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LITERATUR
7. Januar 2007

Christian Hesse:
Expeditionen in die Schachwelt

Neueste Forschungen bestätigen [1]: je kürzer eine Buchbesprechung, umso öfter wird sie gelesen, umso mehr beeinflusst sie. Im Nachfolgenden wird gegen diese Regel verstoßen; wer aber trotzdem mitreden will, ohne die Analyse zu lesen, der wird wie immer auf http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=6125 schnell bedient und muss auf unserer Seite mit der enigmatischen Formel – Das Beste ist nicht immer gut – vorlieb nehmen.

 

Jemand, der die aktuelle Bücherflut nur selektiv betrachtet, könnte leicht versucht sein, Christian Hesses Buch "Expeditionen in die Schachwelt" zum Buch des Jahres zu küren – des gekommenen oder gegangenen, sei dahingestellt. Man hat sich ganz offensichtlich viel Mühe damit gegeben, das sieht man schon, bevor man die erste Seite gelesen hat. Eilige Besprechungen und Empfehlungen sind schnell zur Hand, sagen leider wenig Substantielles und erreichen nichts anderes, als ein bibliophiles Ereignis in Alltagsbrei zu verwandeln. So ein Buch, kein Allerweltsbuch, will diskutiert und kritisch besprochen werden – nur so kann man Autor, Verlag und Werk gerecht werden.

Ungewöhnlich gewichtig kommt der Band daher, nicht nur im wörtlichen Sinne, mit seinen fast zwei Pfund. Solide gearbeitet, hochwertiges Material, mit einer Empfehlung vom Schachweltmeister höchstpersönlich, mit einem griffigen Motto, das auf breite Masse zielt (Chess is a very sexy game), mit beeindruckender Literaturliste, sogar Personen- und Sachregister und nicht zuletzt mit einem echten Professor als Verfasser, noch dazu für das kryptische Fach Stochastik, die "Kunst des Mutmaßens" – das alles ist im schnelllebigen, oft oberflächlichen Schachmarkt keine Selbstverständlichkeit. Hesse, der seine Bücher augenscheinlich nicht auf Papier schreibt, sondern auf meterhohe Wandtafeln, posiert vor einer solchen – voll geschrieben mit Formeln, Diagrammen, Notationen, Tabellen, als wäre man bei Albert E. zu Hause – jung, dynamisch, lässig, Turnschuhe und doch den Laptop zärtlich im Schoß. Nichts wurde da dem Zufall überlassen, oder doch?

Auch das Inhaltsverzeichnis beeindruckt: 92 Kapitel mit mehr als ansprechenden, durchaus schachuntypischen Überschriften wie: "E = m • c2 im Schach" oder "Quantenlogik im Schach" oder sogar "Ockhams Messer und Schach-Shindogu" und dergleichen mehr, aber auch das klassische "Patt", "Rochaden" und "Stellungsbeurteilung".

Was man vor allem für seine 28,80 Euro bekommt, ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube an fantastischen, genialen, einmaligen, unglaublichen, außergewöhnlichen Partien, Stellungen, Kombinationen und Kompositionen, die fast magischerweise zum Nachspielen, Grübeln, Kontrollieren oder einfach nur zum Genießen, Schmunzeln und manchmal sogar zum lauten Lachen anregen. Vielleicht sind die ausgewählten Beispiele exzentrischer als in vergleichbaren Sammlungen. Das macht das Buch unterhaltsam und angenehm, wichtig wird es dort, wo der Mathematikprofessor mit der Kenntnis seines Faches die Materie durchleuchtet, wo er selber denkt statt zitiert. Allerdings geschieht das seltener, als man erwarten dürfte, und konzentriert sich hauptsächlich um die Anfangskapitel. "Geometrie des Schachbretts", das "Fischerbezwinger-Bezwinger"- Kapitel, das späte dialektische Kapitel, das sind Augenöffner, dort liest man Originelles, dort findet man debattierbare Aussagen (siehe unten). Hesse argumentiert mit sprachlicher Verve und scheut auch nicht davor zurück, die Schachsprache durch Wortschöpfungen zu bereichern: "der blonde Läufer", die "mattoide Stellung", der "Opferflitter" – das klingt gekonnt; "wohltemperierter Echtzeithechtsprung" oder "Finisher-Qualitäten" (wie überhaupt die zahlreichen als "Neuhochdeutsch" bezeichneten Anglizismen oder Halbanglizismen) sind dagegen Geschmackssache. Ein "Stickmatt" als ersticktes Matt will aber nicht recht gefallen; sein Äquivalent wäre das "Strickmatt" oder ein "Häkelmatt" etc.

