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REZENSION
29. August 2002


Kein Buch über Helge Schneider

Alles zu können und nichts zu müssen, das ist der uralte Menschheitstraum. Ihm dachten Philosophen nach, Revolutionäre versuchten ihn politisch zu verwirklichen, Künstler ihn zu beleben. Und dennoch, die Verlegenheit nichts zu können und alles zu müssen bestimmt die gesellschaftliche Befindlichkeit. Doch da taucht die Inkarnation der Omnipotenz auf, in der Gestalt Helge Schneiders. Keiner glaubt's und einer beweist es.
Jörg Seidel, aus Plauen im Vogtland, nimmt das Ereignis Schneider zum Anlass philosophischer Reflexionen und richtet seine nicht nur wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf den Denker und Künstler Helge Schneider. Für ihn ist der "Nonsensmacher" das Medium der seelischen und geistigen Vitalität schlechthin, das er befragt, um Sinn oder Unsinn des Lebens auf die Schliche zu kommen. Schon der Titel des originellen Werkes "Ondologie Fanomenologie Kynethik" lässt sprachphilosophische Gewandtheit vermuten, ohne die man Schneider, so scheint es, nicht beikommen kann. Mit der Rückendeckung eines Paul Feyerabend, eines Gilles Deleuze, Michel Serres und Michel Foucault fordert der Autor auf 400 Seiten souverän eine lebensfremd gewordene Akademikerphilosophie heraus. Vorbehalte über die Diskurswürdigkeit eines Phänomens entkräftet er mit dem Charme einer jedoch noch immer den philosophischen Termini verpflichteten Sprache: "Es sollte deutlich werden, dass es letztlich nicht einmal um Helge Schneider geht, sondern um die Problematisierung des Marginalen, um die Einsicht, dass die Spuren des Werdens, wenn überhaupt, dann überall wahrnehmbar sind."
Hier wird der Kynstler aus dem Ruhrpott erstmalig als großer Denker gewürdigt. Mit geschickten Annäherungsversuchen rückt Seidel, selbst bekennender Helgeianer, dem theoretisch fast unnahbaren Meister, über eklektische Umwege, auf dem Grenzzaun der Sprache balancierend, diesen selten überschreitend, zur Seite, aber niemals auf die Pelle, "um mit ihm zu denken, um ihm nach- oder nach ihm zu denken". Ohne mit plumpen Interpretationen den Blick auf die nachweislich hohe Kunst des Kynstlers zu verstellen, unterzieht der Autor den als Sprachrohr benutzten Schneider u.a. einer phänomenologischen, anthropologischen, dialektischen, poststrukturalistischen, ontologischen, einer existentialontologischen, einer hermeneutischen und hermetischen Befragung. Absurd? Keineswegs! Eine Hauptintention dieser Mammutaufgabe ist es, sämtliche Großtheorien durchzuspielen und durchzusprechen, um letztlich die Urfrage der Philosophie wieder stellen zu können: die Frage nach dem Wie der "besten, glücklichsten, einfachsten, gottwohlgefälligsten Gestaltung des eigenen Lebens". Kühn schweift er in empirische Erlebniswelten aus, großzügig aus Literatur, Geschichte und Psychologie schöpfend, ohne das Objekt der Begierde aus den Augen zu verlieren. Es bleibt letztlich unklar, ob Schneider das Medium der ihn umrankenden Diskurse darstellt oder diese Mittel sind, den "Quatschmacher" besser zu verstehen. Für eine postmoderne Medienwissenschaft stellt das hier besprochene Werk eine wichtige Hürde dar, welche die Diskussion nicht umgehen kann. Bei aller Ausgelassenheit und Bezugsfreiheit der diskursiven Annäherung ist von einer phänomenologischen Verlegenheit, nämlich der des Einheitsbreies, erstaunlicherweise nichts zu spüren. Die abduktive Gelassenheit mündet stellenweise ein in eine Atmosphäre quasi spiritueller Medialität, die sich erst durch die hohe Kunst der Formulierung entfalten kann, welche das Werk Seidels auszeichnet. Ohne diese sprachliche Instinktsicherheit wäre die Welt um ein Muster streng eklektischen Philosophierens, ja vielleicht sogar um einen genialen Helge Schneider ärmer.
