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RÜCKZÜGE AUS DEN SCHACH-BUNDESLIGEN
 

Das deutsche Spitzenschach am Scheideweg
Die Bundesligen stehen vor einer Strukturruine

Jürgen Kohlstädt hat viel zu tun dieser Tage. Er, der die Spielpläne der deutschen Bundesligen aufstellt, macht wieder mal viel Arbeit umsonst. Denn gerade denkt man, dass endlich alles in Ordnung ist, da ist es wieder passiert: Rückzug! Wieder muss alles umgekrempelt, Nachrücker gefunden, benachrichtigt und befragt werden. Manchmal dreht es sich nur um wenige Stunden, denn am 31. Mai um 23:59 Uhr ist definitiv Meldeschluss.

 

In diesem Jahr ist es besonders schlimm. Erst hatte sich mit dem Lübecker SV ausgerechnet der amtierende Meister unter Angabe dubioser Gründe zurückgezogen und nicht nur den eigenen "Angestellten" eine entscheidende Möglichkeit zur Sicherung des Ein- und Auskommens genommen. Michael "Micky" Adams hat es sicher verschmerzen können, aber was ist mit Dauerspielern wie Vladimir Epishin oder Nick de Firmian? Von der sportlichen Unfairness mal abgesehen, wurde aus dem Spannung versprechenden Dreikampf um die Meisterschaft ein zum Glück spannend gebliebener Zweikampf. Clevere Vermarktung einer Randsportart sieht anders aus.

Die Lübecker, die unter 14 gemeldeten Spielern nicht einen einzigen Deutschen aufboten, stehen vor einem selbst verschuldeten Scheiterhaufen. In dem Moment, wo der Bezug, die Integration einer I. Mannschaft verloren geht, wird aus dem stärkeren Gefühl der Sympathie höchstens oberflächlicher Fanatismus. Sportlicher Erfolg wird zur Selbstverständlichkeit. Sobald dieser auch noch finanziell bedroht wird, entsteht Frust, der sich dann in Blüten wie Lübecks oder Kiels Rückzug äußert.

 

Anfang Mai zog der SC Andersen St. Ingbert, der bei den Männern in einer dramatischen Schlussrunde gerade noch den Klassenerhalt geschafft hatte, sowohl die Herren- als auch die Damenmannschaft aus den Bundesligen zurück. Die Homepage der Saarländer ist derzeit für Ursachenforschung leider nicht erreichbar. Den SV Hofheim (Herren) und den SK Großlehna (Damen), beide denkbar knapp abgestiegen, wird der Rückzug freuen.

 

Doch dem nicht genug, wenige Tage vor Meldeschluss verzichtet auch die Bremer SG, gerade noch überaus erfolgreicher Aufsteiger, auf einen neuerlichen Start in Deutschlands höchster Spielklasse. Dem waren nicht etwa finanzielle Sorgen vorausgegangen, sondern ein interner Disput zwischen Verein und Mäzen. Die SG mit ihren traditionellen Wurzeln bekannte sich klar zu ihren Amateuren aus der Region und erteilte der Spaltung des Vereins durch eingekaufte Profis ganz klar eine Absage, obwohl der Sponsor sein Engagement sogar noch intensivieren wollte. Ein absolut bemerkenswerter Schritt, denn hier wurde gezeigt, worum es im Schach überhaupt geht: Spaß. Und Erfolg hat erst in zweiter Linie damit zu tun. Jeder Sportpsychologe wird bestätigen können, dass der Einkauf von Profis beim ambitionierten Amateur (ab Elo 2200) zwangsläufig Frust erzeugen muss, denn er, der bisher regelmäßig das Vereinsturnier gewann und die I. Mannschaft anführte, ist plötzlich nur noch zweite Wahl – und bekommt im Gegensatz zum Großmeister eben kein Gehalt. Er will das Geld nicht mal, er will nur die Anerkennung der eigenen Leute. Die aber ergötzen sich nun am Spiel des neuen Fremden mit dem Titel und der hohen Elozahl.

Stuttgart spielte das vergangene Jahr unter ähnlichen Voraussetzungen. Mit einem reinen Amateurteam blieb man in der Bundesliga ohne Punktgewinn. Ob das zur Motivation der Spieler und des Klubs beiträgt, ist fraglich. Hier war es wohl eher Mitleid mit den eigenen Mannen, das von der "Basis" zur Spitze schwappte – oder die Angst vor dem Abstieg aus der 2. Bundesliga.