Fast alle Artikel beginnen mit einer Explikation eines abstrakten Begriffes und werden dann mit Schachbezügen gefüllt – eine gewisse Monotonie nach ein paar Dutzend Abschnitten lässt sich nicht vermeiden; sie sind in der Regel klimaktisch organisiert, wandern also vom beeindruckenden zum beeindruckendsten Beispiel; die Einleitungen wirken mitunter wie ein Alibi, schöne Partien zeigen zu können und der obligatorische, oft moralisierende Schlusssatz nimmt den Leser ans Gängelband. Manche Überschrift erweist sich als Umbenennung längst bekannter Tatsachen: "Drohungen n-ter Ordnung" z. B. ist alter Wein in neuen Schläuchen, denn schließlich handelt es sich um nichts anderes als ein paar Kombinationen. Wäre das alles, an dem man Rumnörgeln könnte, dann müsste man das Werk unbedingt zu den wesentlichen Veröffentlichungen zählen, wie sie nur alle paar Jahre auftauchen.

 

Leider, leider hat es aber auch seine dunklen Seiten, viele davon, sowohl formaler als auch inhaltlicher Art. Dabei hätten beide durch einen guten Lektor leicht eliminiert werden können, einen, der mehr als nur Diagramme und Züge kontrolliert – wie mutmaßlich Christopher Lutz, der sich als Lektor verantwortlich zeichnet.

 

Form:

Bedauerlicherweise wird der Lesegenuss durch Myriaden von Uneinheitlichkeiten getrübt, als hätte Hesse noch nie ein Buch geschrieben. Kaum eine Seite, auf der nicht einer oder mehrere dieser und anderer Layout-Sünden den Lesegenuss beeinträchtigen.

