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PHILOSOPHIE
5. September 2002


"Das Schachspiel in philosophischen Hauptwerken" –
so könnte eine interne Reihe der METACHESS Rubrik benannt werden, die sich zur Aufgabe macht, in unregelmäßigen Abständen wichtige Werke der Philosophiegeschichte vorzustellen, in denen das Schach in irgendeiner Form eine Rolle spielt. Hauptaugenmerk muss demzufolge auf dem Werk liegen. Damit wendet sich diese Rubrik vor allem an die philosophisch interessierten Leser. Um den vordergründig schachlich Interessierten die Lektüre zu erleichtern, werden die nicht schachrelevanten Passagen durch braune Schrift kenntlich gemacht.

Eduard von Hartmann:
Philosophie des Unbewussten

"Losing hurts more than winning is nice."
Nigel Short

 

"Die unbewusste Intelligenz ist allemal zweifellos sicher, das Rechte zu ergreifen, oder vielmehr der Zweifel kommt ihr niemals an, und darum ergreift sie fast immer das Rechte im rechten Moment."
Eduard von Hartmann

 

Eduard von Hartmann war ein eminent produktiver Denker. Sein umfangreiches Werk stellt nichts Geringeres dar als einen umfassenden Systementwurf, den es seit Hegel in diesem Ausmaß nicht mehr gegeben hatte; ein derartiges Projekt verlor spätestens mit den vielfältigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zusehends an Attraktivität. Selbst seine Kritiker kamen zu dem Schluss: "Wer aber an philosophischen Systemen noch seine Freude haben kann, der muss zugeben, dass Hartmanns Lebenswerk nicht Mosaik wurde sondern ein Ganzes, ein Regal, in welchem wie von selbst alle möglichen Geistes- und Naturwissenschaften Unterkunft zu finden schienen" [1]. Alles will da noch mal passen und sich zu fügen, alles scheint sich tatsächlich diesem einen Begriff, dem Unbewussten, unterzuordnen.

Die "Philosophie des Unbewussten", die Hartmann im unglaublichen Alter von noch nicht mal 25 Jahren veröffentlichte, blieb sein bekanntestes Werk, auch wenn er sich bald schon von ihr distanzierte, auch wenn er mit seiner "Kategorienlehre", der "Philosophie des Schönen", mit "Das sittliche Bewusstsein" und "Die Religion des Geistes", die er als eigentliche Hauptwerke betrachtete, und vielen anderen dickleibigen Büchern deren Ergebnisse relativierte und vertiefte, so war Hartmann doch der Philosoph des Unbewussten. Dieses Buch bestimmte seinen frühen Ruhm – seine Anhänger hielten sein Gesamtwerk "für die größte Leistung der deutschen Philosophie überhaupt" [2]; und seine spätere Missachtung, ja selbst den nicht seltenen Spott – Nietzsche etwa denunzierte Hartmanns Denken als "Spass-Philosophie" und "Philosophie der unbewussten Komik" [3].

Beide Urteile treffen nicht den Kern. Allein schon der Begriff des Unbewussten, den man heutigentags fast ausschließlich mit der Psychoanalyse verbindet und den Freud ausdrücklich an Nietzsche anlehnte [4], musste Beachtung finden. Zwar war auch er um 1869 kein gänzlich unbekannter Begriff mehr, aber ins öffentliche Bewusstsein hob ihn tatsächlich erst Eduard von Hartmann. Mit der psychoanalytischen Kategorie ist er allerdings kaum noch zu vergleichen, denn im Gegensatz zu Freud, der darunter eine psychische Region verstanden haben wollte, die dem menschlichen Bewusstsein vorgelagert ist, versteht ihn der Philosoph in viel umfassenderem ontologischen und metaphysischen Sinn als das allem Seiendem Gemeinsame, als die Substanz oder als Ersatz für den Hegelschen "absoluten Geist". Eine positive Bestimmung des Terminus konnte er nicht geben, allein schon die Negativität des Begriffes ("Un") verhinderte dies. Differenziert wird er nur als unbewusster Wille und als unbewusste Vorstellung und das sie beide verbindende unbewusste transzendentale Subjekt.

