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LITERATUR
9. April 2003

Fischer, Byrne und ewiges Remis
- der neue Roman von Roberto Cotroneo

Anche quella era una storia di specchi e di legami, e di riflessi.

Gli scacchi sono una specie di romanzo dove una persona puņ far credere di essere qualcosa d'altro.

Roberto Cotroneo

 

"Für einen unermesslichen Augenblick, habe ich meinen Namen vergessen. Ich stieg die Stufen hinab, eine nach der anderen, die Stufen der Treppe, wohl wissend, dass ich niemandem etwas zu sagen hatte, und dass ich keinen Ort hatte hinzugehen, und keinen von dem ich zurückkehre" (13).

(Per un attimo immenso ho dimenticato il mio nome. Scendevo i gradini a uno a uno, i gradini delle scale…, sapendo bene che non avevo parole da dire a nessuno, e che non avevo nessun posto dove andare, nessun luogo da cui ripartire.)

Diesen ominösen Augenblick, diesen melancholischen Abstieg, füllt der Ich-Erzähler Luis – obwohl er vorgibt, nichts zu sagen zu haben – mit einem Buch, mit einem fragmentarisch erzählten Leben oder – was das selbe ist und sich nachfolgend erklärt – mit Nichts, er lässt ihn in Tempestad, einem Ort, "den keine geografische Karte verzeichnet", beginnen und enden. Es ist der Ort seiner Kindheit, wo sich die Fragen, auch die Frage, auftun und (keine – aber das ist sie schon) Antwort erhalten. Tempestad [1] kann man nur in der Erinnerung erreichen. Alle seine Einwohner spielen Geige und Schach, alle leben davon, aus einem seltenen Holz nach Zimt duftende Schachfiguren zu fertigen.

"Aber niemand in Tempestad gewann und niemand verlor" (15).

Luis muss diesen Ort frühzeitig verlassen, er tritt ins gewöhnliche Leben ein, wird Violinist mit unentdecktem Talent. Es ist die geheimnisvolle Chiara, die ihn in einem Caféorchester entdeckt und ihn aufnimmt ins auserlesene Quartett, das sich vornimmt, Beethovens "Grande Fuga" [2] – eine nahezu unspielbare Musik – aufzuführen. Vier eigensinnige Charaktere vereinen sich da, jeder spiegelt sich im andern und bleibt doch in seiner autistischen Welt. Nur ein einziges Mal gelingt es ihnen, das Stück zu spielen, ohne Zuhörer, danach zerbricht die Gruppe und Luis flieht mit vielen offenen Fragen auf das Kreuzfahrtschiff "Scirocco". Dort lernt er Donald Byrne kennen. Aber auch Byrne ist ein Getriebener, einer, der die entscheidende Niederlage seines Lebens nicht verwinden kann, die Niederlage gegen Bobby Fischer.

Byrne - Fischer; New York 1956. Spätestens mit dieser Partie, die um die Welt ging, machte sich Fischer einen Namen. Mit seinem letzten Zug 17…Le6 opfert er die Dame (18.Lxb6) zugunsten eines unwiderstehlichen Mattangriffs.

"Bobby Fischer war gerade mal 13 Jahre alt, als er gegen ihn gewann. In einer unbotmäßigen (fuori luogo) Partie, wie Byrne ständig wiederholte. Unbotmäßig, weil Bobby auf unvorhersehbare Art und Weise spielte: Keine Regel hätte das Damenopfer gerechtfertigt. Donald sagte, dass er das Schachspielen seit diesem Tage aufgegeben habe" (28).

Jahre danach zieht sich Byrne auf die "Scirocco” zurück, ohne je wieder Land unter den Füssen zu haben, um immer und immer wieder diese eine schicksalhafte Partie zu spielen, zu durchdenken, über sie zu sprechen oder aber am Computer gegen einen anonymen Gegner mit den Initialen BF zu spielen und stets zu verlieren. Und ohne Unterlass die alte und neue Frage:

"Kann man gewinnen, wenn man eine Figur wie die Dame opfert?"

