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XXV. ÄSKULAP-TURNIER IN GÖRLITZ
 

Affe, Giraffe, Elefant oder der unaufhaltsame Lauf des Meisterjägers von ganz hinten nach ganz vorn


"Der beste Spieler in einem Turnier gewinnt es nie. Er landet auf Platz zwei oder drei."
(Siegbert Tarrasch)


Drei Springer gegen einen Springer, so ein Endspiel kann ganz häufig aufs Brett kommen, so Großmeister Lutz Espig, fast so häufig wie sein Lieblingsendspiel, wenn darin wiederum Springer und Läufer auf den gegnerischen König losgehen, könnte man das antreffen, so ein Endspiel, drei Springer gegen einen Springer, schon ein paar Mal hätte er genau das auf dem Brett gehabt, weil das auch ganz oft vorkommen kann, drei Springer gegen einen Springer, und ganz logisch sei das Zustandekommen so eines Endspiels, wenn Weiß nämlich noch über zwei Springer und einen zusätzlichen Bauern verfügt, der sich schon einen Schritt vor dem Umwandlungsfeld befindet, nun den Einzug auf die gegnerische Grundreihe beabsichtigt, also zur Umwandlung bereit ist, aber eben nicht zur Dame einziehen kann, weil der gegnerische Springer dann ganz böse werden kann, indem er der eben erst verwandelten Figur unmittelbar nach dem Schachgebot einen eliminierenden Hufschlag verpassen würde, und also dem zum Einzug auf die Grundreihe bereiten Freibauern nichts anderes übrig bleibt, als sich in einen Springer zu verwandeln, um nun als dritter Springer aufzutreten, die gegnerische mit Schachgebot geschmückte Springergabel zu verhindern, und natürlich sei so ein Endspiel dann ganz leicht gewonnen, so schließlich Lutz Espig. Bewunderung oder gar Applaus wäre danach allenfalls für die Endspielästhetik angemessen, nicht aber für den ach so banalen Gewinnweg.

Der Wittenberger, Frank Schönfeld, ist den opulenten Beifall gewohnt, sobald er seinen Gedanken freien Lauf lässt, entweder wenn es gut bei ihm läuft (naturgemäß beim Denksport) oder wenn er schnell läuft (naturgemäß beim Laufsport), aber er würde in seinem Leben nie mehr zu oft Schach spielen und nie mehr zu weit schnell laufen, also höchstens noch an einem Schachturnier im Jahr würde er teilnehmen, und zwar nur am Äskulapturnier, und höchstens sechzig Meter weit würde er schnell laufen, und also nur im heimischen Arthur-Lambert-Stadion, aber auf keinen Fall auch nur eine einzige Schachpartie mehr im Jahr spielen und keinesfalls nur einen einzigen Meter weiter schnell laufen, denn am liebsten würde er nur noch dreißig Meter schnell laufen, weil dafür seine Ausdauer noch ganz locker ausreicht. Zur Eröffnung des XXV. Äskulapturniers in Görlitz waren die Anwesenden bereits schnell ganz laut mit ihren Händen, als Frank Schönfeld einfach nur langsam gelaufen kam, nur im gemütlichen Schlenderschritt nach vorn auf den Redner zuging, um die Hände geschüttelt zu bekommen, weil es für ihn ein Jubiläum zu feiern gab, seine zwanzigste Turnierteilnahme beim Äskulap, und spätestens dann hat man es geschafft, wenn es nämlich überhaupt nicht mehr um Leistung geht, man plötzlich jenen schwerelos machenden Zustand erreicht, dass bereits die Parusie, die Ankunft per Erscheinen, also die pure Anwesenheit beklatscht wird. Zuvor hatte der Görlitzer Oberbürgermeister, Joachim Paulick, über scheinbare Lebensweisheiten gesprochen. Zwar ist das Leben nie zu lang für unheimlich schlechte Reden, nie zu kurz, um heimlich eine Million zu spenden, aber dass das Leben nicht lang genug sei für das Schach, und dieser Umstand ausgerechnet ein Fehler des Lebens sei, nicht etwa des Schachs selbst, dieser Behauptung hatte sich schon einmal ein deutscher Dichter hingegeben, die eben nur in der Grundsätzlichkeit Gültigkeit besitzt, denn Garri Kasparow hat schon alles im Schach gesehen und sich danach gelangweilt, bis er sich schließlich quicklebendig von den 64 Feldern abwendete. All jene, die Schach nie verstehen werden, egal wie geduldig das Leben mit dem Dilettanten umgeht, all diese ahnungslosen Schachspieler mochte Christian Morgenstern gemeint haben, und in dieser Redesequenz hätte man sich, im Haus Wartburg versammelt, angesprochen fühlen können, wäre Christian Morgensterns These tatsächlich zitiert worden und nicht der Lautmalerei zum Opfer gefallen.

