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LITERATUR
28. Juni 2005

Nossow: Ich war ein schlechter Schüler

Im Kinde steckt die Spielleidenschaft; sie muß befriedigt werden. Man muß ihm nicht nur Zeit zum Spielen geben, sondern sein ganzes Leben mit dem Spiel durchdringen.
Sein ganzes Dasein ist Spiel.

A.S. Makarenko [1]

 

Es lohnt sich, gelegentlich die Bücher der Kindheit zur Hand zu nehmen, jene Werke, die einst einen tiefen Eindruck hinterließen. Sie bleiben für immer präsent, unterschwellig und unauflösbar, oft nur als Gefühl oder gar nur als Erinnerung an ein bestimmtes Gefühl.

Halten die einstigen Erlebnisse noch stand? Kann man noch immer über die Streiche eines Ottokar Domma oder Alfons Zitterbacke lachen? Führen die Abenteuer des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers, die Gestalten Alexander Wolkows immer noch in innere Traumreiche? Begreift man bei Günter de Bruyns "Tristan und Isolde" erneut ahnungsvoll – wenn auch nicht mehr zum ersten Mal – was Liebe ist? Bangt man noch mit der Ameise Ferdinand als sie in den Trichter des Ameisenlöwen fällt...? Man kann dabei einiges über sich selbst lernen, denn es stellt sich die Frage, wer sich veränderte: Hat man die Bücher oder sich überschätzt?

Die obige Auswahl ist beliebig und doch typisch, wie mir scheint, für ein Kind, aufgewachsen in der DDR. Eines jener Bücher, wenn auch weit weniger bekannt, kam mir just heute in die Hände: Nikolai Nossow [2]: "Ich war ein schlechter Schüler".

Damals, so entsinne ich mich, mußte ich schallend lachen über die Anstrengungen des Witja Malejew und seines zweifelhaften Freundes Schischkin. Diesen Humor habe ich heute nicht mehr, aber die Schülerprobleme sind auch nicht mehr die meinigen. Trotzdem war die Wiederbegegnung hochinteressant. Sie ließ eine fast vergessene und heutzutage wohl nur noch belächelte Pädagogik wiedererstehen und sie stellte diese auch anhand des Schachspiels dar. Will man den Geist des sowjetischen Schachs wirklich nacherleben, so möchte ich behaupten, dann helfen derartige Erinnerungen weiter als Partiesammlungen oder Erinnerungen Botwinniks oder Karpows. In ihnen ist das Gefühl ganzer Jugendgenerationen kondensiert. Um ihm nahe zu kommen, muß man solches aber ernst nehmen können:

"Und dann war endlich der Tag da, auf den wir alle so sehnlich gewartet haben – der siebente Oktober, das Fest der Großen Oktoberrevolution. … An allen Häusern prangten rote Fahnen und große Bilder von Lenin und Stalin; und von all dem wurde mir so froh ums Herz, als ob es auf einmal wieder Frühling geworden wäre. Am Feiertag ist immer eine solche Unmenge Freude in einem, dass die ganze Welt hell und schön scheint wie nie. Alles Gute und Liebe im Leben fällt einem wieder ein, und man denkt sich die herrlichsten Dinge aus. Ich möchte dann recht schnell groß und stark werden und verschiedene Heldentaten begehen, zum Beispiel mir einen Weg durch die dichte Taiga bahnen, steile Felsen erklimmen, mit dem Flugzeug am blauen Himmel hinsausen, tief in der Erde nach Erz und Kohle graben, Kanäle bauen und Wüsten bewässern, neue Wälder pflanzen, Stachanowarbeiter im Betrieb sein oder fabelhafte neue Maschinen bauen…" (85)

Und ob man es glaubt oder nicht, diese Gefühle waren echt, man sollte sie nicht sofort der Propaganda verdächtigen.

Der junge Witja begegnet dem Leser als Schüler der vierten Klasse. Vor allem Mathematik bereitet ihm Sorgen; wieder hat er in den Ferien die Chance versäumt, das Verpasste nachzuholen. Die ersten Vieren lassen nicht lange auf sich warten und mit ihnen der Ärger zu Hause. Immer und immer wieder nimmt er sich vor, sich zu bessern, aber die Liebe zum Fußballspielen behält doch die Oberhand. So kann das nichts werden. Schließlich tritt ein Mechanismus in Kraft, den wir heute kaum noch verstehen können, den es aber tatsächlich gab, nicht nur in der Theorie, wie sicher jeder im Osten Aufgewachsene bestätigen kann: das Kollektiv. Anfangs prangert die Klasse die beiden Problemschüler an, später, nachdem das nichts ändert, hilft man ihnen aktiv. Die Klasse begreift sich als Individuum, mit einem Ziel und einer Identität, und damit verantwortlich für seine Teile. Ein Gedanke, der heutigen Schülern, die noch nicht einmal des Mitschülers Zensuren wissen, absurd vorkommen muß. Hilfe kann es fast nur noch auf der individuellen Ebene geben und auch diese wird zusehends weniger. Kollektiver Druck und Unterstützung verleihen Witja endlich die Kraft, seine erste Rechenaufgabe selbst zu lösen, eine einfache zwar, noch aus der dritten Klasse, aber er erfährt jenes unbeschreibliche Glücksgefühl, endlich allein diese Hürde gemeistert zu haben. Mit neuem Selbstbewusstsein ausgerüstet, geht es von da an, mit viel Arbeit und Rückschlägen, aufwärts.