Tatsächlich schien Hartmann nichts anderes zu leisten, als die Platonische Idee, den Wille Schopenhauers und Hegels Geist zusammenzuwerfen und dies im Sinne von Schellings Prinzip des Einen miteinander zu verrühren; Spinozas Pantheismus ebenso wie Leibniz’ Monadologie und Theodizee bilden neben buddhistischen, taoistischen und kryptognostischen Elementen die abstimmenden Ingredienzien und so gesehen darf es nicht verwundern, wenn man Hartmann immer wieder Eklektizismus vorgeworfen hat. Das ist natürlich im Bestand richtig gesehen, aber Eklektizismus ist kein negativer Wert an sich. Resultat des Ganzen ist ein allerstrengster und bewunderungswürdig einsichtiger metaphysischer Monismus, der sich auf alle philosophischen Bereiche bezieht und dessen Kernsubstanz eben das Unbewusste ist und dem es sogar gelingt, die Materie in Wille und Vorstellung aufzulösen (II, 65ff.) und damit den "Unterschiede zwischen Geist und Materie aufzuheben", Materialismus und Idealismus zu "versöhnen".

 

Phänomenologie des Unbewussten

Im ersten Band, der "Phänomenologie des Unbewussten", versucht Hartmann nun eine Bestandsaufnahme des Unbewussten vorzunehmen, ausgehend von unbewussten Vorgängen in der toten Materie, im Pflanzen- und Tierreich, über primäre Reflex- und Instinktbewegungen, Naturheilkräfte und organische Funktionen bis hin zu geistigen Erscheinungen wie der geschlechtlichen Liebe, dem Gefühl, dem Charakter, dem sittlichen und ästhetischen Urteil, der Sprache, dem Denken, der sinnlichen Wahrnehmung usw. – alles wird durch das Unbewusste gelenkt, hervorgerufen, ist dessen Ausdruck; ja selbst der Geschichtsprozess und die religiöse mystische Erfahrung können in diesem derart aufgeblähten Begriff Platz finden. Hier verarbeitete er die seinerzeit neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso wie die Resultate der klassischen deutschen Philosophie und zeigt eine beeindruckende Wissensfülle.

Manches liest sich aus heutiger Sicht natürlich ganz anders: Nietzsches Unterstellung der unfreiwilligen Komik wird nach 150 Jahren erst recht verständlich, etwa wenn er vom Atomwillen spricht. Anderes hingegen liest sich unglaublich modern, bedenkt man etwa die Heisenbergsche Unschärferelation und andere relativierende quantenmechanische Erkenntnisse und wenn Hartmann von "Empfindung und Bewusstsein der Pflanzen" spricht, ohne allerdings mit ethischen Schlussfolgerungen aufzuwarten, dann meint man mitunter einen Aktivisten der ganzheitlich ökologischen Bewegung sprechen zu hören (II, 45ff.).

 

Metaphysik des Unbewussten

Im zweiten Band, "Der Metaphysik des Unbewussten", versucht Hartmann die erlangten Einsichten erkenntnistheoretisch, ontologisch und religionsphilosophisch zu verwerten. Diese Herangehensweise entspricht seiner induktiven Methode, die vom konkreten Erfahrungsinhalt ausgeht um das Wesentliche dahinter zu erschließen, wobei es sich z.T. freilich um einen Selbstirrtum handelt, denn natürlich war dem Philosophen der übergreifende Begriff längst schon bewusst, deduzierte er also schon, als er sich den natürlichen Grundprozessen widmete (und dies kann auch gar nicht anders sein, wie man im Schachzusammenhange noch sehen wird).

In der "Metaphysik" – bei Hartmann tatsächlich noch eine Meta–Physik im aristotelischen Sinne – wird es wirklich interessant, insbesondere auf theologischem und ethischem Gebiet kommt er zu radikalen und doch bedenkenswerten Schlussfolgerungen, die in unserem Kontext leider nicht diskutiert werden können; nur soviel sei dem Interessierten angedeutet: Selbst Gott wird als Emanation des Unbewussten und als unbewusster Gott entworfen bzw. durch diesen ersetzt, sein Schöpfungsakt als der einer irrationalen Kraft verstanden. Daraus ergibt sich, dass die Welt zwar, wie in Leibniz’ Theodizee, die beste aller möglichen sei, aber trotzdem noch immer so schlecht, dass es besser wäre, es gäbe sie gar nicht erst. In Hartmanns großer Weltgleichung gibt es immer ein deutliches Übergewicht an Unlust und Leid: Verlieren schmerzt immer mehr, als Gewinn Freude bringt. Das Ziel des Weltprozesses ist daher nicht wie bei Hegel die Erkenntnis seiner selbst, sondern die Erkenntnis der Seinsunwürdigkeit und mithin die Vernichtung der Welt, die Erlösung von der Daseinsqual, die ewige Ruhe des Nichts. Das einzelne Individuum habe sich damit zu identifizieren, habe daran affirmativ mitzuwirken (was als Aufruf zum Gattungsselbstmord missverstanden wurde, u.a. von Nietzsche). Das Sein als Nichtnichtsein begreifen, eröffnet in der Tat faszinierende neue Perspektiven [5].