Wenn das Äskulapensemble eintrifft, gibt es diesen erwähnten Begeisterungsbeifall für all die Teilnehmer, die fast jedes Jahr wiederkehren, ohne dass sie das Turnier gewinnen wollen, wie eben Frank Schönfeld, Gabriele Just, Benno Pankrath oder Gunnar Baginski. Zu den ambitionierten Gipfelstürmern zählen wiederum jene, für die der Turniersieg schon oft zum Greifen nahe war, die aber bisher das letzte Steilstück nie ganz erklimmen konnten, die also nur eine ungefähre Vorstellung über den Ausblick von ganz oben haben, wie die drei FIDE-Meister Cliff Wichmann, Mike Stolz und Thomas Schunk. Daneben gibt es die Berühmten, die das Turnier schon gewonnen haben, deshalb in die Nostalgie, in den Lauf vergangener Tage verliebt sind, wie IM Henryk Dobosz, der das Turnier dieses Mal aus ganz anderer Erwägung heraus besuchte, weil es sich nämlich mitten auf seinem Weg nach Hause befand, oder IM Grigorij Bogdanovich, für den dieses internationale Turnier inzwischen regionalen Bezug gewonnen hat, weil er in Löbau wohnt. Und schließlich gehören zur Bereicherung des Turniers immer wieder die Debütanten, die das Äskulap gleich beim ersten Anlauf gewinnen wollen, wie der mehrfache deutsche Blitzschachmeister, GM Robert Rabiega, oder der ukrainische GM Vladimir Sergeev, ohne Rücksicht auf die sich außerdem im Teilnehmerfeld befindenden internationalen Titelträger zu nehmen, dieses Mal insgesamt 17 an der Zahl.

 

Kuriositäten, Groteskes oder Bizarres gab es in der Eröffnungsrunde kaum. Ein paar ungewöhnliche Punkteteilungen allenfalls, wie die zwischen Martin Niering (DWZ 2111) und Ricardo Friedrich (1870), Viktor Schäfer (1835) und Sandra Ulms (2106) sowie Giso Müller (1984) und Carsten Goes (1584) oder eben jene zwischen FM Roland Pfretzschner (2197) und Fabian Braunstein (1786). Dabei hatte Roland Pfretzschner nichts dem Zufall überlassen, seiner Hotelzimmerwahl kam eine ebenso große Bedeutung zu wie der Partievorbereitung, nur Led Zeppelin spielte bei ihm wiederum eine noch größere Rolle, denn der tiefe Glaube dieses vogtländischen Äskulapdebütanten besagt, dass es nicht nur auf die richtige Eröffnungswahl ankommt, sondern viel mehr auf die Auswahl einer geeigneten Musik, also des passenden Led-Zeppelin-Leibchens zur Schachpartie. Da für Roland Pfretzschner ein guter Start in ein zumal vorher unbekanntes Turnier sehr bedeutsam erschien, kam es besonders auf das richtige Starttrikot an. Gleich am Anfang eins mit einer zweitligaerprobten Erfahrung auszuwählen, musste sich einfach als geschickt erweisen. Drei Siege und drei Remis, diese daraus resultierende T-Shirt-ELO sollte gegen Fabian Braunstein locker zum Erfolg ausreichen, aber mehr als ein schwerfälliges Unentschieden wollte zum Turnierauftakt nicht herausspringen. Und auch mit ausgewechseltem T-Shirt gegen Ricardo Friedrich lief es am nächsten Morgen nicht besser. Freilich, mit jenem T-Shirt hatte er vorher erst eine Partie gespielt, und zwar verloren, also wollte er dem T-Shirt noch eine zweite Chance geben, weil es möglicherweise nur noch nicht richtig eingespielt war. Roland Pfretzschner kam aus dem Umkleiden während des Turniers nicht mehr heraus. Nur noch ELO-lose T-Shirts bekamen fortan eine Spielberechtigung. Sogar seine mitgereiste Ehefrau begann sich zu wundern, was denn bloß mit ihrem Roland los sei, so eine miserable Stellung und nur noch so wenig Bedenkzeit auf der Uhr, dabei hatte er erst ein paar Züge vorher Christian Noacks Remisgebot ausgeschlagen, um sich wenigstens Minimalchancen in der gesonderten Sacheneinzelmeisterschaftswertung zu bewahren. Dass Roland Pfretzschners Ehefrau überhaupt kein Schach spielen kann, offenbarte, wie schlecht es schon um ihn bestellt sein musste, dass ihm gar nichts auf dem Brett einfiel, als bis zum bitteren Ende weiterzuspielen.

