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XXII. ÄSKULAP-TURNIER IN GÖRLITZ
 

"Die Physiognomie eines Menschen ist ja was sehr Interessantes, da ist ja schon alles drin."

(Thomas Bernhard)

Die unberechenbaren Bauernendspiele des Maik Richter oder Beobachtungen zwischen Favabohnen, Chianti und Buchholzlogik

Wer die Hände in den Schoß gelegt hat, muss noch lange nicht untätig gewesen sein, hat währenddessen vielleicht eine Rede vorbereitet, eine große, wer dem Thema ohnehin längst verfallen ist, sich diesem also nur noch hymnisch zu nähern wagt, eine kleine, wer dem Staccato frönt, sich den schmalen Freiraum der Souveränität bewahrt, oder aber gar keine Rede, wer von dem Thema sichtlich angewidert ist, so dass der Beobachter einzig nicht genau sicher sein kann, ob im engsten Kreis des Redners gerade die Bronzetür zugefallen ist oder der Redner bereits vor Redebeginn den Absprung sucht, die Flucht in Kürze, zu einer Verabredung danach, garniert mit ein paar Favabohnen und einem ausgezeichneten Chianti, aber dann doch im vorauseilenden Hochgenuss so ein paar Worte herauswürgt, als läge ihm die Mahlzeit davor noch schwer im Magen, das Langzeitgedächtnis dunkle Erinnerungen an die Kindheit fabulieren lässt, in der das Schach nichts mit jenem hier im Turniersaal bevorstehenden gemeinsam gehabt hätte, weil es doch hier um Zeit geht – ach, hätte er doch nicht kommen müssen.

 

In einem kleinen, fast unscheinbaren Café, mitten in der Altstadt, dort wo die Neißstraße und die Kränzelstraße aufeinander zugehen, locken illy-Bohnen zu einem Latte Macchiato, zum Verweilen zwischen der Früh- und der Nachmittagsrunde. Das XXII. Äskulap-Turnier hatte Aroma, gewann in seiner neuen Auflage wiederum an Schärfe, weil es einerseits zwischen Ober- und Unterhaus immer unschärfer zu trennen vermag (die Hälfte der insgesamt 91 Teilnehmer hatte sich mit einer Turnierwertzahl zwischen 1900 und 2200 in die Starterliste eingetragen) und weil andererseits die zwölf internationalen Titelträger im Teilnehmerfeld einen spannenden Kampf an der Tabellenspitze erwarten ließen. Der Sieger der beiden Vorjahre, Großmeister (GM) Jurij Zezulkin, befand sich zwar auch dieses Mal wieder in der Favoritenrolle, aber auch die anderen beiden GM Leonid Voloshin und Zigurds Lanka kamen für einen Erfolg ganz vorn unbedingt in Betracht, ebenso der Internationale Meister (IM) Henryk Dobosz, ein Topfavorit früherer Tage, der sich nach zwei Jahren der Abwesenheit nun wieder in die Fänge dieses Osterturniers begab. Störfeuer war auch von der schlagkräftigen Rüdersdorfer Nachwuchsfabrik zu erwarten, den jungen Aufsteigern in die zweite Bundesliga. Dort ziert GM Zezulkin inzwischen das erste Brett.

 

Während sich die Partien der Eröffnungsrunde an den vorderen Brettern im Rahmen des Erwartungsgemäßen entwickelten, sorgten junge Spieler in den hinteren Tischreihen für die ersten Augenbrecher. David Homburg (TWZ 1620) beispielsweise. Der 13-jährige Blankenburger, auf Platz 80 gesetzt, überraschte Heike German (2093) zum Turnierauftakt eiskalt. Am nächsten Tag wurde Tino Proschmann (2182) sein nächstes Opfer, ein Remis gegen Werner Püschel (2177) folgte, schließlich die Krönung in Runde fünf, der Schwarzsieg gegen den Ebersbacher Frank Hollstein (2189). 500 Wertzahlpunkte neutralisiert, eine putzmuntere Hierarchieauslöschung in Regelmäßigkeit.

 

Dass es sich zuweilen als töricht erweisen kann, Frauen zu unterschätzen, ihnen gar am Schachbrett auch nur für eine Sekunde den Rücken zu drehen, dafür stand Olaf Brechlin (2073) eindrucksvoll Dauermodell zur Schmerzempfängnis bei Madlen Walther (1614), Anna Vogt (1676) und Peggy Flemming (1477). Erst in der letzten Runde gegen Martina Nobis (1880) gelang es ihm, den Reigen der Demütigung zu beenden. Und auch Holger Slama (2006) konnte ewig nicht von Peggy Flemming lassen, kam nach einer langen, kräftezehrenden Partie geradeso mit rotem Kopf davon.