Schachmeisterschaft ist unbewusst

Das Schach kommt nun als Beweismaterial ins Spiel, speziell um das "Unbewusste im Denken" (Bd. I, S. 125-139) zu verdeutlichen. "Alles kommt beim Denken darauf an, dass einem die rechte Vorstellung im rechten Moment einfällt" (129). Denken ist in seinem Grundbestand aber nichts anderes als "Teilen, Vereinen und Beziehen der Vorstellung", sprich, das den Bestandteilen Gemeinsame auszumachen, sei es nun in "räumlichen oder zeitlichen" oder "in abstrahierenden" Akten. "Mit anderen Worten, wenn man die vielen Einzelnen hat, muss Einem die Vorstellung des allen gemeinsamen gleichen Stückes einfallen. Dies ist ebenso gewiss ein Einfallen..." (130). Die Fähigkeit des Einfallens oder auch der Intuition ist in weiterem Sinn das Kennzeichen des künstlerischen Genies, des überragenden Kopfes, aber streng besehen natürlich nichts anders als die Arbeit des Unbewussten. Es arbeitet im Kopf, besser im Nervensystem des Menschen und beschert ihm den Einfall. Der Einfall ist meist nichts anderes als das Finden des richtigen Begriffes. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Einfalles kann durch bewusste Arbeit lediglich erhöht werden - Newton konnte der bahnbrechende Begriff der Gravitation nur einfallen, weil er das entsprechende physikalische Wissen besaß -, aber der Einfall lässt sich bewusst nicht erzwingen. Mit anderen Worten: das abstrahierende Vermögen, das Gleichheit, Kausalität, Urteil, Grund und Folge usw. wohl zu unterscheiden weiß, ein Hirn, das trainiert ist, "zu allgemeinen Obersätzen zu kommen", wird sich leichter dem Einfall öffnen. Dies geschieht mithilfe der Induktion; aus mehreren empirischen Daten zu einer allgemeinen Regel zu gelangen. Der "natürliche Verstand induziert instinktiv, und findet das Resultat als etwas Fertiges im Bewusstsein, ohne über das Wie nähere Rechenschaft geben zu können. Daher bleibt nichts übrig, als die Annahme, dass das unbewusste Logische im Menschen dem bewusst Logischen diesen Prozess abnimmt, der für das Bestehen des Menschen erforderlich ist, und doch die Kräfte des unwissenschaftlichen Bewusstseins übersteigt" (133).

Überhaupt zeigt sich, dass das Unbewusste hauptsächlich induktiv operiert, wohingegen das Bewusstsein sich wesentlich auf die Deduktion beschränkt, also "durch stufenweise Schlussfolgerungen nach dem Satze vom Widerspruch aus zugegebenen Prämissen" (134). Beide arbeiten im Denken als Ganzem zusammen.

Nicht anders beim Schach, wo der Meister sich vom gewöhnlichen Spieler eben durch die unbewusste Fähigkeit unterscheidet. "Der geübte Schachspieler überlegt wohl den Erfolg dieses und jenes Zuges nach drei oder vier Zügen, aber hundert Tausend andere mögliche Züge zu überlegen, fällt ihm gar nicht ein, von denen der schlechte Schachspieler vielleicht noch fünf oder sechs überlegt, ohne auf die beiden zu verfallen, welche allein die Aufmerksamkeit des guten Spielers in Anspruch nehmen. Woher kommt es nun, dass letzterer diese fünf bis sechs Züge gar nicht beachtet, die sich wahrscheinlich doch auch erst nach Verlauf von zwei bis drei anderen Zügen als minder gut herausstellen? Er sieht das Schachbrett an, und ohne Überlegung sieht er unmittelbar die beiden einzig guten Züge. Es ist dies das Werk eines Momentes, auch wenn er als Zuschauer an eine fremde Partie herantritt" (136).

