RUBRIKEN
Home
Polemik/Aktuelles
Literatur
Philosophie/Psycho
Über den Autor
Summaries &
Translations
SK König Plauen
Mehr Philosophie:
seidel.jaiden.de
LITERATUR
22. November 2007

... und noch ein Schachbuch
oder: Die Ware Lüge

"Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit."
Nietzsche

 

Karl Popper, der Philosoph, wurde in jungen Jahren Gegner des Marxismus, als er während einer proletarischen Demonstration Zeuge einer Schießerei wurde [1], bei der die Polizei einen jungen Arbeiter erschoss. Aus diesem Schockerlebnis schloss er gänzlich unphilosophisch auf den doktrinären Charakter der marxistischen Theorie, den nachzuweisen er fortan viel Liebesmühe verschwendete.

Wie Popper gegen den Marxismus kam, so kam Comas Fabregó gegen die klassische Schachtheorie: indem praktische Negativerlebnisse auf theoretische Maximen ungerechtfertigter Weise übertragen werden. Im konkreten Fall zeigt die Partie Spassky-Geller, Sarajevo 1986, die Relativität von Nimzowitschs Diktum auf, man solle in dieser Art Ruy-Lopez-Stellung den Zug Bauer d4-d5 meiden, woraus Comas apodiktisch und popperianisch schließt: "White ended up winning easily. That was enough for me to lose faith in the classics!" Ein starker Grund? Weil es immer auch Gegenbeispiele gegen einen Lehrsatz gibt, sei dieser an sich schon falsch, soll das sagen. Dabei kann es durchaus hilfreich sein anzunehmen, Kindern etwa zu lehren, dass Schwäne weiß sind, auch wenn es eine klitzekleine Anzahl schwarzer Schwäne gibt. Hat man deswegen schon gelogen? …

Vieles stimmt an diesem Buche nicht, noch nicht einmal der Titel, denn was sich im spanischen Original wie "Riskante Lügen im Schach"[2] anhört, wird in der kommerziellen englischen Übersetzung zum zweideutigen und knalligen "Wahre Lügen im Schach". "Nicht stimmen", heißt hier und in zahlreichen anderen Fällen einfach: falsch! Aber noch mehr muss man es im Sinne von "nicht stimmig" begreifen. Was sich der spanische Großmeister mit seinem Erstling vornahm, hält in vielerlei Beziehung einer genaueren Analyse nicht stand. Dabei sind die eigentlichen Analysen wohl noch das Beste, ihre Intention jedoch ist fraglich. Lluìs Comas Fabrego nimmt sich nämlich vor, die Schachliteratur von Oberflächlichkeit, Inkonsistenz und eben Lügen zu befreien. Zumindest im dritten Fall, vergreift er sich dabei im Ton, beginnt zu moralisieren, und da hilft auch alles Bedauern nichts, dass man Tarrasch, Nimzowitsch, Euwe, Botwinnik, Pachmann und andere Giganten der Schachgeschichte als Spieler und Künstler verehrt; wenn man deren vermeintliche Fehler derart kritisiert, dann wird schlechthin Absicht unterstellt. Und was ist der Gewinn bei alledem? Man erfährt, dass Menschen Fehler machen – wer wüsste das nicht besser als jeder Schachspieler?

Kann man denn nicht ewig über Schach palavern, sogar über jede beliebige Partie? Natürlich, denn das Schach ist in seinen Möglichkeiten unendlich! Aber irgendwann muss jede Analyse mal ihr Ende haben und es wird immer Varianten geben, die nicht bis an ihr logisches Ende ausdiskutiert wurden. Wo andere sich vielleicht kurz fassen wollen, dort hakt der giftige Analysator kraft seiner Wassersuppe Fritz und der Strategieweisheit vergangener Jahrzehnte ein und unterstellt Manipulationsversuche, nicht sehen wollend, dass auch seine etwas beliebig wirkenden Versuche – so verdienstvoll sie sein mögen – nicht der Weisheit letzter Schluss sein werden.

Dies alles kommt in ganz unterschiedlicher Qualität. Mal wird bis in die fünfte Dimension (Variante "a324") hineinanalysiert und dann werden nicht minder komplexe Beispiele mit ein paar Strategiehinweisen abgetan; mal werden Partiediagramme nach einem einzigen Doppelzug geboten und ein andermal darf man die wirrsten Stellungen über 25 Züge im Kopf oder eben am eigenen Brett verfolgen etc.

Wenn man schon offene Türen einrennt, dann doch bitte mit Stil! Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Ego – was Ich alles sehe – eine gewisse Rolle gespielt hat. Dementsprechend wirkt auch das Englisch oft gestelzt.

Das soll nicht heißen, die Analysen wären nicht nachdenkenswert, keinesfalls; kein Buch ist so schlecht, dass man nichts daraus lernen könnte. Es gleicht nur ein wenig dem Zwerg auf den Schultern des Riesen, der mit der Gerte nach jenem schlägt, weil er so winzig sei. Besonders im zweiten Teil widmet sich Comas auch mehr den Partien als den Spielern und für Freunde der Königs-Indischen Verteidigung mag Kapitel 5 manche interessante Nebenvariante enthalten.

Insgesamt aber wird man den Eindruck nicht los, ein rein kommerzielles Unternehmen, ein Schachbuch um seiner selbst willen vor sich zu haben, eben noch ein Schachbuch, von einem, der auch mal auf den Tisch hauen und was sagen wollte.

 

PS: Auch über dieses Buch könnte man noch viele Dinge schreiben, aber man muss sich aus objektiven Gründen beschränken. Wird einem das als Oberflächlichkeit angerechnet?

(Lluís Comas Fabregó: True Lies in Chess. Think for yourself. Glasgow 2007)

 

 

--- Jörg Seidel, 22.11.2007 ---


[1] Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung. Hamburg 1994. S. 38ff.
[2] "Mentiras Arriesagdas en Ajedrez" (arriesgado = riskant, gewagt, waghalsig, gefährlich etc.)


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

Impressum
Copyright © 2002 by Christian Hörr
www.koenig-plauen.de