 

Auf dem Weg zum Erfolg half ihm auch das Schachspiel. Er lernt es bei Alik Sorokin kennen, dem klassenbesten Rechner, einem begeisterten Schachspieler. Statt Mathe zu machen sitzen sie am Schachbrett, aber das ist nicht so schlimm, denn "Schachspielen fördert die Rechenbegabung", davon ist Alik überzeugt. "Was meinst du, warum bin ich im Rechnen so gut? Bloß weil ich Schach spiele" (69). Natürlich hat Witja keine Chance und verliert schnell hintereinander mehrere Partien, aber Aliks ungestüme Beleidigungen – "Ich will bei einem klugen Menschen gewinnen und nicht bei so einem wie du" – wecken, ohne dass er sich dessen bewusst wird, den Ehrgeiz: "Ich wollte ihm aber unbedingt Revanche geben, und deshalb ging ich von da an jeden Tag zu ihm Rechenaufgaben machen, und wir spielten immer ein paar Stunden miteinander Schach" (71). Nun beginnt er sogar mit der jüngeren Schwester zu üben. "Um wirklich aus dem Effeff Schach spielen zu lernen, trainierte ich zu Hause mit Lika, und wenn Vater daheim war, auch mit ihm. Eines Tages sagte Vater, er müsste irgendwo noch ein Büchlein haben, eine Anleitung für das Schachspiel. Wenn ich gut spielen wollte, dann müsste ich das lesen. …. Zuerst dachte ich, ich verstehe gar nichts, aber dann merkte ich, dass es sehr leicht und verständlich geschrieben war. Dort stand, dass man beim Schach ebenso wie im Kriege möglichst rasch die Initiative ergreifen und seine Figuren vorschieben müsse, um in die Stellungen des Gegners einzudringen und dessen König anzugreifen. In dem Buch war auch beschrieben, wie man die Partie anfängt, wie man den Angriff vorbereitet, sich verteidigt und noch viele andere nützliche Dinge. Ich las das Buch zwei Tage hintereinander, und als ich am dritten zu Alik kam, setzte ich ihn eine Partie nach der anderen matt. Alik war einfach baff und konnte nicht begreifen, was mit mir los war. Die Lage hatte sich gründlich geändert. Nach ein paar Tagen spielte ich so, dass Alik keine einzige Partie mehr gewann, auch nicht durch Zufall" (72).

Zum ersten Mal lernt Witja, sich dessen durchaus noch nicht bewusst, dass konzentrierte Arbeit Erfolg bringen kann. Da half alles Reden nicht, er mußte es selbst erfahren. Damit aber hat das Schachspiel seine Funktion erfüllt und gegen Alik machte es sowieso keinen Spaß mehr.

- "Nanu", sagte er, "du willst nicht mehr? Du hast doch eine horrende Schachbegabung. Du wirst noch mal ein berühmter Schachmeister werden, wenn du weitermachst" (73). Der tiefere Grund liegt jedoch in der gefährdeten Balance. Der vollkommene Sowjetmensch wird auch kein Schachmeister. Zuviel Schach, das muß selbst Alik später eingestehen (175), lenkt vom Wesentlichen ab und führt nur zur sozialen Isolation (186).

 

Das klingt, aus pädagogischer Sicht, zu schön um wahr zu sein? Zweifelt man an der Echtheit, dann stellt man die gesamte Pädagogik Makarenkos in Frage, die sich in diesem Buch so unübersehbar ausdrückt. Makarenkos noch immer lesenswerte Berichte ("Ein Buch für Eltern") und Romanadaptionen ("Der Weg ins Leben","Flaggen auf den Türmen" u.a.) der Gorki- und Dzierzynksi-Kommunarden klingen nicht weniger utopisch, aber es gibt keinen Grund, an den Erfolgen zu zweifeln, ganz gleich, ob man das politische System, in welches sie integriert wurden, befürwortet oder nicht. Mit einer positiven, nahezu euphorisch verwirklichten und aktiven Kollektivpädagogik, die man dem stalinistischen System nicht zutraut, gelang es tausendfach, aus rauen, verwahrlosten Straßenkindern, ethikbewußte und glücksfähige Menschen zu machen. Makarenkos Grundaxiome waren ein strenges kollektives Arbeitsethos ("Jede Arbeit ist etwas Erfreuliches") und das Primat der Zukunft vor der Vergangenheit. Man fragte den Schüler nie, wer er war, sondern nur was aus ihm werden soll [3]. Dies alles vor dem Hintergrund einer unbezweifelbaren Autorität des Leiters, des "Brigadiers", der selbst zu absoluter Ehrlichkeit verpflichtet wurde [4].