 

Zur Nachmittagsrunde des zweiten Turniertages war der erste Oberhaus-gegen-Unterhaus-Schwall verflogen, die Oberklasse der Titelträger bat nun dessen Unterklasse zu Tisch. Hatte sich GM Jurij Zezulkin gegen Maik Richter noch vergleichbar schwer getan, ging ihm die Partie gegen IM Grigorij Bogdanovich um so leichter von der Hand. Es wurde ein Schlachtfest, eine Domestikation aus der Eröffnung heraus, die Zaungast GM Leonid Voloshin mit seinem pathologischen Endzeitgrinsen begleitete, als sich der zezulkin’sche Turm von c1 nach c7 zum letzten operativen Schlag in die schwarze Stellung schnitt, ungedeckt, der weiße Turm, aber nicht mehr wegzudenken. Beide Arme hoch zum Zeichen der finalen Vernichtung, den Gegner noch einmal kurz sich selbst überlassend, ihm die Gelegenheit bietend, in Abwesenheit diese peinliche Partie zu beenden. Wenige Augenblicke später waren nur noch zarte Geräusche zu vernehmen, als Bogdanovich apathisch an der Wiederherstellung der beiderseitigen Grundstellung arbeitete. Der Rest verlief wortlos, ohne Beanspruchung des Geistes: die Gratulation an seinen übermächtigen Gegner, die stumme Frage nach der Einschätzung einer fiktiven, schwach mit den Fingern angedeuteten Position und die Antwort darauf, die lediglich aus einer Handbewegung bestand, wenn man mit Schwung mehrere Würfel gleichzeitig aus der Hand fallen lassen möchte, der Blick sich aber schon gelangweilt zur Seite neigt, weil es ohnehin wieder zwei Sechser werden. Ein letzter Griff zum Sakko, um den Ekel vor weiterem sozialen Kontakt endlich abzustreifen, und der Sieger verließ den Ort der Abschlachtung. Duftessenzen von einseitiger Begabung blieben zurück. Dabei verpasste GM Zezulkin die wahrscheinlich spannendste Partie des Turniers, zwischen dem Rüdersdorfer Stefan Frübing und FIDE-Meister Mike Stolz, eine Neuauflage des Vorjahresmatches, und wieder Feuer in der Drachenvariante. Der Magdeburger Oberligaspieler gewann dieses Mal nur knapp, ganz filigran musste er dafür arbeiten, mitten im Wettlauf gegen die Zeit. Am nächsten Morgen wartete er mit Anzugsvorteil gegen GM Zezulkin, der ihm vor Partiebeginn überraschend die Punkteteilung anbot, denn ganz schlecht habe er in der letzten Nacht geschlafen, möglicherweise schweißgebadet von der Angst, sich auf dem Sitzplatz seines gestrigen Gegners in Konzentration erniedrigen zu müssen. Ein entschiedenes unentschieden. Der Fotograf des Görlitzer Lokalblattes kam also bereits zu spät, aber eigentlich war er ja auch eher auf der Suche nach einem Görlitzer Turnierteilnehmer. Ein Kampf, der länger dauerte als jene morgendliche Partie an Brett eins. Bernd Bauer wohnt inzwischen in Augsburg, schade. Auch der Nachmittag ergab kein Motiv, welches ein Fotograf gern eingefangen hätte. Die Partien an den ersten vier Brettern endeten ausnahmslos remis. IM Henryk Dobosz ging mit einem halben Zähler Vorsprung in den letzten Wettkampftag, dahinter zehn Verfolger mit vier Punkten. Es wurde weiterhin risikoscheu remisiert. GM Leonid Voloshin langte allerdings noch einmal richtig hin, so dass es das schüttere Deckhaar Zbigniew Ksieskis komplett zerzauste. „I had a good position.“ In der Vergangenheit überlebt das Positive, in der Gegenwart fehlten jedoch plötzlich erst ein Turm und dann ein Springer, weil die Dame zuweilen gern imposant auf der Diagonale entlangrauscht.