  • Die obligatorischen Eingangszitate reichen vom minimalistischen Einzeiler bis hin zum aus zehn Teilen bestehenden, ganzseitigen, mehrzeiligen Zitatensturm, der anderthalb Seiten frisst. (Der Sinn eines Eingangszitats ist gewöhnlich, den folgenden Abschnitt inhaltlich prägnant zu orchestrieren oder zu paraphrasieren, sie sollten nicht dazu dienen, Belesenheit zu demonstrieren.)
  • Die Eingangszitate sind unterschiedlich zentriert: mal rechtsseitig, mal eher mittig, mal ganzseitig.
  • Die jeweiligen Autoren werden entweder mit oder ohne Angabe des Buchtitels zitiert, zum Teil sogar in einem Abschnitt (189).
  • Hegel z. B. (193) wird mit Ersterscheinungsjahr, vollem Titel, Paragraph, Zusatz, Seitenangabe, Verlag und Erscheinungsjahr zitiert, während man bei Nietzsche (und vielen anderen) nur den Titel für erwähnenswürdig hielt oder aber auch nicht.
  • Einige Autoren werden mit verschiedenen Schreibweisen gebraucht (z. B. Watzlawick, Watzlawik).
  • Dieselben Autoren werden mit oder ohne Vornamen zitiert (z. B. F. Nietzsche und Nietzsche).
  • Der eine ist eines Vornamens würdig, der andere nicht (z. B. W. Heisenberg und Niels Bohr).
  • Dieselben Autoren werden in verschiedenen Sprachen zitiert.
  • Banale Aussagen im Eingangszitat, wie z. B. "Chess is a very sexy game", erhalten nur durch die Bekanntheit und Bedeutung ihres Verfassers Signifikanz; ein nichts sagender Satz von Sally Beauman wird nur noch nichts sagender. Viele Zitate stammen von – das mag an meiner Kulturlosigkeit liegen – weitgehend unbekannten Verfassern, was umso schwerwiegender ist, da die Sentenzen an Banalität oft kaum zu überbieten sind. (Ich kenne jedenfalls die Herren oder Damen oder Vereinigungen oder Computer, Schach- oder Schauspieler, Firmen oder was immer sie sein mögen, diese Entitäten, nicht und möchte zumindest im Literaturverzeichnis über sie aufgeklärt werden: Codespoti, Bose, Fenton, R. K. Sprenger, Gamasutra, G. N. Treysman, Sid Lazarow, Piccoli etc.)
  • "Goethe, auf Englisch"
  • Nach welchem Algorithmus werden englische Zitate übersetzt oder im Original wiedergegeben?
  • Man findet deutsche Zitate aus englischsprachigen Büchern und umgekehrt …
  • … oder deutsche und englische Übersetzungen aus anderen Sprachen (z. B. wird Lao Tze auf S. 329 englisch zitiert, mit Kapitelnummer [obwohl sowohl die Schwarz- als auch die Wilhelm-Übertragung Laotses Intention wesentlich prononcierter herausarbeiten] und nur neun Seiten später mit Kapitelnamen (!) und auf Deutsch).
  • Es finden sich deutschsprachige Titelangaben englischer Titel.
  • Es werden sowohl die im Englischen gebräuchliche Umschrift als auch die Transliteration nach DIN genutzt (z. B. Michail Tal und Mikhail Tal).
  • Spielernamen werden uneinheitlich verwandt (z. B. figuriert Kasparow unter Garri, Garry, G. oder einfach nur Kasparow; Emanuel Lasker unter Emanuel, Em. oder einfach nur Lasker – in der Partie Janowski - Lasker ist gar nicht ersichtlich, ob es sich um Emanuel, Em., Eduard oder Ed. handelt, vermutlich aber um E. Lasker).
  • Zahlenverhältnisse werden als solche oder in Prozent angegeben (z. B. "holte Weiß 52,1 % der Punkte", während auf der selben Seite 245, von 85 Partien 51,5 Punkte geholt wurden)
  • Diagrammverweise finden sich sowohl fett gedruckt, normal gedruckt oder aber vom Text abgesetzt
  • Eine ganze Reihe von im Text erwähnten Quellen finden sich nicht im Literaturverzeichnis …
  • … während umgekehrt eine ganze Reihe von im Literaturverzeichnis aufgenommenen Titeln keinen offensichtlichen Bezug zum Inhalt des Buches haben (z. B. 2x Sloterdijk, 2x E. T. Hall, 1x Blumenberg oder 4x Marquard, obwohl nur eine seiner Wortschöpfungen aus einem seiner Bücher verwendet wurde etc.)
  • Der hintere Vorsatz wurde bedruckt.
  • Angst vor der weißen Fläche: Wenn die Spalten nicht gleich lang sind, wird immer mit irgendwelchen Grafiken aufgefüllt. Das mag bei zärtlichen Konfigurationen aus Schachfiguren noch Geschmackssache sein, aber wenn Escher-Figuren, Leonardozeichnungen, Buddhagestalten, seltsame Rasterbilder, vollkommen verschnörkelte Schachfiguren oder ein verfremdetes Kramnik-Portrait herhalten müssen, überschreitet es wohl diese Grenze.
  • Partienotationen beginnen mit der tatsächlich gespielten Zugnummer oder fangen eben mit 1. an
  • Bei einigen Partien wird "aus Gründen der Vollständigkeit" der Restverlauf geboten, bei den meisten jedoch nicht.
  • Außerdem, aber das nur nebenbei: Vidmar war Slowene, nicht Österreicher, Evelyn Waugh ein Mann und keine Frau, und f4 war f5 (361).
  • Dass Kramnik das Buch vorbehaltlos empfiehlt, bestätigt nur den Verdacht, dass er es gar nicht gelesen hat, lesen konnte, weil er der deutschen Sprache (so weit) gar nicht mächtig ist. Sein Vorwort wiederholt nahezu wörtlich Hesses Äußerungen und klingt daher wie in die Feder diktiert. Auch das hätte man cleverer machen können …

Alles Krümelkackerei? Möglich, aber ich bin davon überzeugt, dass Schach- und Buchkunst im ästhetischen Anspruch – den Christian Hesse so oft und vollkommen zu Recht geltend macht – brothers in arms sind (um es Neuhochdeutsch auszudrücken). Hier schlagen, ganz im Sinne Hegels, den Hesse mit selbiger Aussage auch noch irgendwo zitiert, Quantität in Qualität um. (Leider finde ich die Stelle im Buch nicht mehr, denn Hegel gehört zu den armen Tröpfen, die es weder ins Literaturverzeichnis noch den Autorenindex geschafft haben.)

In der Autoindustrie würde man bei so zahlreichen Sicherheitsmängeln eine Rückrufaktion nicht scheuen – deswegen muss es kein schlechtes Auto sein.

