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REZENSION
29. August 2002


der blaue reiter

Helge Schneider, der in ganz Deutschland durch Lieder wie "Katzeclo" und Filme wie "Texas" bekannt geworden ist, taucht neuerdings auch in der Philosophie auf. Zum Glück - meint der Autor - tut er das nicht als Autor. "Das Ereignis seines Namens" wird Seidel vielmehr "zum Anlass philosophischer Reflexionen" über den Menschen. Über das Leben. Das Sein. Und so weiter.

Seidel philosophiert nicht wie Helge Schneider oder über Helge Schneider - das nimmt vergleichsweise wenig Raum ein -, sondern nach ihm. Hinter Schneider kann man nicht zurück. Aber warum? Was ist geschehen? Darauf gibt es keine Antwort in der Sprache der Bierernsten und Naseweisen. Deren Sprache weiß nichts von Ereignissen, sondern "doubelt" die Wirklichkeit, wie sie gerade scheint. Schneider dagegen fällt als Double durch - und unversehens auf philosophischen Boden: Man kennt die Ironie des Sokrates oder der Romantik, den Kynismus Diogenes' oder Sloterdijks. Nun gibt es auch noch die unfreiwillige Komik Helge Schneiders, die sich an gar nichts mehr halten muss, weil ihr jeder Stilgriff fehlt. Sie ist nicht absurd und nicht "ungewollt" komisch. Sie ist ein Aber-Witz, der auch seinen Autor "offensichtlich überrascht und erheitert". Schneider selbst: "Die meisten Kritiker meinen, ich mache Nonsens. Aber das ist genau das falsche Wort dafür. Wenn ich behaupte, Quatsch zu machen, dann meine ich Spaß, und Spaß bedeutet eben auch Ernst."
Das Ernsthafte dabei: Paradoxien nicht zu verleugnen. Zu verhindern, dass ein "einziger Sinn sich aufdrängt" (Eco). Das Zeichen über das Bezeichnete stolpern lassen. Zwei Dinge mit denselben Worten sagen. Die Parodie mit dem Original verschmelzen. Das geht nicht ganz aus freiem Willen. Der Künstler weiß, "was er machen will. Was ihn aber rettet, ist die Tatsache, dass er nicht weiß, wie ihm das gelingen soll". Erst so, in der Anerkenntnis der Schwäche der Sprache, in der Unvordenklichkeit, im Stümpertum, wird für einen Augenblick "ondo-logisch" freigelegt, was unser Verständnis trägt: "Liebe statt Mülheim". Schneider trägt sich damit auch selbst: Seine Kunst zwischen Harlekin, Valentin und Zappa braucht keine Erklärungen. Aber sie muss "auseinandergeredet" und "gebraucht" werden, um in ihren Stärken erfahrbar zu sein. Seidel entfaltet sie mit Begeisterung - fan-omenologisch eben - und in "Imperativen", die allerdings nichts vorschreiben wollen: als Kyn-Ethik. Was es mit diesem eigenartigen Kynismus auf sich hat, bespricht Seidel in mehreren Durchgängen und in der Absicht, Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft weiterzuspinnen. Das betreibt er eben so ernsthaft wie sprunghaft. Sein Buch ergreift die "Logik des Sinns" in den Wucherungen des alltäglichen Widersinns: Seidel "rhizomatisiert" im Sinne von Deleuze und Guattari. In "vielen Stilen" und nicht ganz so vielen Schriftgrößen passieren den Leser - oder besser: passieren dem Leser - unter anderem eine "entgeisterte Phänomenologie" zwischen Diderot und Hegel, die "Philosophie der kleinen Literatur" von Kafka und Joyce, die "Abdrift" der Ecoschen Zeichenlehre, ein "aphoristisch-dekonstruktiver Teil" eckiger noch als bei Nietzsche, und ganz zuletzt ein "Nachteil": Seidels Dialog mit sich.
Das kenntnisreiche, aufmerksame, bisweilen arg breite, oft lästige und manchmal deftige Buch ist nichts für Anfänger in der Geistesgeschichte, nichts für leichtgläubige, und nichts für flüchtige Schneider-Kenner. Durch die "Schule des Durchbeißens" sollte der Leser wohl gegangen sein - und ahnen, dass die Philosophie im Sterben liegt" (Sloterdijk). Kurz: es ist ein kluges Buch, das man unmöglich empfehlen kann. Es ist ein unkluges Buch, von dem sich nicht abraten lässt. Ist man mit ihm unterwegs zum Ur-Knall oder zu einer prima Philosophie? Wie kann man für ein Buch 72 Mark ausgeben? Soll man stattdessen nicht fein essen gehen? Mit dieser Entscheidung bleibt zuletzt jeder allein. Der Sinn von Büchern ist ohnehin schwer einzusehen. Leichenschauhäuser gibt es, um die Bestattung Scheintoter zu vermeiden - auch das kann man bei Seidel lesen. Doch der "Vagabund" aus Neufünfland (und Oxford) möchte seinen Beitrag noch anders verstanden wissen: als Plädoyer für die ursächliche Absicht beim Philosophieren, die "geglückte Gestaltung des eigenen Lebens bei höchstmöglicher Verträglichkeit für die anderen Leben". Verträglich geht es übrigens auch im Literaturverzeichnis zu: nebeneinander stehen Wilhelm Busch und Albert Camus, Howard Carpendale und Lewis Carroll, Drewermann und Dostojewski. Gegen Ende findet sich gar eine Verpackung von "Tchibo (Hrsg.): Faszination Kaffee". Die zieht nicht nur Seidel den Eduscho-Sprüchen vor. "Was wäre, wenn Du einen Wunsch frei hättest? - Alles soll so bleiben, wie es ist." Darauf einen Schneider! Einen doppelten! Oder Seidel.

Nicolai Kaufmann / Lotte Glüth

Jörg Seidel
Ondologie Fanomenologie Kynethik.
Philosophieren nach Helge Schneider
(Verlag Blaue Eule, Essen 1999)
ISBN 3-89206-955-7
400 Seiten, 40,00 EUR

Das Buch ist bei uns zum Vorzugspreis von EUR 30,00 inkl. Verpackung und Versand erhältlich. Wenn Sie Interesse haben, wenden Sie sich bitte an Webmaster Christian Hörr oder an Jörg Seidel selbst.

 

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