 

Die letzte Runde brachte die Führenden noch näher zusammen. Sechs Spieler mit jeweils 5½ Punkten begannen sich plötzlich für die Buchholzwertung zu interessieren. Schreibend, rechnend, immer wieder korrigierend, es wollte sich kein eindeutiges Bild ergeben. Nur an Brett sieben wurde noch gespielt, IM Ralf Schöne gegen Maik Richter. Eigentlich eine klare Sache, aber Richter hatte immer noch eine Qualität mehr, die der Berliner im Mittelspiel geopfert hatte, weil er von Beginn an „richtig was losmachen wollte“, es aber über die Kompensation hinaus bisher nicht geschafft hatte - zum Unbehagen von IM Dobosz, der die Buchholzbalance mit Zezulkin in Gefahr sah, schließlich hatte dieser in der zweiten Runde ausgerechnet gegen Richter gespielt. Dobosz hatte gegen alle Großmeister antreten müssen und trotzdem sollte es bei Punktgleichheit für ihn nicht reichen. Da könne mit der Buchholzwertung einiges nicht stimmen, überhaupt sei das Äskulap das einzige Turnier, bei dem die komplette Buchholzwertung herangezogen würde, also ohne Streichwertungen in der ersten oder auch noch in der zweiten Runde. Sein Kurzremis in der letzten Runde ginge völlig in Ordnung, Voloshin sei ein starker Spieler und er habe schon gegen ihn verloren. Ob sich denn nicht noch was ändern ließe mit der Buchholzwertung, womöglich noch während des Turniers. Eher würde es für den 40. Zug jeweils noch eine dritte Stunde Bedenkzeit geben - und so schlich Dobosz in nervöser Beobachtung erneut um die brisante letzte Partie. Richter hatte durch Rückgabe der Qualität die Stellung in ein Turmendspiel verwandelt. Außerdem verfügte er lediglich über einen noch unberührten Randbauern auf der a-Linie, Schöne hingegen über deren zwei, auf a3 und b4. Der Rest spielte sich auf der c-Linie ab: Schwarz mit Turm und König auf c7 und c8, Weiß mit Turm und König auf c4 und c5. Richter wankte plötzlich auf seinem Remisweg - zwischen der Option des Turmtausches und der Bewegung des Königs von c8 nach b7. Das Bauernendspiel, nur eine Runde zuvor, hatte sich auch am Damenflügel entschieden, mit einem klassischen Hebel, als Jacob Beißer unter tödlichem Zeitmangel, die Quadratregel missachtete. Max Zingler, der Görlitzer Endspielgeist, war sofort zur Stelle: „Na ja, die Stellung war natürlich remis, aber wenn das die Frau nicht auflöst.“ Welche Frau, es handelte sich doch um ein Bauernendspiel? Richter hatte sich inzwischen für den Turmtausch entschieden, Schöne seinen kompletten Zeitvorsprung investiert, um dann doch nicht mit dem b-Bauern, sondern mit dem König die Schwerfigur vom Brett zu nehmen. Der schwarze König brauchte es sich jetzt nur noch in der Brettecke bequem zu machen, ein paar Züge beiderseits noch hin und her, es gab keine Tempi mehr auszuzählen.

 

Jurij Zezulkin reichte zur Gratulation die Hand herüber, außerdem Blickkontakt wegen des halben Buchholzpunktes, der am Ende doch noch zum Turniersieg gereicht hatte, zu seinem dritten in Folge. Mike Stolz war ganz dicht dran und unterlag erst nach dritter Wertung, dahinter der Buchholzphilosoph aus Oberwinden. Wäre es nach der Anzahl der entschiedenen Partien gegangen, hätte der Rüdersdorfer Nachwuchsspieler Nils Becker das Rennen gemacht. Mit einer Performance über 2300 landete er trotzdem sensationell auf dem sechsten Platz. Unter die Top 20 platzierte sich dieses Mal Steffen Ranft, der eines seiner erfolgreichsten Turniere spielte, immer auf der Suche nach schönen Zügen, mal verspielt mit vier Damen auf dem Brett, wie in Runde drei, dann wieder Angriffsästhetik, wie in den Partien gegen Günther Jahnel und David Ortmann. Und auch der halbe Punkt gegen IM Ralf Schöne half seiner langen Sehnsucht, endlich einmal die nationale Wertzahlmarke bei 2100 Punkten zu überspringen, und das gleich mit FIDE-meisterlicher Performance.

 

Zum Schluss noch ein Glas Latte Macchiato. Freundlich serviert die schwarzhaarige Dame des Hauses dazu ein stilles Wasser. Gegenüber dem morbiden Görlitzer Bewirtungscharme hatte sie (möglicherweise unbewusst) damit eine Kulturrevolution geprobt. Diesen Augenblick festhalten. Augen schließen und umrühren. Pianissimo. Nur die Sinne im Chor. Jetzt bitte gar keine Rede.

 

Christof Beyer
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letzte Änderung: 05.12.2022