 

Inhalt

Nachfolgend werden einige Beispiele problematischer oder (m. E.) voreiliger Aussagen diskutiert und vorgestellt. Dass sie zur Diskussion anregen, kann nur im Sinne des Verfassers sein, dem es offenbar darum ging, den engen Schachrahmen zu transzendieren, das Schach als Kulturträger und philosophisches Ereignis zu betrachten. Allein das Ansinnen ist mehr als bemerkenswert, es verdient ernst, beim Wort genommen zu werden – am besten wohl in Form von Kritik. Selbstverständlich handelt es sich nicht nur um schachrelevante Themen, vielmehr scheint der Gebrauch philosophischer Konzepte und metaphysischen Vokabulars – im weitesten Sinne – mitunter bedenklich.

 

1. Kapitel "Schmetterlingseffekt":

Hesse zitiert – hier durchaus im Sinne der Botschaft – eingangs die mittlerweile sprichwörtlich gewordene Sentenz/Frage: "Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Wirbelsturm in Texas auslösen?". Kleine Ursachen können, so wird unterstellt, in der Unübersichtlichkeit der Wetterphänomene große Wirkungen zeigen. Hesse ist nicht der erste, der diese fragliche Feststellung auf andere Gebiete überträgt, das Fragezeichen der Sentenz nonchalant ignorierend: "Dieser Effekt tritt nicht nur in der Wetterdynamik, sondern auch beim Gang der Geschichte auf. Als 1914 der Chauffeur des österreichischen Kronprinzen (sic!) falsch abbog, geriet dieser in einen Hinterhalt und wurde ermordet. Nach einer fatalen Kettenreaktion führte dieses Ereignis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges" (41). Und schließlich könne man auch beim Schachspiel den Schmetterlingseffekt antreffen; es folgen Partiebeispiele. Bei diesem Argument ist folgendes zu bedenken: auf der einen Seite wollen derartige Begründungen einen Holismus nachweisen – alles hängt (irgendwie) mit allem zusammen – kommen aber nicht weiter, als einen ausgesprochenen Determinismus beispielhaft anzuführen; auf der anderen Seite soll der Determinismus damit relativiert werden, dass man einer beliebigen Größe, einer Nullgröße, absoluten Wirkungsstatus zuschreibt. Selbst wenn man dem sprichwörtlichen Schmetterling diese hypothetische Macht zuschriebe, so wäre sie doch nie nachweisbar, ergo wissenschaftlich belanglos. Das Schmetterlingsapercu beweist das Gegenteil dessen, was es aussagt. Und was fürs Wetter schon unsinnig ist, kann für die Geschichte noch weniger Bedeutung haben. Die Ermordung des Erzherzogs (habsburgischer Kronprinz war Rudolf, der 1889 Selbstmord beging, wonach die Erbfolge auf Franz Ferdinand überging) führte 1914 eben nicht "in einer fatalen Kettenreaktion" zum Ersten Weltkrieg und erst recht nicht der Fahrfehler eines Chauffeurs; das zu behaupten wäre tatsächlich nichts anderes als – Fatalismus. Solch eine Argumentation könnte unendlich weitergeführt werden, denn hätte der Chauffeur seine Brille aufgehabt … und wäre die nicht am Tag zuvor vom Tisch gefallen und zerbrochen … wäre der Tisch nicht so glatt gewesen … hätte der Schreiner weniger perfekt gearbeitet … ad infinitum. Zum Ersten Weltkrieg wäre es auch ohne Fahrfehler gekommen und sicher auch ohne die Ermordung des Erzherzogs. Es wäre anders gekommen, zu anderen Zeiten und unter leicht veränderten Bedingungen etc., aber die Ursachen der Konfrontation waren eben gesellschaftliche und nicht zufällige. Im Übrigen war das Attentat noch nicht mal Anlass des Krieges, es wurde lediglich als Anlass genommen, es bedurfte eines menschlichen Willens, die historische Determination herzustellen, so wie der "Angriff" auf den Sender Gleiwitz nicht Anlass des Zweiten Weltkrieges war.

