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LITERATUR
22. Juni 2006

Walter Tevis: The Queen's Gambit

Most of the time, chess was the only language between them. One afternoon when they had spent three or four hours on endgame analysis she said wearily, "Don’t you get bored sometimes?” and he looked at her blankly. "What else is there?” he said.

 

Man hält ein Buch im provokativen Rot-Weiß-Cover in der Hand, auf dem die Kreml-Silhouette (rot) und eine gegen sie gerichtete weiße Schach-Dame zu sehen sind; dann liest man auf dem Umschlag, dass Martin Cruz Smith, der Bestsellerkönig des Thrillers (Gorky Park) das Buch als eines der spannendsten der letzten Jahre bezeichnet. Schließlich wird auch während der Lektüre bald klar, dass alles im finalen Kampf des amerikanischen Schachgenies mit den sowjetischen Schachautomaten enden muss. Und da sollte man nicht an einen gängigen Politthriller glauben, spannend vielleicht, aber doch sicherlich nicht wirklich aufregend?

Tatsächlich, die Seiten blättern sich fast von alleine um, so flüssig liest sich das Ganze. Erst am Ende wird einem bewusst, dass man doch etwas ganz anderes, etwas Ungewöhnliches gelesen hat. Eine Schachgeschichte, rein und direkt, wie es sie bisher noch nicht gab. Wer sie noch nicht kennt, der sollte nicht über Schachliteratur palavern, wie niemand über Spirituosen sprechen sollte, der noch nie einen glasklaren, eiskalten Wodka sich hinter die Binde goss.

 

"With some people chess is a pastime, with others it is a compulsion, even an addiction. And every now and then a person comes along for whom it is a birthright. Now and then a small boy appears and dazzles us with his precocity at what may be the world’s most difficult game”. – so weit so gut; alles schon mal da gewesen, in der Literatur und im wirklichen Leben: Capablanca, Reshevsky, Fischer…. "But what if that boy were a girl – a young, unsmiling girl with brown eyes, brown hair and a dark blue dress?" (114). Schon ändern sich die Prämissen. Wir sprechen auch nicht über einen Fall Polgar, sondern um ein Waisenkind im Heim, wo es unter strengem Reglement leidet und bald zum Sklaven der verabreichten Psychodrogen wird. Das Schach kommt zu ihr wie das Schicksal. Sie erlernt es vom mürrischen alten Hausmeister, der ihr, als er nicht mehr weiter weiß, die MCO (Modern Chess Openings) schenkt. Man verbietet ihr sogar das Spiel, so dass sie beginnt im Kopf zu spielen. Schließlich wird sie adoptiert, und nach ersten lokalen Turniergewinnen wird sie von ihrer Adoptivmutter zu den einträglichen Open begleitet, wo sie anfängt, jede Menge Geld zu verdienen (was in Amerika ja tatsächlich möglich ist). Das ist im Großen und Ganzen die Geschichte: Beth wird besser und besser und spielt gegen immer stärkere Gegner, wird schließlich US-Meisterin und landet im internationalen Geschäft, wo sie erst von Borgov, dem sowjetischen Weltmeister ernsthaft ausgebremst wird. Dazwischen gibt es, fast am Rande, ein paar Männer – alles Schachspieler – und jede Menge Pillen und Alk, so viel, dass ihr die Trunksucht alles zu verderben droht. Nur wenn sie dieses Problem – dessen Geschichte noch geschrieben werden muss: Spitzenschach und Alkohol – in den Griff bekommt, kann sie zum letzten Kampf in Moskau antreten. Aber selbst dort werden die alten Klischees nicht bedient. Statt der Parteikader werden dem Leser wirkliche Menschen vorgestellt, sympathische Männer, die mehr oder weniger mit Niederlagen umgehen können. Nichts von Kalter Krieg und so. Wenn Tevis seine Heldin allein im Moskauer Hotel die Analysen machen lässt, während im Stockwerk drunter Tal und Petrosjan aushelfen, dann adressiert er nur ein altes Problem des Schachs im Westen.

Was das Buch immer und immer wieder vorantreibt ist das Schach. Zwei Drittel des Buches bestehen aus Partiebeschreibungen, nichts sonst. Und da gelingt es Tevis ausgezeichnet die innere Spannung lebendig zu machen, die Atmosphäre, angefangen bei den Turniersälen, den Charakteren und Typen, den jeweiligen Ritualen und kleinen Tricksereien über die inneren Wandlungen während einer Partie, die Ängste, Freuden, Reueanfälle, die Scham und der Schmerz nach dem Verlust, das ewige Problem der Schlaflosigkeit vor und nach aufregenden Partien, die Selbstverfluchungen, Autosuggestionen oder Hassanfälle, die Versuche, den Gegner psychologisch zu beeinflussen, die Panikattacken in Zeitnot, ja bis hin zu solch subtilen Beobachtungen, wie verschieden die jeweiligen Spieler ihre Figuren führen und berühren. In all diesen Betrachtungen kann der erfahrene Schachspieler mitfiebern, schlägt sein Herz im selben Rhythmus. Selbst, wo sie Terrain betritt, das den meisten unter uns versagt bleibt, etwa die Sorge zu haben, gegen den schier unbesiegbaren Weltmeister zu spielen und sich wochen- und monatelang in achtstündigen täglichen sessions darauf vorzubereiten, kann man ihr emotional folgen. Jeder zumindest, der wie sie das zauberhafte Gefühl kennt, wenn sich der Geist vom Körper trennt um als Konzentrationskugel über dem Schachbrett zu schweben, und vielleicht auch die gegenteiligen Augenblicke, wo man durch das Schach den Sinn fürs richtige Leben überhaupt verlieren kann. Mit jeder neuen Partie lässt Tevis das Herz des Lesers schneller schlagen, als stünde in jeder Partie das große Schicksal zur Disposition. Keiner hat, soweit zu sehen ist, dies literarisch besser bewältigt. Und wem das immer noch nicht reicht, der wird sich über zahllose Äußerungen zu diversen Eröffnungen oder über bekannte Spieler der Schachgeschichte freuen. Die Tüftler unter den Lesern werden sogar viele der Partien nachspielen wollen. Sie sind oft so plastisch geschildert, dass lange Zugfolgen einwandfrei nachspielbar sein sollten. Es würde nicht wundern, wenn Tevis’ Material tatsächliche Großmeisterpartien oder Endspielstudien waren.

Verlag und Autor versichern die Lesbarkeit des Buches, auch für diejenigen, die keine Ahnung vom Schach haben. Daran kann man ernsthaft zweifeln, denn wer sonst soll seitenlange Abtäusche mit Interesse lesen, als der gestandene Chess addict? Aber was kümmert uns das überhaupt?

Walter Tevis: The Queen's Gambit. London 1983

 

--- Jörg Seidel, 22.06.2006 ---


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