Der Ehrgeiz des Ebersbacher Oberligaspielers, Maik Richter (2098), bestand hingegen darin, sich in jeder Partie in hoffnungslose Zeitnot zu bringen, um erst danach Gewinnversuche zu unternehmen. Vor der Zeitkontrolle nur noch zwei Minuten für die restlichen zwanzig Züge zur Verfügung zu haben, sind da bei ihm absoluter Standard, da konnte er aus einem reichhaltigen Erfahrungsschatz schöpfen, aber in letzter Zeit mehrte sich eben leider auch das rustikale Einstellen von Figuren währenddessen. Reichte es gegen René Zimmermann (1945) wenigstens noch für einen halben Punkt, so kam in den drei nachfolgenden Partien gegen Steffen Hoffmann (1943), Tilo Hirsch (1702) und Tim Meier (1684) gar nichts Verwertbares mehr heraus. Erst in der sechsten Runde, inzwischen am viertletzten Brett angekommen, wurde so etwas wie latentes Erwachen ersichtlich. Sein Mannschaftskamerad, Christian Noack, bekommt da immer weiße Haare, wie er nach so einem Zeitnotroulette glaubwürdig seinen abrupten Alterungsprozess beschrieb. Der Turniersaal ist naturgemäß ganz selten ein Catwalk der Haute Couture, denn wird das Tragen eines Jogginganzugs außerhalb des Sports sonst als deutliches Zeichen zur Selbstaufgabe verstanden, gilt er im Schach durchaus als etabliert, in Kombination mit sportverneinender Kopfbedeckung entsteht sogar ein psychologischer Augenblick, der dem Gegner das Fürchten lehren soll, also absolute Rücksichtslosigkeit während der Schachpartie in Aussicht stellt.

