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LITERATUR
7. März 2006

Peter Dürrfeld: Victor sætter mat.

Aus Dänemark kommt mehr als dünnes Bier, dicke Butter und zweifelhafte Karikaturen. Auch als Schachland hat es sich seit Bent Larssen einen Namen gemacht; es versorgt die erweiterte Weltspitze noch immer mit Spielern. Auf dem Schachbuchmarkt allerdings nimmt sich sein Einfluß bescheiden aus, doch das müsste nicht sein, denn mit "Victor sætter mat" hat Peter Dürrfeld das – wie ich ganz persönlich finde – beste Kinderschachbuch geschrieben, das derzeit erhältlich ist.

Dabei dürfte der Markt halbwegs gesättigt sein – durchaus mit ansprechenden Büchern. War Kolma Maier-Puschis "Schachlehrbuch für Kinder" noch recht oberflächlich und William Lombardys "So lernen Kinder spielend Schach" furztrocken, so haben Bodo Stark ("Schach macht Spaß"), Günter Sobeck ("Heiner und die 64 Felder") und Markus Spindler ("Schachlehrbuch für Kinder") technisch sehr ansprechende Werke verfasst, Meilensteine gesetzt. Selbst die Weltmeister Karpow ("Disney’s Schachbuch") und Kasparow ("Schachmatt. Mein erstes Schachbuch") gaben ihre Namen für entsprechende Titel her, ohne ihre Vorgänger aber erreichen zu können. Alle diese Bücher leiden an der Saftlosigkeit der Materie, sie wollen nicht überzeugen und begeistern, sie wollen lehren und haben daher nur dasjenige Kind zur Zielgruppe, das sich bewusst fürs Schach entschieden hat oder das – wie leider in den meisten Fällen – dafür entschieden wurde. Lediglich Sobeck versucht, das Material durch nette Schüler- und Vereinsgeschichten aufzulockern, die selbstmotivierend wirken sollen, aber dem Buch fehlt trotzdem die ausgleichende Balance. Diese Bücher sind Diagrammbücher, schon fast reine Schachbücher und können beim Anfänger mehr Aversion als Begeisterung auslösen. Sie betrachten das Spiel zumeist aus technischer und also aus Erwachsenensicht, sie sind überdies nur in Begleitung eines kundigen Schachspielers lesbar. Man kann mit ihnen hervorragend in der Übungsgruppe arbeiten.

Andere didaktische Wege ging insbesondere Esme Lammers ("Lang lebe die Königin"), die auf eine narrative Einbindung setzt, um das Interesse zu wecken. Dieser Umweg scheint der kürzere Weg zum Ziel zu sein, er darf nur nicht zu direkt oder zu ausschweifend (Lammers) ausfallen. Und genau das richtige Maß scheint mir Dürrfeld getroffen zu haben. Aber das ist nicht der einzige Vorteil seines Buches.

Erzählt wird die Geschichte Victors, eines ganz normalem Jungen, der nach einem Unfall im Krankenhaus landet. Nichts jedoch ist so schlimm, dass es nicht für etwas gut wäre, belehrt ihn sein blinder Großvater, von dem er ein Schachspiel geschenkt bekommt. Victor kann seine Enttäuschung nicht verbergen, merkt aber bald, dass er hier etwas Besonderes, etwas Magisches in den Händen hält. Der innere Zauber des Spiels wird ihm vom Großvater vermittelt und erhält zusätzliche Nahrung durch seinen Zimmergenossen Tom, einem etwas verwöhnten, streitsüchtigen, besserwisserischen Jungen, der zu allem Überfluss auch noch die falsche Fußballmannschaft unterstützt. Zwischen den beiden entsteht eine Rivalität, die auch auf dem Brett ausgetragen werden wird.