Während der schwache Spieler sich bewusst deduktiv einem mehr oder weniger starken Zug anzunähern versucht – so könnte man ins Schachkonkrete umformulieren -, liegt im induktiv vorgehenden Unbewussten des Meisters, der gute Zug ihm schon zu Füßen. Ersterer kennt oder erfindet sich gewisse Regeln, wägt sie gegeneinander ab, vergleicht sie mit der Situation und kreist schließlich einige Möglichkeiten ein. Er weiß etwa im Übergang vom Mittel- zum Endspiel, dass sein König die Brettmitte anstreben sollte, die Opposition zum gegnerischen König ereichen muss, dass er sich einen Freibauern verschaffen sollte und dass dieser gedeckt werden muss, dass er durch vorgerückte Bauern Raum gewinnen sollte, er kennt möglicherweise Quadrat- und Dreiecksregel und all das aber er weiß nicht zwingend, welche Regel in der jeweiligen Situation nun die entscheidende ist und wird sich unter den fünf oder sieben halbwegs einsichtigen Zügen, mehr oder weniger auf mechanischem Spielverständnis beruhend, schließlich einen auswählen. Das Unbewusste des Meisters hingegen liefert diesem im Augenblick, denn "das Denken des Unbewussten ist zeitlos" (II, 3), konkrete Zugvorschläge, die dahinter sich verbergende Regel spielt nur im geistigen Hintergrund eine Rolle. Sein Denkaufwand ist an sich geringer, zumindest um zu vernünftigen Entscheidungen zu gelangen, da er sich mit Unwesentlichem nicht abgibt. Dies ermöglicht ihm – neben seiner Erfahrung und neben seiner besseren Rechenfähigkeit, die tiefere konkrete Berechnung. Ebenso "sieht der geniale Feldherr den Punkt für die Demonstration oder den entscheidenden Angriff: auch ohne Überlegung" (ebd.), er fühlt ihn gleichsam.

 

Instinkt und Intuition im kreativen Prozess und im Schach

Hartmann verbalisiert nichts anderes als die hundertfach betonte Rolle des Instinktes und der Intuition beim Schach, von der die Meister immer wieder sprechen, die aber eben nur für diese relevant ist. Wenn der Meisterspieler rät: Verlasse dich auf deine Intuition, dann hat das für den Normalspieler nur bedingten Wert, weil sie ihm nicht oder in viel geringerem Maße zu Verfügung steht oder anders gesagt: Seine Intuition ist die falsche, sie ist nicht an das Unbewusste gebunden, sie ist bewusst herbeigeführt und mangelt daher der unendlichen Weisheit des Unbewussten. Sie ist also gar keine Intuition, sie gibt sich im Bewusstseinsprozess nur als solche aus. Gegen ihre Korrektheit spricht die Bewusstheit!

Um diesen Gedanken Hartmanns vollends verstehen zu können, muss man seinen Geniebegriff kennen und nachvollziehen. Im ewigen Streit zwischen angeborenen Fähigkeiten und Erziehungserfolg, im Konflikt, ob das Genie oder das Talent, die überragende Begabung – wie wir heute sagen würden – erziehbar oder aber gänzlich den unbeeinflussbaren geistig-physischen Dispositionen zu verdanken sei, würde sich Hartmann mehr in letztere Richtung orientieren, ohne erstere zu ignorieren. Der Versöhnungsversuch ist unübersehbar, ebenso wie das Primat des Unbewussten ihn zur Ansicht der dispositiven Genialität zwingt. Damit wird die Genialität dem subjektiven Eingriff im wesentlichen entzogen, das Genie ist für seine genialen Einfälle nur sekundär verantwortlich zu machen - ein Grund mehr zur Bescheidenheit -, die eigentliche Anerkennung wird man dem Unbewussten zollen müssen. Auch hier ist die geschichtsmetaphysische Nähe zu Hegel unübersehbar. Vor diesem Hintergrund wird eine Aussage wie die folgende, die direkt an die schachspezifische Äußerung sich anschließt, erst recht verständlich: "Übung ist ein Wort, welches hier gar nicht die Frage berührt, Übung kann die Überlegung erleichtern, aber nie die fehlende ersetzen, außer bei mechanischen Arbeiten, wo ein anderes Nervenzentrum für das Gehirn ausgleichend eintritt. Aber hier, wo davon nicht die Rede sein kann, fragt es sich: was vollzieht die zweckmäßige Wahl momentan, wenn die bewusste Überlegung es nicht ist? Offenbar das Unbewusste" (136).

