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LITERATUR
9. Februar 2005

Arturo Pérez-Reverte: La tabla de Flandes

DassArturo Pérez-Reverte in seiner Heimat, in Spanien, ein Autor von unglaublicher Popularität ist, läßt sich am repräsentativsten Ort des Landes, im "El Corte Inglés" leicht nachprüfen: meterlange Regale, dicht gestapelt, viele seiner Werke in verschiedenen Editionen, vom Prachtband bis zum Taschenbuch. Kein Cervantes, kein Borges, kein Unamuno oder Garcia Márquez kann da mithalten. Die Leute wollen Krimis, Detektivgeschichten, wollen Abenteuer und Historienschwarten und Pérez-Reverte befriedigt dieses Bedürfnis. Er kann das nur, so zahlreich und über viele Jahre, weil seine Bücher flüssig geschrieben sind und zudem über ein gesundes Maß an Tiefgang und Hintergrund verfügen. Nicht umsonst wird er immer wieder mit Umberto Eco verglichen. Müßte man aber sein typischstes Werk benennen, eines, das alle Stärken und Schwächen des Autors vereint, dann fiele unweigerlich der Titel seines wohl bekanntesten Bestsellers: "La tabla de Flandes".

 

Julia, die schöne Heldin der Geschichte, ist eine angesehene Restaurateurin. Sie arbeitet an der Erneuerung eines alten Gemäldes, "La partida de ajedrez", "Die Schachpartie", des flämischem Meisters Pieter van Huys, auf dem zwei adlige Herren, in eine Partie vertieft, zu sehen sind, im Hintergrund eine schwarz gekleidete Dame.

Dieses Gemälde erscheint in der überaus schlechten Verfilmung des Buches

Das Bild enthält ein Geheimnis, einen übermalten Schriftzug, den erst eine Röntgenaufnahme aus 500-jähriger Vergessenheit reißt: QUIS NECAVIT EQUITEM – Wer tötete den Springer (Reiter)? Das weckt gleich ein mehrfaches Interesse, ein historisches, ein kriminalistisches – nachdem klar wird, dasseiner der beiden Spieler seinerzeit tatsächlich ermordet wurde, zudem ein Freund des Malers war –, ein ästhetisches und nicht zuletzt ein ökonomisches, denn ein solches Geheimnis, eine dunkle Geschichte, kann den Wert des Bildes auf dem Auktionsmarkt immens steigern. Man beginnt also die abgebildeten Personen unter die geschichtswissenschaftliche Lupe zu nehmen. Streit und Zwist, Eifersucht und Affären, politische Intrigen und Machtgeklüngel werden bald sichtbar und nicht nur auf der Bild-, sondern auch auf der Betrachterebene. Interessenkonflikte entstehen. Schließlich wird der Schlüssel zum Problem immer mehr als internes Schachproblem ausgemacht. Man wendet sich der abgebildeten, hochkomplexen, studienartigen Stellung zu,

man konsultiert einen begnadeten Schachspieler, der in die Welt der Kunsthändler, -historiker und -liebhaber eine neue menschliche Seite einbringt und der auch mal über die Vor- und Nachteile von Karo Cann oder Königsindisch was zu sagen hat. Muñoz ist genial, aber anders; da ist es wieder, das so häufig kolportierte Schachspielerklischee:

"...daba la impresión de no ser sino lo que era: un oscuro oficinista, cuya única fuga de la mediocridad era el mundo de combinaciones, problemas y soluciones que el ajedrez podía ofrecerle" (192) [1].

(...er machte den Eindruck, das zu sein, was er war: ein obskurer Büromensch, dessen einzige Fluchtmöglichkeit vor der Mittelmäßigkeit die Welt der Kombinationen, Probleme und Lösungen war, das, was ihm das Schach bieten konnte.)

Aber, das darf man schon vorweg nehmen, es zeichnet dieses Buch aus, dabei nicht stehen zu bleiben. Muñoz jedenfalls agiert von nun an als Sherlock Holmes: kühl, logisch, unbestechlich im Urteil. Wie er in einer seitenlangen Retroanalyse die letzten beiden Züge in dieser waghalsigen Partie rekonstruiert, das ist schlicht und einfach großartig, spannend wie ein Thriller (133-146)!!

