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LITERATUR
31. Dezember 2005

John Brunner: The Squares of the City

Vados, die bestdurchplanteste Stadt der Welt, könnte das Schachspielerparadies sein. An allen Ecken und Enden begegnet man dem Spiel, der Präsident des Landes frönt ihm ebenso wie der letzte Holzschnitzer, Kellner servieren Schachbretter wie edle Desserts, die lokalen Schachmeisterschaften werden vom staatlichen Fernsehen live übertragen und massenweise gesehen, der Landesmeister wird wie ein Volksheld gefeiert, wo er auftritt, kommt die Menge, wie zu einem sportlichen Großereignis, selbst in ihren architektonischen Mustern weist die Stadt Schachbezüge auf. Schach ist unangefochten das Nationalspiel, "the great national institution", Ja, in Vados müsste man leben!

Doch leider existiert diese Stadt nur in einem Buch, einem Science Fiction und ihre politische Realität hält auch mit dem Ideal nicht stand. Sie sollte die Vorzeigestadt eines kleinen lateinamerikanischen Staates sein, sie sollte beweisen, dass Schönheit, Reichtum und soziale Gerechtigkeit zusammengehen können. So zumindest lauteten die guten Absichten des Präsidenten Vados und seines Beraters Mayors. Tatsächlich wurde ein vollkommen durchkomponiertes Kunstwerk innerhalb von zehn Jahren aus dem Urwald gestampft - so klar wie eine Steinitz-Partie und so schön wie ein Rätsel Loyds - und alles schien gut zu gehen. Dass man aber den Australier Hakluyt, einen der führenden Stadtplaner und Verkehrsexperten zu Hilfe rufen muss, deutet schon auf erste Schwierigkeiten hin. In den dunklen Ecken des Traumortes haben sich Problemzonen gebildet, verarmte Bauern wohnen in menschenunwürdigen Slums; ihnen wurde einst die Lebensgrundlage zerstört, als der Stadtbau alle natürlichen Ressourcen verschlang. Hakluyt, der Ich-Erzähler, soll’s nun richten. Ungewollt, aber unaufhaltbar wird er so in die inneren Zwistigkeiten verstrickt; was sich anfangs nur als moralisches Problem zeigt – die Zerstörung des Lebensraums tausender verarmter Menschen – entpuppt sich mehr und mehr als eine politische Frage. Denn Vados ist auch politisch in Weiß und Schwarz geteilt und Hakluyt steht zwischen den Stühlen. Hinter der glänzenden Fassade muss er diktatorische und demagogische Züge wahrnehmen; schließlich wird ihm in einem schmerzhaften Prozess bewusst, dass auch er in den politischen Intrigen eine Rolle spielt. Er entdeckt sich als Bauer im Schachspiel um die Macht. Zu diesem Zeitpunkt mussten einige seiner Bekannten schon ins Gras beißen, denn das Klima spitzt sich immer mehr zu, scheint auf einen Bürgerkrieg hinzulaufen. Aber sind wir nicht alle nur Bauern in einem großen Spiel?

"Look, the man in the subway going to work of a morning has no more real control over his own activities than – well, than a piece on a chessboard" (269).

Doch selbst dabei bleibt der Erkenntnisprozess nicht stehen; was wie eine Metapher klingt, entpuppt sich bald als ganz reales Spiel. Hakluyt ist eine Figur im Spiel um die Macht, eine Figur im erbitterten Schachkampf des Präsidenten gegen seinen politischen Widersacher. Um das Schlimmste zu verhindern, wählen sie diese ritterlich gemeinte, aber zutiefst zynische Form des Kampfes:

"So we agreed, and we took our solemn oath upon it: we would fight out our battle on the squares of the city, serving us for a chessboard, with no man knowing such a game was being played" (303).

Sie können aber die historischen Gesetze damit nicht außer Kraft setzen, im Gegenteil, was kommen muss, kommt umso eher. Das Leben ist einfach zu komplex, um auf eine Schachpartie reduziert zu werden.

"…this attempt to reduce the realities of life to a game of chess would still have failed. … Maybe we’re all nothing but bits of complex machinery responding to stimuli on a totally determinate basis; often it seems to me in my job that we are. But that applies to all of us, and none of us can claim what you called the powers of God to dictate the thoughts and emotions of others” (308f.).

