RUBRIKEN
Home
Polemik/Aktuelles
Literatur
Philosophie/Psycho
Über den Autor
Summaries &
Translations
SK König Plauen
Mehr Philosophie:
seidel.jaiden.de
LITERATUR
14. Juni 2007

Henning Mortensen: Ulveørken

Die Zeit, das ist ein Kind auf dem Thron, beim Brettspiel.

Henning Mortensen

Das ist die Situation: Thisetorp eröffnet mit 1. e4, Ib antwortet mit e5. Es folgen: 2. Sf3 Sf6. Alles ganz normal. Thisetorp schlägt nun Bauer auf e5, wie man das bei der Russischen Verteidigung gewöhnlich macht und Ib will den Läufer ganz selbstverständlich mit d6 vertreiben. Das ist der kritische Moment, den jeder Russisch-Spieler fürchtet oder herbeiwünscht, denn hier können sich die Weichen auf ganz radikale Weise stellen. Weiß könnte ganz seelenruhig seinen Springer nach f3 zurückziehen; die Partie bliebe im Gleichgewicht und Weiß dürfte sogar einen klitzekleinen Vorteil haben, den umzusetzen allerdings nicht einfach werden dürfte. Nicht umsonst gilt die Russische Partie oft als ein vorgezogenes Remisangebot des Schwarzen. Dann gibt es aber die zwei oder drei Prozent an Hasardeuren, die genau das Gegenteil anstreben und das mit der Brechstange: 4. Sxf7!! Einer der wahnwitzigsten und am meisten umstrittenen Eröffnungszüge in Theorie und Praxis.

Diesen Zug wählt der dicke autoritäre Schuldirektor Thisetorp gegen den jungen, 19-jährigen, soeben an der Schule angekommenen Lehrer Ib. Ort: Ulfborg, ein Nest an der Westküste Dänemarks. Zeit: August 1958, morgens 6.42 Uhr. Handlung: Ib verliert, wird sich später revanchieren, Thisetorp mit einem Messer im Rücken die dritte und entscheidende Partie nicht mehr erleben; die Schachfiguren blutgetränkt.

Henning Mortensen hat im dritten Band seiner Trilogie um den jungen Ib Nielsen aus Horsens das berühmt-berüchtigte Cochrane-Gambit in der modernen Literatur etabliert. Und Mortensen ist nicht irgendwer, auch wenn man ihn im "Land der Dichter und der Denker" kaum kennt, im eigentlichen Land der Dichter, in Dänemark, wo es pro Kopf eine deutlich höhere Dichte an erstklassigen Literaten gibt als in Deutschland oder irgendwo sonst, in Dänemark ist Henning Mortensen eine große Nummer, ein Hauptrepräsentant der zeitgenössischen Schreibkunst. Der mit Spannung erwartete soeben erschienene fünfte und letzte Band der neuen Literaturgeschichte des Gyldendalverlages unterstreicht das nachdrücklich [1].

Noch einmal:

1.e4 e5

2. Sf3 Sf6

3. Sxe5 d6

4. Sxf7 !?

Soweit waren wir. Da die Partie sich früh am Morgen, noch vor der ersten Stunde zutrug, bekam Ib, wie geschrieben steht, "seinen eigentlichen Morgenschock. Thisetorp sprang weiter und schlug seinen Bauern auf f7. Nun bedrohte der irre Springer sowohl die Dame als auch den Turm. ‚Springeropfer’, wisperte der Schulleiter, ‚sehen Sie das, Nielsen, ich opfere meinen Springer um Sie zu unterhalten’. Da gab es nur eines zu tun. Ib schlug den Springer mit dem König."

4. …. Kxf7

Alternativen zu diesem Zug gibt es wohl nicht, alles andere verliert. Thisetorp allerdings wählte die Variante durchaus nicht, um den Neuling am Institut zu unterhalten, ganz im Gegenteil, er will ihn zum einen demütigen, ihm zeigen, wer die Hosen an hat, vor allem aber will er ihm eine pädagogische Lektion erteilen. Dabei hängt die Geschichte am seidenen Faden, wie wir sehen werden, die wir die Partie mit modernem Schachverstand betrachten.