Bis dahin hätte man glauben können, die unterschwellige Gefahr der Geschichte läge im Bild selbst begründet und wird sich seines Irrtums erst bewußt, als die Leiche von Julias ehemaligem Geliebten und Kunstprofessor gefunden wird. Damit tritt eine äußere Macht, ein vierter Spieler in die Partie ein, als gäbe es nicht schon genug Rätsel zu lösen. Auch für das Schach bedeutet das eine neue Qualität, das Spiel geht weiter, die Partie läßt sich nicht nur in ihrem Herkommen, sondern auch in ihrem weiteren Verlauf behandeln. Es folgt ein Lesefest für alle Schachliebhaber; ob Unbedarfte dem Geschehen folgen können oder wollen, steht auf einem anderen Blatt. Für jene dürften zumindest die zahlreichen schachpsychologischen Referenzen neu und lesenswert sein. Für uns, die wir von Freud, Fine und Jones, von Königsmord, Penisneid, von Kriegssubstitut (221) oder von all den symbolischen Bedeutungen der Figuren (223), von unterschwelliger Homosexualität im Ringen zweier Männeregos, von Narzissmus und sublimierten Masturbationsphantasien (387), von Aggressionsabfuhr oder der therapeutischen Wirkung (213) des Schachs und all den anderen alten Kamellen oft genug gehört haben, bieten diese Stellen höchstens Wiedersehensfreude, aber was sie und andere Aussagen darüber hinaus leisten, ist die innere Macht, die Faszination des Spiels anzudeuten. Das ist, in derart überzeugender Weise, bislang nur ganz wenigen und nur erstrangigen Künstlern gelungen und diesbezüglich steht Pérez-Reverte nicht weit hinter Zweig, Nabokow und Icchokas zurück. Dabei scheut er auch nicht, in noch immer aktuelle Diskussionen, mitunter sogar mit originellen Beiträgen, einzugreifen, etwa wenn er die alte Streitfrage nach dem Zusammenhang von Stil und Charakter in eine von Idiosynkrasien des Spielers und Charakter umformuliert, was durchaus nicht das gleiche ist. Demnach könne man auf Charaktereigenschaften weniger aus dem jeweiligen Zug als aus dem aktuellen Verhalten am Brett schließen (216). Ansonsten wird fast der ganze Kanon abgespult, vom Frauenschach bis zum Computerschach. Man kann dies als Zuviel bedauern oder aber als Kurzlehrgang in die Problemgeschichte des Schachs bejahen.

Wie dem auch sei, naturgemäß liegt die schriftstellerische Aufmerksamkeit mehr bei der psychologischen Auslotung der Handelnden; sie gelangt in tiefe tiefe Abgründe hinab. Schließlich verstricken sie sich so sehr ins Geschehen, daß die Grenzen zwischen Realität und Spiel verschwimmen und die Welt selbst als Schachspiel erscheint:

"... está jugando una insensata partida de ajedrez... Una partida en la que no sólo yo, sino nosotros, todos nosotros, somos piezas... ¿Es cierto?" (225).

(...er spielt eine wahnsinnige Partie Schach... Eine Partie, in der nicht nur ich, sondern wir, wir alle, Figuren sind... Ist das klar?)

Fast nebenbei entdecken sie die quasi mystische Komponente des Spiels.

"... Julia supo con exactitud perfecta lo que significaba para aquel hombre el pequeño rincón de sesenta y cuatro escaques blancos y negros: el campo de batalla en miniatura donde se desarrollaba el mistero mismo de la vida, del éxito y del fracaso, de las fuerzas terribles y occultas que gobiernan el destino de los hombres" (195, vgl. auch 200, 200 u.a.).

(...Julia verstand sehr genau, was das kleine Feld von 64 schwarzen und weißen Feldern für jenen Mann bedeutete: ein Schlachtfeld in Miniatur, wo sich das Geheimnis des Lebens selbst offenbarte, des Erfolgs und Mißerfolgs, der schrecklichen und verborgenen Kräfte, die das Schicksal des Menschen regieren.)

Das ist, ohne Übertreibung, ein wahres Hohelied auf das Schachspiel und zugleich eine Warnung davor; es strahlt die dauerhafte Faszination des Feuers aus, mit dem man nicht leichtfertig spielen soll.
Wahre Größe erlangt das Buch spätestens, als der überführte Täter mit verächtlicher Geste diesen Schachtraum zerplatzen läßt wie eine Seifenblase und alles ad absurdum führt:

"¿Ajedrez?... Mi queridísimo amigo. Yo me refería a algo más que a un simple tablero. ... Yo me refería a la vida misma, a esos otros sesenta y cuatro escaques de negras noches y de blancos días de los hablaba el poeta... o tal vez sea al revés: de blancas noches y de negros días” (360).

(Schach?...Verkehrtester Freund. Ich bezog mich auf etwas ganz anderes als auf ein simples Schachbrett. Ich bezog mich auf das Leben höchstselbst, auf jene anderen 64 Felder von schwarzen Nächten und weißen Tagen, von denen der Dichter sprach... oder vielleicht auch anders herum: von weißen Nächten und schwarzen Tagen.)