Derartige Sätze wird man nicht oft in literarischen Werken finden, die sich des Schachs bedienen. Da ragt John Brunners Werk deutlich heraus.

Auch in anderer Hinsicht ist es einmalig: Es versucht eine tatsächlich gespielte Partie direkt in Handlung umzusetzen. Unter denjenigen Büchern, die sich soweit ins Schachliche hinauswagten, mag es – wie Brunner glaubt – das beste, das gelungenste sein, aber ist es an sich gelungen? Zwei Gründe sprechen noch immer dagegen.

Zum einen ist, man kann das nicht oft genug wiederholen, das Leben tatsächlich zu kompliziert, um auf eine Partie reduziert werden zu können. Für den Schriftsteller steht damit die schier unlösbare Aufgabe, die doch eher statischen Bewegungen des Schachs in lebensechte Motivationen umzuwandeln.

"But the moves", schreibt der Autor im Nachwort, "are all there, in their correct order and – so far as possible – in precise correspondence with their effect on the original game. That is to say, support of one piece by another on its own side, threatening of one or more pieces by a piece on the other side, indirect threats and the actual taking of pieces, are all as closely represented as possible in the development of the action” (316).

Das unterstreicht nur, wie weit Brunner sein Experiment getrieben hat, mit welchen Ambitionen und wie akkurat er arbeitete. Und trotzdem wirkt es, auch bei einem bewiesenermaßen fähigen Autor, immer noch hölzern.

Zum anderen ist aber auch das Schachspiel zu kompliziert, um in lebendige Beschreibung umgesetzt werden zu können. Allein der Fakt der 32 Figuren (von denen ohnehin nur 16 handlungsrelevant sind), vor allem aber der unzähligen Varianten und Möglichkeiten, sprengt den Rahmen der Literatur. Das lässt sich an jenem Selbstgeständnis am einfachsten nachweisen: "The flow of names was beginning to make me dizzy" (118), bekennt Huklyat und genauso fühlt der Leser, zumal die alle Diaz, Ruiz, Cruz, Cortes, Gonzales oder ähnlich heißen. Man verliert einfach den Überblick und es kann keinem Künstler gelingen, all diesen Figuren wirklich Farbe zu verleihen. Sie sind dann eben wie hölzerne Bauern des Schachspiels, nicht mehr auseinander zu halten.

In gewisser Weise beruht sogar die Zuordnung zum Science Fiction auf einer Verwechslung, denn Brunner leistet mehr, er hat mit "The Squares of the City" eine negative Utopie geschrieben und muss sich nun an Orwell, Samjatin und Huxley messen lassen. Auch wenn er da nicht ganz heranreicht, so wird das Werk in diesem neuen Kontext aufgewertet. Das Schach dient ihm mehr als Matrix denn als Metapher – damit hat er es weiter exponiert als Zweig, Nabokov und viele andere.

Als Partie gibt Brunner Steinitz gegen Tschigorin (Havanna 1892) an, offensichtlich in Unkenntnis, dass es sich um einen Weltmeisterschaftskampf handelte. Vermutlich meint er die 16. Partie:

Steinitz - Chigorin
Havanna, 07.02.1892
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.d3 Lc5 6.c3 b5 7.Lc2 d5 8.De2 0-0 9.Lg5 dxe4 10.dxe4 h6 11.Lh4 Dd6 12.0-0 Sh5 13.Lg3 Lg4 14.b4 Lb6 15.a4 bxa4 16.Sbd2 Df6 17.Lxa4 Se7 18.Dc4 Le6 19.Lxe5 Lxc4 20.Lxf6 Sxf6 21.Sxc4 Sxe4 22.Sxb6
22...cxb6 23.Tfe1 f5 24.Se5 Tfc8 25.c4 Ta7 26.f3 Sf6 27.Lb3 Kf8 28.b5 a5 29.Ted1 Te8 30.c5 bxc5 31.Td6 Tb8 32.Tad1 Taa8 33.b6 a4 34.Lxa4 Kg8 35.Sc6 (Sxc6 36.Lxc6 Se8 37.b7 Ta7 38.Td8) 1-0

Vermutliche Endstellung des Romans nach dem 35. Zug

 

--- Jörg Seidel, 31.12.2005 ---


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