Das Spiel des Kindes wurde als wesentlicher Bestandteil der Entwicklung angesehen: "Wie das Kind beim Spiel ist, so wird es, wenn es größer ist, in vieler Hinsicht auch bei der Arbeit sein. Daher wird der künftige schaffende Mensch vor allem im Spiel erzogen". Das Spiel muß zu diesem Zwecke vom Erzieher einerseits organisiert, andererseits aber auch frei gestattet werden. Es müssten vor allem die eigenen Impulse des Kindes – wie es Witjas Vater mit dem Schach gekonnt machte – aufgegriffen werden, statt zu orientieren. Dabei ist besonders darauf zu achten, "dass das Spiel nicht zum einzigen Streben des Kindes wird und es nicht völlig von gesellschaftlichen Zielen ablenkt" [5]. In diesem Sinne lässt Witja das Schachspiel wieder fahren, nachdem es ihm die wesentliche Lektion gelehrt hat, es wird ihn von nun an als Spiel weiter begleiten, aber nie eine dominante Stellung einnehmen. Das Schachspiel eignet sich vor allem, weil "ein Spiel ohne Anstrengung, ein Spiel ohne aktive Betätigung, immer ein schlechtes Spiel ist" [6]. Umgekehrt muß das Interesse am jeweiligen Spiel aktiv sein, darf nicht zum reinen Zuschauerinteresse verkommen. "Wenn eine große Leidenschaft Ihren Sohn zu allen Fußballspielen treibt, wenn er alle Rekorde und die Namen aller Rekordhalter kennt, selbst aber an keinem Sportzirkel teilnimmt, … so ist der Nutzen eines solchen Sportinteresses gering, ja es ist oft geradezu schädlich. Ebenso wenig Sinn hat ein Interesse am Schachspiel, wenn ihr Kind nicht selbst spielt" [7].
Unter diesen Prämissen wurde das Schachspiel auch in den Kommunen Makarenkos gespielt, wenngleich das Primat doch auf Bewegungs- und Militärspielen lag. Makarenko selbst spielte es mit seinen Kommunarden und Erziehern [8]. Ansonsten gehörte es zum festen Bestand der sozialen und entspannenden Tätigkeiten [9], das Makarenko mitunter als rein erzieherisches Mittel nutzt [10]. In der späteren Dzierzynski-Kommune gab es einen dafür eingerichteten Klub. "Der Klub hieß ‚Stiller’ Klub, weil dort nicht laut gesprochen werden darf. Hier kann man lesen oder Schach, Dame, Domino und andere Tischspiele spielen" [11]. Selbst interne Schachmeisterschaften fanden statt [12].

A.S. Makarenko

 

 

--- Jörg Seidel, 28.06.2005 ---


[1] A.S. Makarenko: Einige Schlussfolgerungen aus der pädagogischen Erfahrung. In: Werke Band 5. S. 282
[2] Der Autor dürfte vor allem durch den Kinderbuchklassiker "Nimmerklug im Knirpsenland" bekannt sein, ein Buch, das im Osten in fast jedem Kindergarten vorgelesen worden sein dürfte. Erst kürzlich nannte Alexander Grischuk einen Titel Nossows als sein Lieblingsbuch: "The book that excited me most was Neznayka na Luna by N. Nosov, which I have read more than 10 times in my childhood" (NIC 2005/4. S. 98)
[3] Flaggen auf den Türmen. In: Werke Band 3. S. 54 und 502
[4] Flaggen auf den Türmen. In: Werke Band 3 S. 85ff.
[5] Vorträge über Kindererziehung. In: Werke Band 4 . S. 397ff.
[6] Vorträge über Kindererziehung. In: Werke Band 4 . S. 399
[7] Vorträge über Kindererziehung. In: Werke Band 4 . S. 447
[8] Ein pädagogisches Poem. In: Werke Band 1. S. 136
[9] Flaggen auf den Türmen. In: Werke Band 3. S. 121
[10] Der Marsch des Jahres dreißig. In: Werke Band 2. S. 92
[11] Der Marsch des Jahres dreißig. In: Werke Band 2. S. 18 vgl. S. 484
[12] Der Marsch des Jahres dreißig. In: Werke Band 2. S. 107


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