Jeden Tag besucht ihn der Großvater, um Victor das Schachspiel zu lehren: Nicht nur die Figuren und deren Bewegungen, die ersten Eröffnungsregeln, Eröffnungsfallen, die Notation und grundlegenden taktischen und strategischen Elemente, sondern darüber hinaus das Schach als Kulturgut. All das wird unauffällig mit verschiedenen Denkanstößen, Lebensweisheiten, mit Witz und Wortspielereien vermischt, die aus diesem Büchlein mehr als nur eine Anleitung zum Schach machen. Und dass der Großvater blind und alt ist, lässt die Sache noch geheimnisvoller erscheinen. Auch wenn das Schach im Zentrum steht, kommt es doch so nebensächlich daher, als schönste Nebensache, dass dem jugendlichen Leser gar nicht bewusst sein muss, was er gerade lernt. Er wird nicht belehrt, er lernt es im Vorübergehen, spielerisch. Drei tatsächlich gespielte Partien dienen dazu, Spannung und Entspannung sich abwechseln zu lassen. In der ersten Partie fällt Victor noch auf Toms gemeines Narrenmatt herein und auch in der zweiten wird der Pfleger Mikkel durch hinterlistige Schauspielerei Opfer des Schäfermatts (das im Dänischen übrigens "Schustermatt" heißt), in der dritten Partie jedoch traut sich Tom zu viel zu. Die so einfach erscheinende Partie gegen den blinden alten Mann endet nach bösartiger Freude über den Damengewinn im peinlichen Seekadettenmatt. Da begreift Tom, und mit ihm ahnt es der Leser, dass er das schönste Spiel der Welt kennen gelernt hat. Begeisterung heißt das Zauberwort, nicht Können oder Wissen. Die Begeisterung trägt und von nun an bekommt Victor Oberwasser, kann in einer abschließenden Partie den Leidensgefährten höchstselbst schlagen.

Nach und nach lernt er die inneren und äußeren Schönheiten des Schachspiels kennen und vor allem darauf kommt es an. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kinderbüchern, legt Dürrfeld großen Wert darauf, das kulturelle Umfeld des Schachs zu beleuchten, seine Geschichte, seine einzigartigen Charaktere und Typen, seine inhärente Ethik und vor allem seine Fähigkeit ein ganz persönliches Leben über viele Jahrzehnte lang zu bereichern. Victor hat hier kein neues Computerspiel entdeckt, etwas, das ihn nur für ein paar Stunden begeistern kann, sondern ein Lebensspiel, und diesen unglaublichen Gedanken macht Dürrfeld dem Leser einsichtig. Kein Wunder, dass Namen berühmter Spieler wie Zauberworte ausgesprochen werden, kein Wunder, dass es selbst den nationalen Stolz zu erwecken vermag, kein Wunder, dass es einem die ganze Welt eröffnen kann, denn im Schach, wie es dem jungen Victor von seinem weisen alten Großvater beigebracht wird, ist die Fülle seiner grenzenlosen Möglichkeiten erhalten, wird es aus allen Richtungen beleuchtet. Der Leser bekommt mehr als einen Zeitvertreib geschenkt, mehr als eine weitere Unterhaltung. Das alles, ich wiederhole es, ganz einfach und ohne didaktische Aufdringlichkeit.

Alles an diesem Buch ist stimmig und wohl abgewogen, nichts zu viel und nichts zu wenig. Nur weil das so ist, kann das Buch vollständig auf Bilder verzichten. Lediglich die Stellungsdiagramme sind Zug für Zug abgebildet, und sie wirken wie spannende Karikaturen. Selbst für den unerfahrenen Anfänger ist das Buch einwandfrei ohne Brett les- und spielbar. Es braucht nicht den begleitenden Erwachsenen, aber es eignet sich trotzdem hervorragend als Gute-Nacht-Lektüre. Sein Konzept ist so einfach, dass man sich wundern muss, wieso bislang noch niemand darauf gekommen ist.

Nun lässt sich nur hoffen, dass sich ein deutscher Verlag finden wird, es in entsprechender Aufmachung und vielleicht zu einem günstigeren Preis zu übernehmen, denn dieses Kleinod verdient mehr als nur dänische Leser.

Peter Dürrfeld: Victor sætter mat. København 2003. 172 Seiten

 

--- Jörg Seidel, 07.03.2006 ---


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