Was der Mensch tun kann ist höchstens dies: den Boden bereiten, auf den die geniale Saat fallen soll; auf die Saat wiederum darf er nur hoffen. Das schließt nicht aus, dass man durch Übung, Training, Arbeit etc. nicht Hervorragendes leisten könne, nie aber Überragendes. Wie bei allen künstlerischen Tätigkeiten spielt das einseitig orientierte Gedächtnis dabei eine wichtige Rolle: "Jeder Psycholog und Pädagog weiß, welcher Steigerung das Gedächtnis durch Übung fähig ist, und dass diese Steigerung auf einem Gebiete nicht unmittelbar in gleichem Maße auch den übrigen Gebieten zustatten kommt. Der eine spielt auswendig Schach, hat aber kein Gedächtnis für Sprachen; der andere lernt eher das Vokabularium einer neuen Sprache als eine Seite voll mathematischer Formeln auswendig" [6].

Ohne Arbeit an der Materie geht es also auch für das Genie nicht. "Das Genie muss in seinem Fache geübt und gebildet sein, einen reichen Vorrat einschlagender Bilder in seinem Gedächtnisse aufgespeichert haben, und zwar in einer Auswahl des Schönen, die mit feinem Sinne vollzogen sein muss. Denn dieses Material ist der Stoff, in welchem sich die im Unbewussten noch formlose Idee gestalten will" (118). Denn:
"Die Übung erleichtert nur die Wirkung des Unbewussten auf die Nervenzentra, und wo diese schon ohne Übung genügend dazu vorbereitet sind, sehen wir auch diese Übung nicht erforderlich…" (137).
Dabei muss eine Balance gehalten werden zwischen bewusstem Eingriff, bewusster Kontrolle und Offenheit dem Unbewussten gegenüber, wobei das Primat eindeutig letzterem zuzubilligen ist: "Wie weit aber die verständige Arbeit eingreifen darf, ohne die Konzeption des Unbewussten zu stören, dies vermag wiederum nicht sie selbst, sondern nur der ästhetische Geschmack oder Takt des Künstlers, d.h. sein unbewusst begründetes Schönheitsgefühl zu bestimmen, und deshalb muss während der ganzen Dauer der verständigen Arbeit doch wieder das Unbewusste als Grenzaufseher über dem bewussten Verstand Wache halten" (119).
Und: "Die eben angestellte Betrachtung gilt für die Ideenassoziation sowohl beim abstrakten Denken, als sinnlichen Vorstellen und künstlerischen Kombinieren; wenn ein Erfolg erzielt werden soll, muss sich die rechte Vorstellung zur rechten Zeit aus dem Schatze des Gedächtnisses willig darbieten, und dass es eben die rechte Vorstellung sei, welche eintritt, dafür kann nur das Unbewusste sorgen; alle Hilfsmittel und Kniffe des Verstandes können dem Unbewussten nur sein Geschäft erleichtern, aber niemals es ihm abnehmen" (120).

Hartmann wird nicht müde, in immer neuen Anläufen zu betonen: "Die bewusste Vernunft ist nämlich nur negierend, kritisierend, kontrollierend, korrigierend, messend, vergleichend, kombinierend, ein- und unterordnend, Allgemeines aus Besonderem induzierend, den besonderen Fall nach der allgemeinen Regel einrichtend, aber niemals ist sie schöpferisch produktiv, niemals erfinderisch; hierin hängt der Mensch ganz vom Unbewussten ab…" (185).

 

Das Genie wird erwählt

Das Genie wird stets erwählt vom geschichtstragenden Subjekt, dem Unbewussten, das seine Ziele "auf friedlicherem Wege erreicht, indem es im rechten Augenblick das rechte Genie erweckt, das befähigt ist, gerade diese Aufgabe zu lösen, deren Lösung seine Zeit dringend bedarf" (167) - und das gilt im Großen wie im Kleinen.