Als FM Cliff Wichmann in der dritten Runde am ersten Brett gegen den Turnierfavoriten verlor, ahnte er wohl, dass es auch dieses Mal nicht zum Turniersieg reichen würde. GM Sergej Ovsejevitsch, der Turniersieger der beiden Vorjahre, war für ihn einfach eine Nummer zu groß. Aber gegen schwächere Gegnerschaft blitzte Wichmanns Souveränität sofort wieder auf, wie beispielsweise in der darauf folgenden Partie, als er Matthias Leipert im Mittelspiel die Dame fing, und auch in der nächsten Runde ließ er sich den Sieg nicht nehmen. Und wenn es schon nicht für den Turniersieg reichen sollte, so bestand wenigstens Aussicht auf den Sachsenmeistertitel, die Qualifikation zur Deutschen Meisterschaft, und da kam ihm die Punkteteilung mit IM Zbigniew Ksieski zumindest nicht ganz ungelegen, denn mit ihr sicherte er sich vor der letzten Runde immerhin die beste Ausgangsposition, die Führung in dieser sächsischen Sonderwertung. Um diesen Führungsanspruch jedoch zu verteidigen, musste in der letzten Runde mit Schwarz auch gegen einen stärkeren Gegner unbedingt etwas Zählbares her, brisant, denn sein noch ungeschlagener Gegner, GM Vladimir Sergeev, konnte im Falle eines Sieges selbst noch nach den Sternen greifen. Und vielleicht war Cliff Wichmann auch aus diesem Grund über das plötzliche Friedensangebot des Großmeisters überrascht. Höchste Zeit, dass er das Brett für einen Moment verließ, um den Hals nach der Tabelle zu recken, zu kalkulieren, ob schon ein Unentschieden für den Gewinn der Sachsenmeisterschaft ausreichen würde. Aber FM Thomas Schunk war ihm zu dicht auf den Fersen. Um ganz sicher zu gehen, blieb Cliff Wichmann nichts anderes übrig, als das Remis in sehr unübersichtlicher Stellung abzulehnen, aber er hatte zumindest wieder sehr flott gespielt, verfügte über eine Stunde Bedenkzeit, während dem Großmeister nur noch reichlich zehn Minuten auf der Uhr verblieben, und wenn er seinen Trainingskindern immer wieder erzählt, dass man kämpfen muss, besonders wenn es sich noch zu kämpfen lohnt, dann rutscht ihm auch ganz leicht so ein Wort wie Vorbildwirkung über die Zunge, und dass er von sich selbst glaubt, gerade im Bullet eine große Erfahrung zu besitzen. Doch solche Blitzqualitäten hätte hier nur Vladimir Sergeev gebraucht, der für die hektische Phase der Partie plötzlich begann, alle abgetauschten Figuren nacheinander vom Tisch hinunter auf den Fußboden zu stellen. Die Zeitnot hatte ihn sichtlich eingeengt, also suchte er wenigstens nach Bewegungsfreiheit hinter dem Schachbrett. Als er endlich seinen Freibauern zur Dame verwandeln konnte, verblieben ihm nur noch 39 Sekunden. Cliff Wichmann bekam dafür mehr als Kompensation: einen Turm, einen Springer, und bald läufige Freibauern, bei denen es nur eine Frage der Zeit war, bis sie selbst eine Umwandlung anstreben würden. Während Vladimir Sergeev verzweifelt mit der nackten Dame auf dem Brett hin und her irrte, nur um ein paar wahllose Schachgebote zu finden, schützte Cliff Wichmann seinen König mit Turm und Springer ganz bedächtig eng, nur nicht kurz vor dem Ende auf ein verlustreiches Diagonalschach hereinfallen, dachte er. Und schließlich zählte die Uhr von 39 Sekunden auf zehn herunter. Vladimir Sergeev suchte mit unruhigen Blicken nach dem Schiedsrichter, bis er schließlich Cliff Wichmann flehend anschaute, der aber nur ahnungslos beide Arme hob, zwar die restlichen Sekunden seines Gegners fest im Blick hatte, aber keine Begründung liefern wollte, warum die Uhr nach dem letzten gegnerischen Zug einfach weitergelaufen war, Sekunde um Sekunde ablief, obwohl Vladimir Sergeev nach seinem Zug die Uhr betätigt hatte. Vielleicht wäre ihm das Schlimmste erspart geblieben, hätte er wenigstens jetzt die Partie aufgegeben, so aber schloss sich für ihn ein schrecklicher Abschlussmoment an. Auf einen der hektisch ausgeführten Züge des Großmeisters, die schon lange keine Großmeisterzüge mehr waren, folgte beständig die betont ruhige Zugausführung des FIDE-Meisters, dem jetzt sogar die Zugnotation ein Hochgenuss wurde. Und als Vladimir Sergeev nur noch eine Sekunde auf der Uhr hatte, Cliff Wichmann aber immer noch über eine halbe Stunde Reserve verfügte, wurde spätestens jetzt deutlich, was mit Bulletqualitäten gemeint war, denn schon Vlastimil Hort hatte darauf hingewiesen, dass im Blitz der Springer stärker sei als der Läufer, und in dem Augenblick, als die Dame schließlich in eine Springergabel tapste, war die Partie gleichzeitig sowohl auf der Uhr als auch auf dem Brett entschieden. Völlig entnervt gab Vladimir Sergeev auf und drehte traumatisiert einige Runden im Turniersaal, eine Ehrenrunde war nicht darunter. Schließlich verschnaufte er am letzten Brett, setzte sich nieder und begann noch einmal, diese fürchterliche Tragödie nachzuspielen, als wollte er sofort herausfinden, nach welchem Zug sein Verderben eingesetzt hatte. Nirgends wird Zeitverschwendung strenger bestraft als beim Schach.