Dabei gelangt der gealterte Meister bei seinen Selbstzerfleischungen zu seltsamen Gedanken. Schließlich sieht Luis den Meister vorm Spiegel Schach gegen sich selber spielen.

"Der Spiegel verkehrt (capovolge [3]) das Spiel. So wie dieses Schiff die Welt verkehrt" (83).

 

"Wenn du eine Schachpartie im Spiegel beobachtest, dann verstehst du die tiefe Bedeutung dieses Spiels. Alles ist umgekehrt (inverto). Es ist, als ob man die Welt mithilfe einer verkehrten Logik betrachtet. Nein, der Spiegel ist eine Art, mit den Figuren einen Dialog zu führen. Selbst sie wissen es. Selbst sie spiegeln sich” (89).

 

"‚Byrne’, sagte ich zu ihm verwundert, ‚aber Sie spielen doch gegen sich selbst.’
Diesmal drehte er sich um: ‚Nein, ich spiele gegen einen Schatten (ombra). Aber Du, Luis, bist kein guter Beobachter’.
‚Warum?’, fragte ich.
‚Schau genau hin, erscheint Dir das wie die gleiche Partie? Der Springer auf c3 wird im Spiegel dort ein Springer auf f6; verstehst Du, was das heißt?’
‚Er ist verkehrt (capovolto).’
‚Ja’, fügte Byrne hinzu. ‚Nur dass das Schach ein symmetrisches Spiel ist. Die Türme, die Springer und die Läufer haben eine symmetrische Position. Nur die Königin und der König durchbrechen die Symmetrie. Der Springer, den Du jetzt im Spiegel siehst, ist nicht einfach derselbe Springer nur gespiegelt (capovolto), es ist der andere Springer. Wenn ich es Dir in der Schachsprache sagen müsste, dann ist es der Springer auf f, nicht der auf c, verstehst Du? Noch nicht mal die Hand ist dieselbe. Die, die sich im Spiegel bewegt, ist die linke, während ich die Figuren doch mit der rechten verrücke.’
Was bedeutete das? Es bedeutete vor allem, dass Byrne ein gespiegeltes Selbst spielte (giocava un se stesso capovolto): ‚und dass die Spiegel sich im Schach nicht wie zu den anderen Gegenständen verhalten. Sie verleihen ihnen einen Wert (valore). Es ist nicht mehr dieselbe Figur, Luis, es ist eine andere Figur. … Die Figuren erhalten eine andere Bedeutung und wechseln die Identität. Während in allen andern Fällen es den Spiegeln lediglich gelingt, die Position der Gegenstände zu verändern’" (90).

Byrne - Fischer: Schwarz am Zug setzt in 7 Zügen Matt

Vater dieser "bahnbrechenden" Gedanken ist ein gewisser Milo Temesvar, mysteriöser albanischer Schachmeister, in einem unauffindbaren Buch "Über den Gebrauch der Spiegel im Schachspiel".

Später erfährt Luis, dass Byrne einst auf der Suche nach diesem Temesvar war und dass er ihn fand. Wo? In Tempestad natürlich. Und wer ist das? Luis Vater! Und wer ist der namenlose Gegenspieler am Computer? Bobby Fischer oder Temesvar? Am Ende wird es Byrne gelingen, ihm ein einziges Mal ein Remis abzuringen.

"Er sagte nur: "Ein Unentschieden, die Ausgeglichenheit eines Unentschieden … Eine vollkommene Partie’" (233).

Danach verlässt er Schiff und Schach.

 

Für Luis hingegen wird diese Reise eine in die eigene Vergangenheit – er findet in sich Mutter und Vater wieder -, das eigene Innere; der Rückzug wird zur Flucht ins Unergründliche des "Ich". Des eigenen und des der anderen. Seine unaufgelöste Vergangenheit heißt Tempestad, wo alle Schach spielen.

"Nur, dass man die Partien in Tempestad nicht gewann und nicht verlor: man remisierte. Denn die vollkommene Partie, jene, die auf keiner Seite Fehler aufweist, wird Unentschieden" (159).

"…dass der Untergang Tempestads begonnen hätte, wenn die Spieler aufgehört hätten, ihre Schachpartien zu remisieren; wenn der Fortschritt (cammino) begonnen hätte, der sie dazu führen würde, einer gegen den anderen zu gewinnen, Fehler zu machen" (168f.).