Das stellt die Verhältnisse wieder her, ist eine Art Entzauberung oder Verfremdung, für all jene zumindest, die sich haben gehen lassen. Nicht nur in solchen Momenten zeigen sich wohldurchdachte Philosopheme, an zahlreichen Stellen werden direkt Fragen nach Wahrheit, Wahrnehmung, Realität, Simulation, Urteil etc. thematisiert, ja man kann sogar soweit gehen, eine Art kleine Hemeneutikschule auszumachen. Bild und Schachpartie werden in immer neuen Anläufen vertiefend betrachtet und enthüllen jedesmal neue Elemente. Auch aufs Schach bezogen findet Pérez-Reverte zu einer schlüssigen metaphysischen Formel: Das Problem des modernen Schachs ist das Problem des modernen Lebens.

"Sobre todo, en último término, la humillación de la derrota inmerecida, el premio a quienes nada arriesgan; ésa era la sensación que experimentaba en aquel momento, ante el tablero que no contenía sólo un estúpido juego de posiciones, sino que era el espejo de la vida misma, con carne y sangre, y vida y muerte, y heroísmo y sacrificio" (369).

(Was blieb war am Ende die Erniedrigung einer unverdienten Niederlage. Den Preis gewannen diejenigen, die nichts riskierten. Das war die Empfindung während jenes Momentes am Schachbrett, das nicht nur ein dummes Positionsspiel enthielt, sondern das als Spiegel des Lebens fungierte, von Fleisch und Blut, Leben und Tod, Heldentum und Opfer.)

Als Schriftsteller beweist er ein beneidenswert gutes Empfinden für Geschwindigkeit und Rhythmus; Spannung und Entspannung wechseln gekonnt ab und lassen Langeweile nie aufkommen. Das soll über gewisse Konstruktionsfehler nicht hinwegtäuschen. So ist die Komplexität der Handlung mitunter zu konstruiert, ja sie muß sogar direkt benannt werden um überzeugen zu können (174ff, 225). Das ist selbstredend ein Eingeständnis des Autors mit der Fülle des Stoffs gelegentlich überfordert gewesen zu sein und wahrscheinlich unterscheidet er sich hier am deutlichsten vom Meistererzähler Eco. Ein wirkliches Labyrinth – so lautete Ecos Imperativ für das Genre – will es nicht werden und erst recht kein Rhizom. Erst im Nachhinein merkt man, daß viele Ingredienzen zur Gesamtkomposition nichts beitragen und also entbehrlich scheinen. Die innere Geschichte des Gemäldes verliert sich zunehmend sogar vollends, wirkt abschließend nur ornamental. Zudem ist die Täteridentität aus irgendeinem unerfindlichen Grunde von Anfang an voraussehbar. Gegen diese Hauptschwächen sind die gelegentlichen Verfehlungen im Ton, die zwei, drei überflüssigen Unappetitlichkeiten ebenso vernachlässigenswert wie die kleinen schachlichen Inkorrektheiten (etwas wenn Vera Menchik als sowjetische Spielerin erscheint oder vom Doppelschach gegen König und Dame die Rede ist). Die Datierung des Gemäldes scheint manchmal um 150 Jahre verfehlt zu sein, wenn man sich mutmaßliche künstlerische Vorlagen wie Lucas van Leydens "Schachpartie" oder Jacob van der Heydens Kupferstich aus dem Selenus vergegenwärtigt. Und weshalb Julia ständig rauchen muß, selbst während der Arbeit, bleibt auch ein Rätsel.

Aus seinen Vorbildern macht Pérez-Reverte keinen Hehl: Conan Doyle hat er die detektivische Klarheit und Attitüde zu danken, Agatha Christie den klassischen Aufbau und die Schlußszene, Douglas Hofstätter jede Menge Einfälle und Velázquez wesentliche Bildideen.

 

Das alles schmälert die Leistung des Buches kaum. Diese Art Literatur will nicht den Nobelpreis gewinnen. Man muß die Latte nicht ganz so hoch anlegen. Wenn das Erzählrad auch nicht an allen Stellen richtig ausgewuchtet ist, so dreht es sich doch ohne zu stocken.

"La tabla de Flandes" ist ein sehr lesenswertes, spannendes und informatives Buch, eines, das durchaus höheren literarischen Ansprüchen genügt und das man im engen Feld der Schachliteratur ganz weit oben ansiedeln mus!

 

P.S. Die z.T. herbe Kritik an der deutschen Ausgabe kann ich nicht verstehen, es sei denn – aber diesen Verdacht kann man nicht ungeprüft aussprechen – es liegt an der deutschen Ausgabe. Dann bliebe noch immer das Ausweichen auf die englische Version ("The Flanders Panel". London 1994) von der gefeierten Übersetzerin Jull Costa, die sich nachgewiesenermaßen tatsächlich flüssig liest, weil gekonnt idiomatisch und nicht wortwörtlich übertragen wurde.

Arturo Pérez-Reverte: La tabla de Flandes. Barcelona 2004 (1990). 413 Seiten

 

--- Jörg Seidel, 09.02.2005 ---


[1] alle Übersetzungen sinngemäß von J.S.


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