5. Lc4+

ist sicher noch eine Möglichkeit, aber es verschießt das Pulver zu schnell, auch wenn Thisetorp sichtlich erregt mit bebenden Lippen demonstrativ sein "Schach" flüsterte. So einen Zug wird man heutzutage meist bei Kindern sehen. Stärker dürften vorbereitende Entwicklungszüge sein. 5. d4, erobert das Zentrum und öffnet entscheidende Angriffslinien oder auch 5. Sc3, das eine weitere Figur ins Spiel bringt. Der Partiezug hingegen erlaubt das starke 5. …d5, womit Schwarz für lange Zeit wohl seinen Materialvorteil behaupten kann. Zugegeben, dieser Zug ist nicht so leicht zu finden, seine Konsequenzen unabsehbar (Weiß kann z.B. sowohl mit dem Läufer als dem Bauern schlagen). Der Reflexzug

5. … Le6

ist sehr gut nachvollziehbar, aber Schwarz hilft Weiß damit, sein erstes Ziel zu verwirklichen: den König in die Mitte des Brettes zu lotsen. Nach

6. Lxe6+

bleibt keine Alternative mehr zu

6. … Kxe6

Nun dürfte sich der Materialvorteil schon fast verflüchtigt haben. Schwarz benötigt mindestens zwei Tempi, wenn er den König wieder in Sicherheit bringen will; hat er aber gute Nerven und belässt ihn in der Brettmitte, so muss er zahlreicher Attacken gewärtig sein, die oftmals absolute Exaktheit verlangen. Thisetorp kann jetzt in aller Ruhe rochieren "und Ib ging in die primitive Falle nach einigen verschwitzten Sekunden und schlug den ungedeckten Bauern auf e4 mit dem Springer."

7. 0-0 Sxe4??

Das ist natürlich ein katastrophaler Fehler, den man kaum noch als Falle bezeichnen kann. Spätestens hier weiß der kundige Leser, dass man es nicht gerade mit Experten zu tun hat. Nichtsdestotrotz behält die Partie ihre Spannung. Mit

8. Te1,

"still und ruhig" ausgeführt, antwortet Thisetorp erneut konventionell "und sah zufrieden aus". Dg4+ hätte wohl noch stärkeren Vorteil erbracht. "Ib fühlte sich fürchterlich unbehaglich, so dumm gewesen zu sein. Er schwitzte noch mehr. Der Sekundenzeiger auf seiner Uhr tickte leise aber unerbittlich." Und erneut gibt der junge Ib seinen Reflexen nach und spielt das offensichtliche

8. … d5,

wo es doch vielleicht angebracht wäre, in ohnehin schon hoffnungsloser Position, sich für den Gegenangriff zu entscheiden, statt die aussichtlose Verteidigung. "Aber es war wohl ohnehin schon die Wahl zwischen Pest und Cholera." Wenn man so will, dann verfügt Schwarz immerhin über die aktiveren Figuren. In der Partie muss

9. d3

nun eigentlich schon die Entscheidung bringen. Dem Springer ist jetzt nicht mehr zu helfen, "das Pferd konnte dort stehen und darauf warten, abgeschlachtet zu werden. Ib zog seinen Läufer f8 nach c5, um unbekümmert und aggressiv zu wirken." Nun, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, findet er endlich einen guten Zug.

9. … Lc5

mit der freilich vergeblichen Hoffnung eines Einschlages auf f2. Wenn Weiß den Springer mit dem Bauern nimmt, kann ihm eigentlich nichts mehr passieren. Aber, wie schon angedeutet, war es mit seinen Schachkünsten gar nicht so weit her und außerdem wollte er die Partie nutzen, dem jungen Nielsen eine Lektion zu erteilen. Die Kombination aus beidem ist im Schach der ideale Nährboden für die Blamage. "Inzwischen nämlich demonstrierte Weiß seine Überlegenheit gerade damit, dass er den Springer nicht nahm, sondern seinen Bauern einen weiteren Schritt vorwärts machte und nun den schwarzen Läufer bedrohte."

10. d4??

Ungewollt erteilt Thisetorp uns eine Lektion, die besagt, dass es auch im Schach oft besser ist, den Spatz in der Hand zu nehmen und nicht die Taube auf dem Dach zu wollen, vor allem dann, wenn sich der Spatz als Taube erweist. Wer zu viel will und den derzeitigen aber offensichtlichen Vorteil für einen zu vermeintlich größeren in der Zukunft eintauscht, kann für seine Gier betraft werden. Die Partie jedenfalls droht hier zu kippen.

Hätte Ib etwas nachgedacht, ihm wäre vielleicht der vorteilbringende Zug 10. … Ld6! aufgefallen, gefolgt von 11. … Dh4 mit zahlreichen taktischen Einschlagsmöglichkeiten, aber impulsiv, wie wir ihn bereits kennen, entscheidet er sich für

10. … Lc4, wieder für das Offensichtliche aber eben nur Zweitbeste.