Und auch im Schach gibt es keine Schmetterlinge – nur im Bauch, und die können tatsächlich über den Ausgang einer Partie entscheiden. Das Problem des Schmetterlings ist gerade, dass man das Gesetz nie auf ihn zurückführen könnte:

Diagramm S. 42:

Wenn Weiß definitiv nach Kh7 gewinnt, so ist es eben kein Schmetterling, es ist eine Vitalentscheidung. Das alles erinnert an Maos Spatzenschießen, der, ausgerüstet mit einer Primitivdialektik und nachdem er errechnete, wie viele Körner ein Spatz pro Tag frisst, glaubte, die Kornernte steigern zu können, indem er kornfressende Spatzen millionenfach abschießen oder vertreiben ließ. Die Ernte wurde dann von Insekten vernichtet, denen der Futterfeind fehlte.

 

2. Kapitel "Geschichte wiederholt sich":

Professor Hesse schreibt: "Die Zahl der möglichen Schachstellungen übersteigt die Zahl der Atome im Universum um ein Vielfaches. Schachpartien sind deshalb Unikate. Umso erstaunlicher ist es, dass dennoch selbst im Endspiel oder tiefen Mittelspiel Stellungsübereinstimmungen zwischen Partien beobachtet werden" (46).

Erstens sind viele Partien keine Unikate, und zweitens hat die Zahl der möglichen Schachstellungen mit den tatsächlich möglichen (man sollte zwischen Schachstellungen und Figurenkonfigurationen trennen) nichts zu tun, da großteils sinnlos. Wenn nämlich Menschen gegeneinander spielen, dann gelten Humangesetze und keine "universellen"; die Schachregeln sind aber von Menschen eingeführte Regeln. Sieht man das Schach also als menschliche Auseinandersetzung, dann ist es maximal erstaunlich, dass es nur so wenige Stellungsübereinstimmungen gibt. Aber auch das nur zum Teil, weil selbst die größte Datenbank nur einen klitzekleinen Bruchteil aller gespielten Partien enthält; im Buch wird von 200 Millionen derzeit aktiven Schachspielern gesprochen, die jeweils ein paar dutzend Partien pro Jahr … spielen dürften, von Maschinen ganz zu schweigen (die Zahl ist also noch immer sehr gering), wohingegen die größten Sammlungen lediglich acht bis zehn Millionen Partien enthalten. Drittens sind sie nicht deshalb Unikate, nicht aus ihren numerischen Möglichkeiten heraus, sondern weil die kaum quantifizierbaren geistigen Kräfte sich ihrer bedienen. Andernfalls müssten wir alles Materielle, sofern es aus Atomen besteht, zum Unikat küren oder uns wundern, dass aus Mann und Frau wieder Mann und Frau werden …

Geboten werden uns schließlich Eröffnungsfallen, in die man eben immer wieder tappen kann, als wäre das der Beweis der obigen Aussage und nicht deren Widerlegung.

Schachpartien entfalten auch keine Geschichte – sie sind höchstens Teil davon – wohl aber Geschichten. Überschrift und Konzept wären also nur sinnreich, wenn man auf den Kollektivsingular zugunsten des ordinären Plurals verzichtete. Voilà, Entzauberung. Es wiederholt sich nicht die Geschichte, es wiederholen sich (strukturell) nur die sie konstituierenden Geschichten.

 

3. Kapitel "Schach und Psychologie":

Obwohl Robert Hübners gute Gründe, bei der Zugwahl besser nicht von Psychologie zu sprechen, erwähnt werden, bleiben sie doch unbedacht. Tatsächlich betrifft die Psychologie im Schach das Psychische und nicht das Schachliche. Dieser fast banale Sachverhalt scheint seine hundertjährige Zeit in der Dunkelkammer noch immer nicht überstanden zu haben. Psychologie im Schach spielt sich außerschachlich ab; Motivation, Ausdauer, Kreativität, Wille, Konzentration … das sind psychologische Begriffe; dies alles wendet sich an die Persönlichkeit, nicht an die Stellung. Was noch immer als Psychologie im Schach figuriert und noch immer den Buchmarkt beschäftigt (von Benkö und Hochberg, Hartston, Holloway bis Avni und Dunnington, aber nicht Krogius! Der alte Marxist und Leninist – er hat von seinen Lehrmeistern noch das gründliche analytische Arbeiten gelernt – ist weit und breit der einzige, der in der Mainstreamschachpsychologie vom korrekten Psychologiebegriff ausgeht; Fine zwar auch, aber seine Untersuchungen haben nichts mit dem Schach zu tun) gehört in den Bereich des gamesmenship, des Fallenstellens, der Trickserei u.ä. Natürlich kann ich einen Zug wählen, von dem ich annehme, dass er meinem Gegner Schwierigkeiten bereiten wird, aber in der Regel ziele ich damit auf seine technischen Fähigkeiten und nicht mentalen Verhältnisse. Wenn ich z. B. eine Eröffnung wähle, mit der mein Gegner schlechte Erfahrung hat, die ihn meinetwegen an vergangene schmerzhafte Niederlagen erinnert, dann aktualisiere ich, im geglückten Fall, entweder seine technischen Grenzen (etwa mit diesem Stellungstyp zu Rande zu kommen) oder aber an seine Erinnerung. Im zweiten Fall ist das psychologische Element eben in der Erinnerung (als psychische Kategorie, wo sonst?), aber nicht in der Stellung.

