die längst draußen auf dem Gang aufgebaute Analysestellung, die er als seine eigene wiedererkannte, mit sich selbst unzufrieden war. Andreé Rosenkranz verkündete dort nur wenig später, dass der Mannschaftskampf doch noch einmal spannend werden könnte: Andreas Götz hatte schon die ganze Zeit über die Sinnlosigkeit seiner Züge leise vor sich hin geschimpft, naturgemäß in ständiger Wiederholung. Mal ging sein nervöser König einen Schritt auf den Abgrund zu, dann wieder ruhelos einen zurück, Kg8-h8, dann wieder Kh8-g8, währenddessen fortwährendes Kopfschütteln, und außerdem schüttelte er seinen Kopf über das vor ihm Zusammengezogene, das Drohende, denn als Jürgen Pohlers im 22. Zug mit Turm g3 den finalen Königsangriff einleitete, war die schwarze Verteidigungsstellung nicht mehr zu retten. Sollte eine unheilvolle Allianz ganz am Ende doch noch Kompensation erreichen, den Damenraub also rächen können? Aber dafür hätte bei Lion Pfeufer am Spitzenbrett schon einiges schiefgehen müssen. Dessen Position war sehr komfortabel, Läufer gegen Springer in einer offenen Stellung, das hatte bereits Tarrasch als die kleine Qualität bezeichnet, so Andreas Götz. Und plötzlich holte Lion Pfeufer zum Schlag aus, einmal richtig auf den Amboss hämmern, danach sehnte er sich wieder einmal, und so opferte er unerwartet einen Läufer in die weiße Königsstellung, auch wegen der dramatischen Zeitnot seines Gegners, wie er später verriet, er glaubte nicht mehr daran, dass Jörg Bethmann danach noch genügend Zeit haben würde, eine rettende Verteidigung zu finden. Besser hätte es auch John Nunn weder schlussfolgern noch umsetzen können. Nachdem das Oberhaus im Treffer zuletzt noch versagte, sorgte es in der Orangerie des Hotels Alexandra nun für Wiedergutmachung. Dass er gut gespielt habe, wollte Sergej Lozovoy dieses Mal erwähnt wissen - und darauf sollte Athene Noctua mit dem Finger deutlich zeigen. Glücklich trug Sergej Lozovoy auf seinen Armen die Sabinerin nach Hause, Lion Pfeufer hielt in seinen Händen dafür immerhin die Partie des Tages, die nicht nur eine wunderschön entschiedene war, sondern zugleich die entscheidende zum 5:3-Endstand.

Diagonaler Einschlag. 21.h3 – Lxf3! 22.gxf3 Dh4 23.Sg4 Dxh3
24.De2 f5 25.Dg2 Dh4! 26.Tae1 fxg4 27.fxg4 Tg5 28.Le2 Le3+ 0–1

Andreas Götz schüttelte noch immer den Kopf. Vielleicht lag es daran, dass er nicht rechtzeitig zur Partie kam, denn wenn man im orangefarbenen Hefter über die Schachgeheimnisse von John Nunn liest, erfährt man, dass Pünktlichkeit der erste Schritt in die Verspätung ist, weil da schon die Zeitnot unerbittlich beginnt. Dabei wollte er doch hundert Prozent in dieser Saison holen, alle Partien gewinnen. Stattdessen kam ihm nur noch das Wörtchen sinnlos, mit dem er sein Kopfschütteln kommentierte, in den Sinn. Zum Schluss wenigstens noch die Schachuhren und die Figurenschachteln in die große Kunststoffkiste stapeln, zuerst die Figurenschachteln und dann die Schachuhren, nein, zuallererst die Schachuhren - und darauf dann die Figurenschachteln, so dass die schweren Figurenschachteln die Schachuhren in der Kunststoffkiste unter sich begruben, und also nicht mehr zu sehen waren, immer wieder stapelte Andreas Götz eine volle Figurenschachtel auf eine Schachuhr so lange übereinander, bis auch Peter Paul ins Kopfschütteln geriet, und also ins Kopfschütteln einstimmte, aus dem alleinigen Götz'schen Kopfschütteln ein gemeinsames Unverständnis entstand, aber über ganz unterschiedliche Dinge: "Jawohl, die Apfelsinen unten rein und den Amboss obendrauf. Iech koar net hi'gucken." Manchmal ist die Hilfe, die gegeben werden sollte, noch tausendmal schmerzhafter als die Verlassenheit, die bisher immer entstanden ist, wenn nicht einmal der Versuch der Hilfe unternommen wurde, weil alle, die hätten helfen können, nach dem Kopfschütteln über alles Sinnlose dieser Welt nur noch das Weite gesucht haben, alles lächerlich ist, weil die Uhr gerade anzeigt, dass es bis zwei Uhr am Nachmittag noch eine ganze Stunde Zeit ist. Nur nicht in Zeitnot kommen.

 

SK König Plauen II
WB Allianz Leipzig
5
:
3
Pfeufer, Lion
2069
Bethmann, Jörg
2078
1
:
0
Lozovoy, Sergej
1984
Kober, David
2096
1
:
0
Hilbig, Olaf
2063
Rosenkranz, Andreé
1973
½
:
½
Beyer, Christof
2003
Filipiak, Thomas
1905
+
:
Götz, Andreas
2061
Pohlers, Jürgen
2003
0
:
1
Hörr, Christian
1889
Wendt, Horst
1831
½
:
½
Engelhardt, Etienne
1884
Just, Anita
1957
½
:
½
Butzke, Daniel
1933
Bernhardt, Lutz
1736
½
:
½

 

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letzte Änderung: 05.12.2022