11. c3

scheint logisch. Läufer d6 wäre für Schwarz nun noch immer gültig gewesen. Mit

11. … Ld7??,

das der Erzähler offensichtlich für erzwungen hielt ("Ib musste mit seinem Läufer zurück nach e7."), besiegelt er nun endgültig sein Schicksal. "Diese ersten elf Züge der Partie sind eine wahre Katastrophe gewesen, aber nun folgten acht Züge Demütigung. Weiß zog den f-Bauern einen Schritt nach vorne, das lahme Pferd anzugreifen, das nie ein mutiger Kriegshengst wurde, wie Thisetorps, sondern nur ein Wallach, kastriert und dünn sabbernd. Ib konnte nur versuchen, seinen anderen Springer mit Sb8-d7 ins Spiel zu bringen, mit der Hoffnung, dass der sich besser schlagen wird als der erste, der nun seinen Todesstoß erhielt, als Thisetorp seinen f-Bauern auf e4 schlagen ließ. Es blieb beim Traum, denn Weiß zog Dd1-b3, und Ib führte seinen König in die Todeszone: Ke6-f5. So folgte Weiß’ Te1-f1 und Ib setzte die Selbstmordreise fort: Kf5-g4. Das Matt war kochfertig. Weiß: Db3-d1. Schwarz: Kg4-h4. weiß: Tf1-f4. Schwarz: Kh4-g5. Weiß: Dd1-g4. Schwarz: Kg5-h6. Und Weiß’ triumphierendes Doppelschach und Matt: Tf4-f6! Thisetorp hatte anderthalb Minuten gebraucht, Ibs Zeiger hing Sekunden vor dem Fall." (S. 18-22)

Die Lektion war also geglückt. Der arme Ib hat wohl nie geahnt, welche Wendung er der Partie und damit der gesamten Geschichte hätte geben können. Besagte Partie bildet nicht nur die geglückte Eingangszene des Romans, sie bietet auch eine Rahmenhandlung, ein Leitmotiv, das immer wieder Erwähnung findet. Es kommt, wie gesagt, auch zur Revanchepartie. Diesmal wurde es eine "Abendaffäre" Ib bereitet sich darauf vor, spielte die "Unsterbliche" und die "Immergrüne" durch, sah sich Partien von Tschigorin, Lasker, Aljechin und anderen an (168), erhält zum Glück auch die weißen Steine aber der Hauptgrund dürfte wohl Thisetorps Konzentrationsschwäche gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt nämlich hat er schon Lebensangst. Jemand verfolgt ihn des Nachts, seltsame Laute ertönen, maskierte Gestalten erscheinen. Eine dritte Partie wird es in diesem übervollen Roman nicht geben – auch wenn vom Schach dauernd die Rede ist und manch andere Schachschlacht geschlagen wird –, der von Liebe und Hass handelt, von Leben und Tod, von Mann und Frau, von Leidenschaft und Sex, Kunst und Literatur, von viel, sehr viel Bier und Alkohol, von Dänemark in vergangenen Jahrzehnten und natürlich von der Schule. Mag sein, dass es ein bißchen zu viel ist, was Mortensen in dieses Buch packen wollte, die Verwendung der Schachpartie jedenfalls muss als äußerst gelungen gelten. Am besten aber ist der pädagogische Effekt: "’Neunzehn Züge’, sagte Thisetorp und führte die Hände leicht und lautlos zusammen, ‚Versprechen Sie mir, Nielsen, dass sie eine Lehre aus dieser Partie ziehen.’ - ‚Ja, das war ein Fehler von mir, zu schlagen …’ - ‚Das ist wahr. Und auch im Leben gilt das. Stellen Sie sich nie in die Klassenmitte ohne sich verteidigen zu können, mit dem Schlüsselbund und natürlich am besten mit Ihrer geistigen Überlegenheit.’" Eine zweideutige Anweisung, und ich meine nicht das Schlüsselbund … "Thisetorps Springeropfer" lautet die Kapitelüberschrift, von seinem "bedeutsamen Springeropfer" (52) ist an späterer Stelle die Rede. Mit dem Fehler meint Thisetorp tatsächlich das Schlagen des Springers auf f7!