Als Meister der Dekonstruktion spielt Schneider mit den Extremen Alles oder Nichts. Diese Dekonstruktion "versucht dabei alles zu sagen und nichts zu zerstören, sie will alles zerstören - umwerten, wenn man so will - ohne etwas zu sagen, ohne verantwortlich gemacht zu werden". So vermag der Autor ihn ruhigen Gewissens mit den großen Dekonstruktivisten der Literatur und der Philosophie in Beziehung setzen, mit Meister Eckhart, Nietzsche, Kafka, Joyce und Derrida.
Seidels "Buch" (die klassische Idee des Buches wird zugunsten einer labyrinthischen, rhizomatischen Anlage unterminiert, wobei der Verfasser ausdrücklich auf Sukzession und Folgerichtigkeit verzichtet), gliedert sich in sieben, unterschiedliche Denkanstrengungen abverlangende Teile. Zwischen dem "Vorteil", einer Ankündigung was den Leser im vorliegenden Nicht-Buch erwartet und was nicht, und dem "Nachteil", der jegliche ablehnende Vorabkritik mit einem ihr zuvorkommenden Frage-Antwort-Dialog in Schwierigkeiten bringt, bilden der scharfsinnige "onto-ondologische", der "anthropologische Teil" und der "phänomenologisch-polemische Teil" die zentrale Trias. Besonders der "anthropologische Teil" gibt eine bemerkenswerte Symbiose von Intellektualismus und Empfindungstiefe. Hat man sich einmal durch den "onto-ondologischen Teil" hindurchgebissen, so wird man, hier angekommen, von einem witzigen, tiefsinnigen Plauderstrom weitergetragen, der einen, ohne ein moralisches Korrekturruder zu benötigen, leicht und mühelos durch die bizarre Landschaft "Menschheit" führt. Als Vorlage zu dieser Abhandlung diente die "Kritik der zynischen Vernunft" von Peter Sloterdijk. Ohne dieses Buch hätte es die Auseinandersetzung mit Helge Schneider nicht gegeben, bekennt der Autor. Überhaupt versprechen 15 Seiten dünngedrucktes Quellenverzeichnis eine reiche Ausbeute. Was ein nicht vorhandener "ästhetisch-anästhetischer"Teil zu leisten hätte, deutet Seidel nur an, um nach einer Einführungsseite den Leser seiner eigenen Kreativität zu überlassen. Es wird darin die Ästhetik des "Helgeianismus" gegen die Ästhetik des Hegelianismus imaginär verfochten, wie überhaupt Hegel ein unausgesprochener philosophischer Gegner hinter den Kulissen zu sein scheint. Im "aphoristisch-dekonstruktiven Teil" rückt Seidel der Idee des Autorsubjektes zu Leibe, indem er es unterlässt, die Urheber der den Abschnitte füllenden Aphorismen auszuweisen. Unerwartete Bezüge zeigen sich da in der kunterbunten Aneinanderreihung der "Wider-Sprüche", wenn sich, wie Nietzsche schrieb, Dinge ins Gesicht schauen, die sich zuvor nicht begegneten. Die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn sind hier am deutlichsten verwischt.
Trotz des Gelächters während der Achterbahnfahrt der Lektüre kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Stimmung hier im Grunde todernst ist, dass hinter den grellen Gedankenblitzen und Sprachsalti eine gewisse Melancholie das Zepter führt. Schneiders Wort; "zum Lachen anzuregen und ernste Sachen zu sagen" ist auch Seidels Maxime. In bitterem Ton hebt er den Kynikerkünstler ("Kynstler") vom übrigen Rest der zynischen Komikergilde ab.
Schneider, der hochempfindsame Seismograph europäischer Katastrophenkultur weiß, was im Keller der Moderne brodelt und zur Entladung drängt. Im tragikomischen Gestus des Narren reflektiert er den narkotisierenden Charakter des Friede-Freude-Eierkuchenzaubers der Unterhaltungsbranche, worauf Seidel erschöpfend hinweist. Letztlich jedoch plädiert sein Band für ein befreiendes und von jeglichem Zynismus befreites Lachen.

Andreas Schuster in: Freie Presse

Jörg Seidel
Ondologie Fanomenologie Kynethik.
Philosophieren nach Helge Schneider
(Verlag Blaue Eule, Essen 1999)
ISBN 3-89206-955-7
400 Seiten, 40,00 EUR

Das Buch ist bei uns zum Vorzugspreis von EUR 30,00 inkl. Verpackung und Versand erhältlich. Wenn Sie Interesse haben, wenden Sie sich bitte an Webmaster Christian Hörr oder an Jörg Seidel selbst.

 

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