 

4. Kapitel "Träume und Traumkombinationen":

"Träume (sind)", steht da geschrieben, "von jedweden Einschränkungen, Begrenzungen und Zwängen befreit" (116). Diese Aussage ist falsch oder zumindest nicht verifizierbar, letztlich zu absolut. Träume oder Trauminhalte mögen (oder mögen auch nicht) freier (Komparativ) von Zwängen sein, aber nicht frei. Zumindest nicht, solange man sich, wie hier geschehen, auf Traumdeutungen (von Aristoteles bis Freud und darüber hinaus) oder Trauminformationen beruft. Die Traumanalyse mit ihren festen Kategorien, Symbolen und Deutungen beruht gerade auf der "Unfreiheit" der Träume, auf der Regelmäßigkeit, Wiederholbarkeit, auf archetypischen oder kulturellen … Gesetzmäßigkeiten. Wären Träume im absoluten Sinne frei, sie wären bedeutungslos.

 

5. Überlastete Begriffe:

"Auto-Aggression":

Weiß ist am Zug, es geschieht 30. Txc3, er schlägt also seinen eigenen Läufer. Dieser einfache "Aussetzer", der psychologisch ganz einfach zu erklären ist (Weiß antizipiert …Lxc3), wird als "Auto-Aggression" vorgestellt. Autoaggressionen sind in der Psychologie aber Verhaltensweisen der absichtlichen Selbstverletzung oder Schmerzzufügung.

 

"Paradox":

Auf Seite 134 werden fünf Studien als "fünf paradoxe Studien" vorgestellt, aber sie sind nicht paradox, im Gegenteil, sie bestechen durch eiserne Logik, die freilich paradox, besser: unmöglich, erscheinen mag.

 

Seite 196: "Ein schlechter Zug ist niemals schön." Tatsächlich?

 

"Postmoderne":

"In der Zeit der frühen Postmoderne im Schach …" lautet ein Satz (186), der den Leser sich wundern lässt, was er wohl bedeuten soll. Später wird von einem "wahrhaft postmodernen Schlagabtausch gesprochen" (308) und schließlich taucht das schwergewichtige, aber doch an dieser Stelle nichts sagende Wort ein drittes Mal auf: "Eine postmoderne Unsterbliche mit romantischem Touch" (390).

 

"Stellungsarchäologie":
Dieses Kapitel widmet sich der Springergabel, hat mit Archäologie also nichts zu tun, so schön die Kombinationen auch sind, die hier ausgegraben wurden. Gemeint ist damit zwar die Suche in der Tiefe, aber doch wohl der Tiefe der Zukunft (Varianten), von mir aus auch im "sequentiell tieferliegenden Stratagem der Springergabel", jedenfalls nicht in den stratigrafischen Zuordnungen der Erdschichten oder der historischen Tiefe, wie es für die "Altertumskunde", auch als "Archäologie" bekannt, definitorisch vorgeschrieben ist. Ein weiteres Beispiel eines gewissen Begriffs- und Titelfetischismus.

 

"Visuelle (Optische) Täuschung":

Bei den gegebenen Beispielen (227 ff.) handelt es sich nicht um optische Täuschungen. Eine optische Täuschung ist an den menschlichen Sinnesapparat gebunden, sie basiert auf einer inkorrekten Beurteilung des retinalen Bildes durch das Gehirn und ist daher für alle Menschen bzw. alle Mitglieder einer bestimmten kulturellen Gruppe gleich geltend und wiederholbar. Sie kann naturphysikalisch (Fata Morgana), sehorganisch (blinder Fleck) oder, wenn man den Begriff sehr weit fast, wunsch- und bedürfnisbedingt sein (Hungerbilder, Pilzsuche). Sie kann künstlich durch so genannte Vexierbilder erzeugt werden, in Abhängigkeit vom kulturellen Hintergrund. Weder basiert Amaurosis scacchistica, die Schachblindheit auf optischer Täuschung noch kann man ein schachliches Übersehen – darum handelt es sich bei den gegebenen Beispielen – darauf zurückführen. Viel mehr dürften Konzentrationsschwächen oder die von Krogius analysierten Abbilder eine Rolle spielen.

