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LITERATUR
25. August 2007

Jonathan Rowson: Schach für Zebras

Es gibt jede Menge Dinge, die wir über Schach nicht wissen, deshalb sollten wir mit unseren Einschätzungen und Urteilen maßvoll umgehen.

Jonathan Rowson

 

Schach ist mehr als Eröffnungstheorie und Mattangriff, liest man auf Seite 1, und kaum ein zeitgenössischer Autor stellt das besser unter Beweis, als Rowson selbst. Mit "Die sieben Todsünden des Schachspielers" hatte der junge Schotte vor sieben Jahren den Schachbuchmarkt aufgemischt, augenblicklich einen Klassiker verfasst, der schon jetzt zum Kanon zählt. Das Neue und Erfrischende daran war der abstrakte Charakter des Buches, das mehr über Schach nachdachte und erst dann an Schach. Nun erschien das Nachfolgewerk zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung endlich auf Deutsch, in guter Übersetzung und auch wenn es nicht mehr jene Schockwellen auszusenden vermag, so ist es doch unverkennbar dem Erbe des Erstlings geschuldet. Ein Werk also, das versucht, Augen zu öffnen, wie schon der paradoxe Titel verrät. Dies gelingt durch hartnäckiges Selberdenken.

Kurz und gut: Es ist Philosophie. Liest man Rowson, dann könnte man glauben, Schach sei so etwas wie Leben und Tod, Sein und Nichts, Raum und Zeit, einer jener absoluten Begriffe also, über die es nie Klarheit geben wird, die aber immer wieder zu denken, grübeln und spintisieren anregen werden. Er verbindet dies ganz unverblümt mit einer nonkonformistischen und eklektizistischen Herangehensweise und vergisst auch die gesellschaftlichen Dimensionen nicht. Wem das zu abgehoben ist, der muss sich nicht entmutigt fühlen, denn diesmal legte der dreifache britische Meister großen Wert auf die Spielpraxis. Man muss also nicht auf außergewöhnliche Partien, noch nicht mal auf diverse eröffnungstheoretische Gedanken verzichten, ganz im Gegenteil, sie werden durch tiefgründige Analysen (mehr psychologisch als variantenanalytisch) nur noch attraktiver. Vielleicht besser noch als Nunn, Kotow, Pfleger u. a. gelingt es ihm, die gedankliche und emotionale Innenwelt des Großmeisters verständlich zu machen, was freilich auch zu einer gewissen Desillusionierung führen kann, denn man begreift mehr als einmal – sofern man nicht selbst zwei fünf im Nahschach vorweisen kann – wie uneinholbar weit dieses Denken von dem des Otto-Normalspielers entfernt ist. Man muss darüber aber nicht verzweifeln, man kann es nämlich auch genießen wie das unerreichte Spiel eines Virtuosen.

Sollte man aber die Lehre der Zebras in einen Satz fassen, dann wäre es wohl dieser scheinbar banale: Alles ist relativ! Ihn mit Inhalt zu füllen kann nur die kritisch-aufmerksame Lektüre leisten, wobei es hilfreich sein dürfte, sich erst mit dem Inhalt der "Sieben Todsünden" vertraut zu machen. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass Rowsons Herangehensweise im theoretischen Teil vornehmlich philosophisch und psychologisch ist, was dem "gemeinen Schachspieler" hinderlich sein könnte. Aber die Anstrengung lohnt, und selbst wenn man mit Rowsons streitbaren Ansichten nicht einverstanden ist, so bekommt man noch immer die beste Einführung in die Gedankenwelt anderer und schweigsamerer Querdenker: Hübner, Hodgson, Jussupow, Suba, um nur einige zu nennen.

Methodologisch nutzt der Schachphilosoph einen in der Zunft altbewährten Trick: Er gibt den alten Phänomenen neue Namen, verändert dadurch die Blickwinkel und – voilà! – neue Ein- und Ansichten entstehen, räumt er auf mit ideologielastigen Sophismen. Dieses Rezept verfehlt nie, erträgt sogar gelegentliche Geschwätzigkeit. Die ordinäre Schachpartie wird plötzlich zur Erzählung, zum Mythos, in ihr walten Psycho-Logik, Tun, Sein und Potenz, die alten Begriffe von Raum, Zeit, Material, Anzugsvorteil etc. werden perspektiviert, verlieren und gewinnen zugleich. Aus allem spricht eine große nicht-professionalisierte Liebe; Rowson scheint Schach zu atmen, zu essen, zu schlafen und wer weiß was noch, ohne sich in das 64-gittrige Gefängnis zu begeben.

Man könnte – Heidegger paraphrasierend – behaupten, dass das Schach (wie die Wissenschaft) und in gewisser Weise auch der Schachspieler nicht denkt, weil er das Sein und Wesen seiner selbst just im Spiel aber auch in der Theorie (Eröffnung, Mittelspiel, Endspiel), in der Strategie und Taktik etc. fundamental vernachlässigt und ausblendet, aber auch weil das Schach sich nicht in der Dimension der Philosophie bewegt auf die es aber letztendlich angewiesen ist. Auch das Schach findet im Bereich von Raum und Zeit und Bewegung statt; was Raum, Zeit und Bewegung aber sind, kann das Schach als Schach nicht ergründen. Wenn man so will, dann versucht Rowsons Seinsanalyse (besonders S. 166ff.) auf dieses Defizit aufmerksam zu machen, dann haben wir in Rowson – sofern er die wesentlichen Gedanken einmal zur Konsequenz führen wird – vielleicht eines Tages einen Heidegger des Schachs, einen Fundamentalontologen des Königlichen Spiels.

Am Ende steht oft der Satz "In solchen Situationen …" und zugleich macht er deutlich, dass es "solche Situationen" auf dem Brett, das die Welt bedeutet, gar nicht gibt, denn Schach im besten Verständnis ist ein einmaliges Spiel, im Sinne der Einzigartigkeit der jeweiligen Situation; jedes Mal muss aufs Neue und ganz subjektiv entschieden werden, in anderen Worten: selbst denkend und kreativ. Dies macht ja die Faszination des Spiels aus und garantiert im Übrigen auch weiterhin jede Menge Schachbücher. Hoffentlich sind noch ein paar Rowsons dabei.

Der Artikel wurde in gekürzter Form in der Maiausgabe der Fernschachpost veröffentlicht.

 

--- Jörg Seidel, 25.08.2007 ---


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