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LITERATUR
25. November 2003

Murphy/Cochran: Grandmaster

Ein Schriftstellerehepaar das Murphy und Cochran heißt – schon namentlich so nah am großmeisterlichen Schach – mag vielleicht den schicksalhaften Drang fühlen, ein Buch wie dieses – "Grandmaster" – zu schreiben. Es liest sich, als wäre es von den Geistern der großen Meister inspiriert: der mystischen Meister, der literarischen Meister und der Schachmeister. Das Buch selbst ist ein Meisterwerk!

 

 

Justin Gilead und Zharkov (lies: shark-ow) treffen erstmals als Zehnjährige aufeinander, in einem Prestigeduell der Schachwunderkinder, der eine als Repräsentant des Westens, der andere des Ostens. Sie sind wie gegenpolige Zwillinge, wie intime Ergänzer; all ihr späteres Wirken wird stets auf den anderen gerichtet sein: diesen zu vernichten und mit ihm sich selbst. Beide gehen lange Wege der Vorbereitung für das finale Treffen: Gilead entpuppt sich als Reinkarnation Patanjalis, gefüllt mit dem Geiste Brahmans, und wird nach zehnjähriger Suche indischer Mönche – so wie es tatsächlich mit dem Pantschen-Lama geschieht - aufgefunden und an geheimem und heiligem Ort, in Rashimpur, aufgezogen, um als angebeteter und langersehnter "Träger des blauen Hutes" alles zu lernen, was Menschen lernen können um Übermenschliches zu vollbringen. Zharkov hingegen ist das Ziehkind der antagonistischen Göttin des Dunklen. Beide werden fit gemacht, die Schlacht der Schlachten zu schlagen. Später wird Zharkov gefürchteter Chef von "Nichevo" werden, einem sowjetrussischen Geheimdienst, der in direkter Stalinscher Erbschaft agiert und selbst vom KGB gefürchtet wird, während Gilead sich in den Dienst des CIA stellt, Nichevo zu bekämpfen. Wo immer er auf den Schachturnierplätzen der Welt auftaucht, erreicht er nicht nur hervorragende Resultate, sondern dort sterben auf geheimnisvolle Weise auch russische Agenten. Man nennt ihn nur respektvoll den "Großmeister". Die Schauplätze dieser historischen Schlachten, die keine offizielle Geschichtsschreibung kennt, sind Tibet, Polen, Moskau, Berlin und Havanna…. Auf und ab wütet der Kampf, beide Seiten müssen herbe Niederlagen einstecken, Rashimpur wird zerstört und mit ihm die väterlichen Mönche, Menschen, mit denen Gilead in Kontakt kommt, sterben reihenweise, ja er selbst muss zweimal zu Grunde gehen und wiederauferstehen.

Schließlich kommt es auf Kuba zum großen Showdown; in einem denkwürdigen Schachturnier laufen alle Handlungsfäden zusammen, Castro soll ermordet werden und der sowjetische Weltmeister in den Westen fliehen.

 

Hier, wo wir uns auf die Schachgeister zu konzentrieren haben, muss auf detaillierte Analysen von Inhalt und Struktur verzichtet werden, dafür ist der Roman zu prall. Dieses unglaublich lebhafte und jederzeit spannende Buch stellt ein Patchwork aus Spionageroman, Politthriller und Krimi dar, aus fernöstlicher Spiritualität und New-Age-Weisheit und auch aus Märchen und Mythos. Es ist lehrreich, gewitzt komponiert, schnell geschrieben, es verrät in jeder Zeile seine professionellen Schöpfer, kurz: es ist hochkomplex, auch wenn der Grundkonflikt von allereinfachster Dualität gekennzeichnet ist, besser gesagt einer Mixtur aus Einfachheit und Komplexität, wie man sie vielleicht nirgendwo besser versinnbildlicht sehen kann, als im Schach.

Das soll nun nicht heißen, das Kalte-Kriegs-Vokabular wirke nicht befremdlich und zu vereinfachend, besonders für den heutigen Leser, auch nicht, dass vieles zu übertrieben oder einfach sinnfreie Phantasterei ist, vielleicht ist der gesamte Plot des Buches Unsinn, aber man kann das mit den modernen Eßgewohnheiten vergleichen: Wir schlucken täglich Müll, wenn es nur schmeckt und gut verpackt ist. Das ist das Wirkungsgeheimnis dieses Buches.

Innerhalb der Schachliteratur gebührt dem Werk ein Ehrenplatz, weil es wie kaum ein anderes, auch nicht unter den Klassikern, Weisheit und innere Spannung des Spiels zu vereinen weiß. Das reicht von Gileads – "I am the game" – und Zharkovs – "Nichevo is chess" – Identifikation, über den berüchtigten "flow" – "an inexplicable release in the mind of the player, when the game seemed to work itself automatically, without conscious thought" -, oder einfallsreich beschriebenen Auseinandersetzungen am Brett, die sich wie ein perfekter Krimi lesen (sie sind schließlich nichts anderes) und spannungsgeladene Turnierdramatik, bis hin zu vielen Detailweisheiten über das Spiel. Wer bei dieser Lektüre nicht Lust bekommt Schach zu spielen oder es zu erlernen, der kann nicht mehr in unser großes Geheimnis eingeweiht werden. So gesehen stellt "Grandmaster" die intensivste Schachwerbung dar, die man sich denken kann und wiegt hinsichtlich der Motivationsleistung problemlos Dutzende von Lehrbüchern auf.

 

Doch darüber hinaus geht noch, dass das Schach nicht wie in den allermeisten literarischen Fällen als Mittel zum Zweck missbraucht wird, sondern als Universalmetapher mit Weltaufklärungspotential dient. Was auf über 400 engbedruckten Seiten geschieht ist Schach. Diese eigentlich unerhörte Überhöhung ist hier glaubhaft gelungen, denn es versinnbildlicht einen Systemkampf, den wir meist als politischen Antagonismus interpretieren: Ost-West, Rot-Schwarz, Schwarz-Weiß. Doch stellt dies nur eine Emanation des ewigen, man könnte sagen des heraklitischen Kampfes dar. Damit erlangt die Überinterpretation neue Plausibilität und wahre metaphysische Tiefe, insofern sich Tiefengewalten gegenüberstehen, die dann zum urdialektischen Erklärungsmodell werden. Metaphysisch meint hier mythisch. Die Schachmetaphorik ist nicht aufgesetzt, sie ist essentiell, wobei es keine Rolle spielt, ob die Geschichte fiktiv oder selbst unsinnig ist. Daher ragt dieser Roman weit aus der Flut der Schachliteratur heraus.

Warren Murphy/Molly Cochran: Grandmaster. London 1984. 428 Seiten
Warren Murphy/Molly Cochran: High Priest (Grandmaster II).

 

 

--- Jörg Seidel, 25.11.2003 ---


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