 

"Mustererkennung":

… ist nicht gleich Erfahrung und auch nicht "schablonenfreie Schachphantasie". Wenn Petrosjan (240 ff.) scheinbar gegen alle Schachgesetze verstößt, dann beruft er sich auf sein Regelwissen (Erfahrung) bzw. die Fähigkeit, im entscheidenden Moment davon abzuweichen. Das macht das "Genie" aus: die Ausnahme der Regeln kreativ aufzuspüren, "traditionelle Schachprinzipien über Bord werfend" (243). Das umschreibt das Gegenteil der Mustererkennung, denn das Muster ist doch das Wiederkehrende.

 

"Schachdoktrin":

"Doch heute, nach mehr als einem Jahrtausend der Beschäftigung mit dem Spiel in moderner Fassung, ist es eher unwahrscheinlich, dass eine ganz neue Schachdoktrin von ähnlich revolutionärem Charakter entsteht wie etwa die Hypermoderne Schule…" (270). Das mag sein oder nicht, aber mit Zeit ist das nicht zu begründen, sondern nur immanent. Auch die gegenteilige Aussage wäre möglich: Doch heute, nach mehr als einem Jahrtausend der Beschäftigung mit dem Spiel in moderner Fassung, ist es eher wahrscheinlich, dass eine ganz neue Schachdoktrin von ähnlich revolutionärem Charakter entsteht…, nachdem riesige Mengen an Wissen akkumuliert wurden.

 

"Time und Tempo" (sic!): (363)

Schwarz am Zug gewinnt, Weiß am Zug gewinnt aber auch. Daraus schließt Hesse für diese weit fortgeschrittene Partie: "In der Bildstellung ist also der Anzugsvorteil des Weißen konserviert …", will sagen, Weiß ist noch immer einen Halbzug voraus (im Vorteil). Das wäre aber nur der Fall, wenn beide Seiten bis hierher optimal gespielt hätten, da jeder noch so kleine Fehler das relative Ausgangsgleichgewicht (+ 0,5 t für W, - 0,5 t für S) stört, oder wenn beide Seiten die quantitativ gleiche Fehlermenge begangen hätten. In diesen Fällen allerdings müsste nach heutigem Schachwissen die Partie Remis enden. Könnte Weiß nämlich seinen Anzugsvorteil gesetzmäßig, quasi kombinatorisch durchsetzen – was Hesses Äußerung in der Konsequenz behauptet – gäbe es kein Schach mehr. Davor bewahre uns Gott!

 

Zu guter Letzt scheint selbst der Schach-Begriff Hesses uneindeutig. Die "schachliche Unschärferelation" z. B. die im Kapitel "Eine Unbestimmtheitsrelation" behandelt wird, gibt es vermutlich nur im Problemschach, nicht im eigentlichen Schach-Spiel. Wie überhaupt die "Schachwelt" im erweiterten Sinne verstanden werden muss,; nahezu die Hälfte (über den Daumen gepeilt) der angeführten Beispiele stammen aus dem Kunstschach, präsentieren oft "unmögliche" oder zumindest unwahrscheinliche Stellungen; das mag nicht jedermanns Sache sein.

 

An dieser Stelle soll abgebrochen werden. Hesse sieht sich als "Jäger und Sammler" (394). Ich halte ihn quantitativ mehr für einen Sammler als Jäger, finde das Buch aber gerade dort interessant, wo es im Sinne des Titels – Expeditionen sind Forschungsreisen oder Kriegszüge –, der Entdeckungsreise und des Abenteuers, jagt.

Es ist das wohl wichtigste deutschsprachige Schachbuch der letzten Jahre und das beste dazu. Ob es aber gut ist, das muss offen bleiben.

Wen das Schach als Kulturfaktor interessiert, der muss es haben. Es dürfte sich jedoch lohnen, auf eine zweite, wesentlich verbesserte Auflage zu warten.

 

--- Jörg Seidel, 07.01.2007 ---


[1] http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,456457,00.html


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