Der SK König Plauen wäre mit der offenbar zweitschlechtesten Amateurmannschaft somit als zweiter Nachrücker in der Bundesliga geblieben, jedoch entschied man sich auch hier ganz klar für den auf der Mitgliederversammlung beschlossenen Kurs der Konsolidierung in Liga 2. Denn so sehr die Bundesliga zum regionalen Schachevent wird, so sehr schmerzt auch der permanente sportliche Misserfolg, der in diesem Jahr für die Vogtländer besonders hart war. In 8 von 15 Spielen holte das Oktett nicht mehr als zwei lausige Brettpunkte, ausgerechnet im letzten Spiel gab es mit dem 0:8 gegen Wattenscheid die totale Demontage. Egal ob Bundesliga oder nicht, auf Dauer gibt sich der Verein in der Regionalpresse durch die ständigen Negativmeldungen der Lächerlichkeit preis.

 

Die Krönung der Rückzugserie ging aber vom SC Meerbauer Kiel aus. Dort hatte man in der Frauen-Bundesliga nach Brettpunkten die Klasse gehalten. Wie Mannschaftsleiter Wulf Hielscher auf Schach.com schreibt, führte die Diskussion um die Zukunft des Vereins sogar zu Ausschreitungen auf der Mitgliederversammlung. Ganz offenbar klafften auch hier Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. Die gescheiterte Gratwanderung zwischen Tradition und Erfolgsstreben hat in diesem Fall den Verein böse erschüttert, Spaltungstendenzen werden offen angesprochen. Das klare Bekenntnis und der Wille zum Engangement (vielleicht auch der Selbstverwirklichung) von Wulf und Ulla Hielscher notfalls auch ohne den Verein muss in diesem Zusammenhang aber ebenfalls nachvollziehbar sein. Der Weg der Tugend wird hier wie überall sonst irgendwo in der Mitte liegen.

Woher andererseits der gerettete SK Großlehna (ein Dorf mit ein paar hundert Einwohnern), der SC Baden-Oos oder Turm Emsdetten ihre Identität nehmen, steht in den Sternen. Hier wird Geld verschleudert, von dem manch anderer Verein nicht mal träumen darf. Wenigstens dürfen sich die Mäzene hier mit ihrer Sozialarbeit und ihrem Beitrag zur Globalisierung schmücken. Wirklich profitieren tut davon aber niemand. Es sind höchstens die Halbprofis, die sich damit gerade so ein lebenswertes Leben sichern. Selbst ein Meistertitel wird in den Medien kaum bis überhaupt nicht wahrgenommen, denn im Schach spielt sich alles in einem Mikrokosmos ab, zu dem in Deutschland nicht mal eine halbe Million Menschen wirklich Zugang haben.

Dass es auch anders geht, zeigen die Damenmannschaften von Dresden und Rodewisch, letztere übrigens gesponsort von Londa Haarkosmetik. Seit Jahren halten diese Teams gut im Mittelfeld mit, und das trotz des regelmäßigen Einsatzes vermeintlich schwächerer Spielerinnen aus der Region. Wenn in Baden-Oos oder Emsdetten die Geldgeber abspringen, ist es vorbei. Rodewisch und Dresden werden jedoch weiterhin ohne große Sorgen mitmischen können.

 

Seit Jahren hält besonders die Serie der Rückzüge in der Herren-Bundesliga an. Unter ihnen sind Bayern München, der Dresdner SC, Castrop-Rauxel, Magdeburg, Emsdetten, der Lübecker SV und neuerdings eben auch St. Ingbert und die Bremer SG. Mit Baiertal-Schatthausen und Heiligenhaus sind zwei Vereine nach dem Abstieg fast in der Versenkung verschwunden, nachdem Erfolg versprechende Konzepte gescheitert waren. Und jedes Jahr stellt sich die Frage aufs Neue: Wen trifft es als nächsten?

Allein Plauen ist durch Rückzüge anderer viermal in fünf Jahren Bundesligazugehörigkeit gerettet worden. Chessbase witzelte vor Jahresfrist noch: "Plauen unabsteigbar". Wieder hätte es gereicht für die Amateurtruppe aus dem Vogtland, doch die Botschaft der Mitgliederversammlung war deutlich: Nicht noch ein Jahr Prügel! Jetzt ist der Abstieg, der nun mehr zu einem Verzicht mutiert, beschlossen – endlich, möchte man meinen, und keinen Moment zu spät! Denn wer weiß, wie ein weiteres Jahr Bundesliga-Harakiri den Verein irreparabel hätte schädigen können. Von der psychologischen Wirkung der ständigen Niederlage mal abgesehen, wer hätte überhaupt noch spielen sollen im Oberhaus? Ohne Stars wie Beliavsky, Bönsch, Bischoff, Markowski und Kindermann wäre ein weiterer Start einer Farce gleich gekommen. Die unteren Mannschaften hätten noch mehr bluten müssen, d.h. keine Konstanz, kein Mannschaftsgeist, sportlicher Misserfolg.