Und noch jemand hatte am letzten Brett gesessen, aber aus einem ganz anderen Grund und zu einem ganz anderen Zeitpunkt als Vladimir Sergeev, nämlich nicht in der schweren Schicksalsstunde nach der letzten Runde, als also alles bereits vorbei war, sondern in der ersten Runde, weil dort das Oberhaus aufhörte, als also alles erst bevorstand, dieser unglaubliche Aufstieg des Magdeburger Nachwuchsspielers Dominik Jäger (1914).

Schon die beiden Erfolge über Andreas Neumeyer (2077) und Günter Sobeck (2109) waren beachtlich, aber der Rausch begann erst so richtig, als er ganz plötzlich den erfahrenen FM Thomas Schunk (2203) im lange ausgeglichenen Endspiel taktisch aus der Bahn warf. Und das macht ja gerade den Reiz eines solchen Turniers aus, so Cliff Wichmann über die Naturgewalt eines Opens, dass nämlich ein schwächerer Spieler auch einmal einen stärkeren zu bezwingen vermag, und möchte man wenig später wissen, wie es beim Favoritenschreck so läuft, beobachtet man, dass der Erfolg nur von kurzer Dauer war, er es sich naturgemäß im Patzerkabinett wieder gemütlich gemacht hat. Aber dieses Mal war alles ganz anders. Selten konnte man beim Äskulap FM Mike Stolz (2312) in so einer prekären Lage beobachten. Wie von Wunderhand hatte Dominik Jäger im Mittelspiel plötzlich drei verbundene Freibauern, die nur noch mit Materialverlust aufzuhalten waren. Vielleicht hätte Mike Stolz die Partie gegen jeden anderen Gegner viel früher aufgegeben, aber da es sich um seinen eigenen Schützling handelte, der ihn mit fast jedem Zug ein Stück näher an eine deutliche Niederlage brachte, schien er ihm nichts von diesem Genuss nehmen zu wollen. Erst als es fast unmöglich war, überhaupt noch einen Zug zu finden, die Zuschauertraube immer größer wurde, reichte der Magdeburger FIDE-Meister mit bewegender sportsmännischer Geste seinem Schützling mit dem begleitenden Wort "Schön!" anerkennend die Hand zum Sieg. Ein bisschen stolz schienen plötzlich beide zu sein. Verlegen war höchstens der Sieger. Und plötzlich war Dominik Jäger am ersten Brett angekommen, völlig egal, wie die Partie in der letzten Runde mit Schwarz gegen den haushohen Favoriten, GM Sergej Ovsejevitsch (2529), ausgehen würde. Es schien eine eindeutige Angelegenheit zu werden. Sergej Ovsejevitsch gewann im 22. Zug einen Bauern, bevor er anschließend versuchte, seine Stellung zu verstärken, nach dem richtigen Augenblick Ausschau zu halten, die Stellung zu öffnen, um seinen Gegner abschließend zu überrollen. Aber so richtig konnte er sich nicht entschließen, denn nachdem beide Türme noch vor dem 40. Zug abgetauscht wurden, lavierte er mit seiner Dame und den drei Leichtfiguren, ohne ein entscheidendes Einbruchsfeld zu entdecken, und auch auf die Bedenkzeit hatte Dominik Jäger große Obacht gegeben. Erst als beide Spieler nur noch über ungefähr fünf Minuten verfügten, auch die Damen wurden zwischenzeitlich beiderseits vom Brett entfernt, hatte sich der Großmeister eine reichliche Minute Bedenkzeit Vorsprung erarbeitet, opferte nun seine letzte Leichtfigur gegen einen Bauern, die restlichen sammelte er mit seinem König ein, um mit dem letzten verbliebenen Freibauern die Entscheidung zu erzwingen. Dominik Jäger blieben nur noch 25 Sekunden auf der Uhr, aber irgendwie hatte er es mit seinem schwarzen Springer geschafft, den weißen Freibauern vor dem Einzug auf die Grundreihe aufzuhalten. Als Sergej Ovsejevitsch nur noch einfallslos versuchte, hin und her zu ziehen, hielt Dominik Jäger die Uhr an, weil unter den vielen Zuschauern kein interessierter Schiedsrichter zu finden war, der diese letzte noch laufende Partie beobachtete. Sergej Ovsejevitsch stand auf, als wollte er dagegen protestieren, hielt für einen kurzen Moment inne, vielleicht wollte er aber auch nur das Finale noch einmal von oben betrachten, willigte jedoch dann zum Zeichen, dass er mit der gegnerischen Remisreklamation einverstanden war, in die Punkteteilung ein. Selten gibt es nach einer Schachpartie Beifall. Hier im Haus Wartburg war er anhaltend und begeisternd. Nicht die Anwesenheit eines Nachwuchsspielers am ersten Brett wurde hier beklatscht, sondern dessen großartige Turnierleistung. Zum ersten Mal verhielten sich die Zuschauer nicht wie Giraffen, die plötzlich Stellungen verfolgten, die sie sonst nie betrachten würden, und nicht wie sonst wanderten sie wie Heuschrecken von Brett zu Brett, gelangweilt, nur um die Zeit bis zur nächsten Rundenauslosung totzuschlagen. Leichtfertig wurde sofort vom Turnier seines Lebens gesprochen, doch mit dieser Formulierung konnte man keine Entsprechung finden, erstens nicht bei einem Nachwuchsspieler, denn hier ging es noch lange nicht darum, ein Lebenswerk zu würdigen, zweitens nicht bei Dominik Jäger, denn der schien erst jetzt mit dem Schach angefangen zu haben. Und für den genauen Beobachter hatte sich Dominik Jägers Lauf bereits schon in der Oberligasaison angedeutet, denn dort hatte er zuvor die letzten vier Partien alle gewonnen.