 

Die Partie:
Thisetorp - Ib Nielsen [C42]
(Henning Mortensen: Ulveørken)

1.e4 e5

2.Sf3 Sf6 leitet die Russische Verteidigung ein, auch als Petrow-Verteidigung bekannt

3.Sxe5 d6

4.Sxf7!? Der Schlüsselzug, der das Cochrane-Gambit begründet und der eigentlich mehr als ein Ausrufezeichen und vielleicht auch mehr als ein Fragezeichen verdient. Dies dürfte das einzige ernstzunehmende Gambit sein, das gleich eine ganze Figur für Entwicklungs- und Zeitvorteile investiert. [4.Sf3 Die Hauptvariante; der Beginn einer komplexen aber meist ruhigen Angelegenheit 4...Sxe4 5.d4 (5.d3) 5...d5 6.Ld3 usw.]

4...Kxf7 der einzige Zug! Auch ein Vorteil des Cochrane: Ablehnen gibt’s nicht.

5.Lc4+ [5.d4!? ist wohl stärker. Behauptet das Zentrum, dient der Figurenentwicklung und der König wartet ohnehin auf das Läuferschach. Ab hier beginnt die komplexe Theorie, denn Schwarz hat nun eine ganze Reihe von möglichen Fortsetzungen. 5...Le7 (5...c5; 5...g6; 5...De8; 5...c6; 5...Le6; 5...Lg4) ]

5...Le6 Spielt weiß wohl eher in die Hände, da es den Königsmarsch erzwingt. [5...d5 von führenden Herstellern empfohlen! Aber ein Zug, den man wissen muss, schwerer am Brett zu finden. 6.exd5 (6.Lxd5+ Sxd5) 6...De8+ 7.Kf1 b5 8.Lb3 Ld6 und der König steht erst mal "sicher"]

6.Lxe6+ Kxe6

7.0–0 konventionell gedacht, aber Weiß muss nichts überstürzen deswegen: 7.d4 als gute Alternative

7...Sxe4?? Kann als "Falle", wie im Roman, eigentlich nicht mehr durchgehen; besser: ein dummer Fehler, Figur und König zum Aufspießen.

8.Te1?! logisch aber nicht das Stärkste [8.Dg4+ nutzt die exponierte Königsstellung noch besser 8...Kf7 9.Dh5+ g6 10.Dd5+ Kg7 11.Dxb7]

8...d5 gut verständlicher Anfängerzug, aber in dieser Situation hilft nur noch Remis anbieten oder Aufgeben oder das alte Motto: Angriff ist die beste Verteidigung! [8...Dh4 und man geht wenigstens mit fliegenden Fahnen unter 9.g3 Dh3 10.Txe4+ Kd7]

9.d3 Lc5 Schießt auf den wunden Punkt f3, wenn auch nur imaginativ.

10.d4?? So kommt es, wenn man jemandem eine "Lehre erteilen" will. [10.dxe4 Tf8 11.exd5+ Kd6 12.Te6+ Kd7 oder besser noch Hand reichen]

10...Lb4 Wieder spielt Ib das Offensichtliche, dabei war hier die große Chance, die verkorkste Partie sogar zu gewinnen. [10...Ld6!! und Weiß weiß plötzlich nicht mehr wo links und rechts sind! Nun fliegt ihm alles um die Ohren... 11.f3 (11.Sd2 Lxh2+ 12.Kxh2 Dh4+ 13.Kg1 Dxf2+ 14.Kh2 Dh4+ 15.Kg1–+; 11.Sc3 Lxh2+ 12.Kxh2 Dh4+ 13.Kg1 Dxf2+ 14.Kh1 Dh4+ 15.Kg1) 11...Dh4 12.g3 Lxg3 13.Te2 Lf2+–+]

11.c3 Le7 [11...Ld6!! siehe oben 12.f3 Dh4 13.g3 Lxg3 14.Te2 Lf2+ 15.Kh1–+]

12.f3 Sd7

13.fxe4 dxe4? [13...Sf6 verzögert freilich nur den Untergang 14.exd5+ (14.e5 Se4 15.Dg4+ Kf7 16.Tf1+ Ke8 17.Dxg7 Tf8) ]

14.Db3+ und

14...Kf5 läuft ins Matt in 5, welches sich Thisetorp nicht entgehen lässt.

15.Tf1+ Kg4

16.Dd1+ Kh4

17.Tf4+ Kg5

18.Dg4+ Kh6

19.Tf6# 1–0

Henning Mortensen: Ulveørken. København 1995

 

--- Jörg Seidel, 14.06.2007 ---


[1] Klaus P. Mortensen, May Schack (Hrsg.): Dansk Litteraturs Historie Bind 5. 1960-2000. Gyldendal København 2007


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

Impressum
Copyright © 2002 by Christian Hörr
www.koenig-plauen.de