 

Was in Plauen bleibt und bleiben muss, ist Lutz Espig! Längst ist er Teil des Vereins geworden mit seiner sympathischen Schnauze und seinem unnachahmlichen Kampfgeist. Was auch bleiben muss, ist die unermüdliche Nachwuchsarbeit. Nur ganz kurz blitzte die scheinbar erfolgreiche Zweigleisigkeit auf, als das 18-jährige Eigengewächs Matthias Hörr beim Bundesligadebüt in Emsdetten mit GMs wie Bischoff und Beliavsky 5,5:2,5 gewann. Zusammen mit Lion Pfeufer kann der Verein so zumindest auf acht Einsätze von eigenen Jugendspielern zurückblicken. Welche Mannschaft kann das noch von sich sagen?

Identität und Sympathie erfährt man in Plauen über selbst erarbeitete sportliche Highlights wie Teilnahme an Deutschen Meisterschaften oder sogar dem Stadtduell König gegen VSC in der Sachsenliga. Dazu braucht es weder Großmeister noch Unsummen an Geld.

Das Ehrenamt gehört dabei zu den größten Tugenden unserer Zeit. Kinder werden von der Straße geholt, Erwachsene aus dem Berufsalltag und Rentner aus der Lustlosigkeit. In jedem Verein, in jeder Sportart sollte deshalb der soziale Aspekt immer weit vor dem des (erkauften) Erfolgs stehen.

 

Ob ausgerechnet Deutschland eine Profiliga braucht, noch dazu die stärkste der Welt, soll hier nicht ausdiskutiert werden. Fakt ist aber, dass der Schachsport in Deutschland durch den finanziellen und sportlichen Hickhack in den Bundesligen entscheidend gefährdet ist. Und wie schon mehrfach angeführt wurde, ist durch die Einkäufe der weltbesten Großmeister der Entwicklung des Schachs in Deutschland auch kein Gefallen getan, denn wievielen Talenten in Lübeck, Köln oder Baden-Baden wird so die Chance (das Erlebnis!) auf einen Einsatz in der höchsten deutschen Spielklasse genommen!?

Im Aufgebot des Dresdner SC in der Frauen-Bundesliga sind mit Elisabeth Pähtz (1985), Tina Mietzner (1984), Evgenija Shmirina (1989!), Ulrike Rößler (1977), Claudia Meissner (1977), Maria Schöne (1987), Petra Morgenstern (1985), Elena Winkelmann (1991!!) und Antonia Schneider (1985) übrigens fast ausschließlich Eigengewächse gemeldet. Mancher Verein sollte sich an dieser Einstellung ein Beispiel nehmen. Warum wird die Schacholympiade 2008 wohl ausgerechnet nach Dresden vergeben werden ...

 

Appendix

Und als käme die Befürchtung einer Prophezeihung gleich, meldet Schach.com heute (3.6.), dass auch der SK Turm Emsdetten seine Frauenmannschaft aus der 1. Bundesliga zurückzieht. Dort heißt es weiter: "Somit droht der Liga Langeweile im Kampf um den Titel: Meister Baden-Oos fehlt potente Konkurrenz, zumal Gerüchte um eine Verstärkung der badischen Kämpferinnen aus dem Kreise des erweiterten Wettbewerbsumfelds die Runde machen. Die Frauen von Chaos Mannheim werden die Liga komplettieren." – Raimo Vollstädt schrieb eine Presseerklärung zum Rückzug seiner Mannschaft.

Entgegen der Erwartungen fügt sich Stuttgart nun als dritter Nachrücker bei den Männern dem Schicksal Masochismus. Vielleicht ist einer der Aufsteiger ja noch schlechter, so dass es endlich mal wieder zu einem Erfolgserlebnis reicht.

Im Forum des Deutschen Schachbundes wurde inzwischen auch eine Diskussion zum Thema gestartet.

Till Schelz-Brandenburg und Christian Zickelbein veröffentlichten beim Portal Schachbundesliga.de ebenfalls aufschlussreiche Beiträge.

 

 

Christian Hörr, 02.06.2004
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letzte Änderung: 05.12.2022