 

Nachdem GM Vladimir Sergeev schon seine Chance auf den Turniersieg verspielt hatte, glaubte es wohl auch der zweite ukrainische GM Sergej Ovsejevitsch in dem Moment, als er plötzlich von seinem Sitzplatz hochschreckte. Aber die Buchholzwertung war komfortabel genug, das dramatische Schlussrundenremis zu verkraften, so dass die 5,5 Punkte ausreichten, um zum dritten Mal in Folge dieses Osterturnier zu gewinnen. FM Cliff Wichmann wurde durch seinen Großmeistersieg mit dem zweiten Platz belohnt und holte sich, ebenfalls mit 5,5 Punkten, den Sachsenmeistertitel (vor Thomas Schunk und Christoph Natsidis, beide 5,0 Punkte). Aber die größte Überraschung gelang Dominik Jäger, der insgesamt 15 internationale Titelträger hinter sich ließ und mit einer Turnierperformance von 2455 (mehr als 500 Punkte über seiner Wertzahl) selbst auf dem Niveau eines Internationalen Meisters spielte. Sein Startplatz Nr. 46 brachte ihn zu Beginn noch ans letzte Brett. Nach seiner Glanzvorstellung am Spitzenbrett wurde er mit dem dritten Platz belohnt, punktgleich mit dem neuen Sachsenmeister, FM Cliff Wichmann, und dem nun dreimaligen Äskulapgewinner, GM Sergej Ovsejevitsch.

Kaum wird der Puls in den Adern wieder allmählich schwächer und die Anspannung des Körpers lässt langsam nach, möchte man gleich schon wieder in die Unendlichkeit eintauchen. Immer wieder durch sie endlos hindurch. Länger als das Leben lang ist. Nicht nur fünfundzwanzigmal, sondern mindestens tausendmal und noch viel mehr. Schon bis zum nächsten Mal, so unendlich lang hin, schmerzt die tiefe Sehnsucht. Die Äskulapwelt ist bunt, und immer wieder ist es ein süßer Traum, diese Welt aus der Lauerperspektive zu beobachten. Drei Springer gegen einen Springer, sonst hat wirklich nichts gefehlt.

 

Christof Beyer
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letzte Änderung: 05.12.2022