"Es war eine Form der Meditation. Die Spieler wussten, dass es die höchste aller Künste war, mit dem anderen in Harmonie zu spielen, ohne Unterbrechungen, ohne ehrgeizige Züge, die dazu geführt hätten den Gegner zu schwächen" (171).

Natürlich macht auch vor Tempestad der Fortschritt nicht halt. Was Luis später vorfinden wird, sind nur noch Ruinen. Irgendwann begann der erste, auf Gewinn zu spielen…

Schließlich wird Luis klar, dass selbst die Kabinen der "Scirocco" wie auf einem Schachbrett angeordnet sind, nur das Feld d1, das der weißen Königin, fehlt. Um es zu finden, muss er tief in den dunklen Bauch des Kreuzers steigen. Von ihr, Maria, der Königin, hört er das entscheidende Wort:

"So wie dieses Leben nichts anderes ist als eine Schachpartie, die niemand gewinnen kann" (298).

Dreihundert Seiten muss der Leser bewältigen um die banale Weisheit zu erfahren, dass das Leben ein Schachspiel ist, das niemand gewinnen kann. Dreihundert ereignisarme Seiten voller Anspielungen, voller rätsel- und orakelhafter Andeutungen, voller sinntriefender Lehr- und Leersätze oder sinnfreier Phantasien.

Cotroneo, vielgelesener und -übersetzter Vertreter der neuen italienischen Literaturavantgarde hat offensichtlich versucht, ein tiefes Buch zu schreiben. Wie viele seiner Generation kann er dabei seine Bildung nicht abschütteln. Sie haben einfach zu viel gelesen, diese Autoren, zu viel Nietzsche und Schopenhauer und Kierkegaard, zu viel "Pessimismus", zu viel Sartre und Camus und Heidegger, zu viel "Existentialismus", vor allem zu viel Freud und Jung und Lacan (und Reuben Fine), zu viel Psychoanalyse und zuviel Kafka und Beckett und Joyce, und zu wenig davon verkraftet. Um die psychologische Tiefe eines Hamsun oder Svevo oder Kafka zu erreichen, ist nicht Wissen, sondern Weisheit gefragt. So erklärt sich das Zuviel an Bedeutungen, Symbolen und Problemen, an "Welt mit verlorenen Menschen" (29), an "Leere" (18), an Flucht, an "Blicken, die den Schmerz nicht verstecken können" (17), an "antiken Träumen", an Heimatlosigkeit und abwärtsführenden Stufen usw., zuviel an geheimnisvollen Aussagen, an Symbolen, an Spiegeln und Spiegelbildern, zu viele "Ich". Tiefe bedeutet dann Schwere und Länge: Langeweile. Leider werden durch den gekünstelten Intellektualismus viele gute Ansätze und Ideen, nicht zuletzt hinsichtlich des Schachs oder der Musik, von Unerträglichkeit verschüttet. Es gehört zu jenem Typus androgyner Bücher, dass man schwerlich sagen kann, ob sie ge- oder misslungen sind, denn ein objektives Kriterium kann es kaum noch geben; es wird durch Geschmack ersetzt. Der eine Leser mag tränengerührt sein Innerstes offenbart sehen, der andere unmutig oder gähnend aber vergeblich darauf warten, dass "endlich was passiert".

 

Mir zumindest wurde einmal mehr die wahre Bedeutung von Nietzsches scharfem Aphorismus bewusst:

Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus.
(Jenseits von Gut und Böse IV, 161)

Cotroneo, Roberto: Per un attimo immenso ho dimenticato il mio nome. Milano 2002. Mondatori. 322 Seiten. € 16.40 http://www.robertocotroneo.com/

 

 

--- Jörg Seidel, 09.04.2003 ---


[1] Tempesta = Sturm; Unwetter, Aufruhr
[2] Fuga im Italienischen bedeutet Fuge und Flucht
[3] im Sinne von: umdrehen, auf den Kopf stellen, umstülpen, umkehren und auch widerspiegeln


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