"So arbeitet das gewöhnliche Talent, es produziert künstlerisch durch verständige Auswahl und Kombination, geleitet durch sein ästhetisches Urteil. Auf diesem Standpunkte steht der gemeine Dilettantismus und der größte Teil der Künstler von Fach; sie alle können aus sich heraus nicht begreifen, dass diese Mittel, unterstützt durch technische Routine, wohl recht Tüchtiges leisten können, aber nie etwas Grosses zu erreichen, nie aus dem gebahnten Geleise der Nachahmung zu schreiten, nie ein Original zu schaffen im Stande sind; denn mit diesem Anerkenntnisse müssten sie sich ihren Beruf absprechen und ihr Leben für verfehlt erklären. Hier wird noch Alles mit bewusster Wahl gemacht, es fehlt der göttliche Wahnsinn, der belebende Hauch des Unbewussten, der dem Bewusstsein als höhere unerklärliche Eingebung erscheint, die es als Tatsache erkennen muss, ohne je ihr Wie enträtseln zu können: die bewusste Kombination lässt sich durch Anstrengung des bewussten Willens, durch Fleiß und Ausdauer und dadurch gewonnene Übung mit der Zeit erzwingen, die Konzeption des Genies ist eine willenlose leidende Empfängnis, sie kommt ihm beim angestrengtesten Suchen gerade nicht, sondern ganz unvermutet wie vom Himmel gefallen, auf Reisen, im Theater, im Gespräch, überall wo es sie am wenigsten erwartet und immer plötzlich und momentan; - die bewusste Kombination arbeitet mühsam aus den kleinsten Details heraus und erbaut sich qualvoll zweifelnd und kopfzerbrechend unter häufigem Verwerfen und Wiederaufnehmen des Einzelnen allmählich das Ganze; die geniale Konzeption empfängt als müheloses Geschenk der Götter das Ganze aus Einem GUSS, und gerade die Details sind es, die ihm noch fehlen, schon deshalb fehlen müssen, weil bei größeren Kompositionen (Gruppenbildern, Dichtwerken) der Menschengeist zu eng ist, um mehr als den allgemeinsten Totaleindruck mit Einem Blicke zu überschauen; - die Kombination schafft sich die Einheit des Ganzen durch mühsames Anpassen und Experimentieren im Einzelnen und kommt deshalb trotz aller Arbeit nie mit ihr ordentlich zu Stande, sondern lässt immer in ihrem Machwerke das Konglomerat der vielen Einzelheiten durcherkennen; das Genie hat vermöge der Konzeption aus dem Unbewussten eine in der Unentbehrlichkeit, Zweckmäßigkeit und Wechselbeziehung aller einzelnen Teile so vollkommene Einheit, dass sie sich nur mit der ebenfalls aus dem Unbewussten stammenden Einheit der Organismen in der Natur vergleichen lässt" (117).

 

Hartmanns Modernität

Dies alles klingt auffällig modern für Ohren, die seit Jahrzehnten psychoanalytisches Vokabular sozusagen unbewusst aufnehmen - was in zweiter Linie überrascht, nicht zuletzt hinsichtlich der schachbezogenen Aussage. Denn woher nimmt Hartmann diese Erkenntnis, gut dreißig Jahre vor den psychostatistischen Untersuchungen Binets und fast ein ganzes Jahrhundert vor Adrian de Groots wichtigen Experimenten, die obige Aussage zum ersten Mal in der Geschichte des Schachs und der Psychologie empirisch bestätigten. Tatsächlich gestattet Hartmanns Konzept des Unbewussten ihm die richtige Einsicht – wenn auch aus falschen Prämissen – in den Denkprozess des Schachmeisters. Noch weiß er nichts von Pattern und Chunks, wenig von experimenteller Psychologie und doch spricht er hier schon aus, was man als de Groots bahnbrechende Erkenntnis feierte oder anders gesagt: de Groot beweist nur, was Hartmann schon wusste und sich offensichtlich nur aus der Praxis (und der metaphysischen Grundlage) hat erschließen können, sei es aus eigenem Spiel – wovon wir nichts wissen -, sei es aus den Partien der Meister seiner Zeit, die Anderssen und Morphy hießen, oder auch Minkwitz, Horwitz, von der Lasa, Bilguer usw. Selbstredend liegt die Prämisse bei den psychologischen Experimenten eindeutig auf dem Lernprozess; was die Schachmeister leisten, schaffen sie durch jahrelanges Training, ein Unbewusstes im metaphysischen Sinne Hartmanns ist nun nicht mehr notwendig, die Ergebnisse zu erklären.

 

Hartmanns Einsichten in das Wesen des Genies mag manchen ehrgeizigen Schachspieler ernüchtern; diesem sei noch einmal versichert (Und hat es nicht etwas Erhebendes, sich als Repräsentant des Weltprozesses zu sehen, selbst, wenn es den Eigenverdienst schmälert?):
"Wollte man nun aber durch diese Betrachtung sich zu einer Geringschätzung der bewussten Überlegung hinreißen lassen, so würde man dennoch einem sehr großen Irrtume verfallen. Eben weil bei sprunghaften Schlüssen leicht Irrtümer unterlaufen, ist es dringend erforderlich, in wichtigen Fragen die einzelnen Glieder durch diskursives Denken klar zu stellen und bis auf so kleine Denkschritte herabzusteigen, dass man vor Irrtümern in den Schlüssen sich möglichst geschützt weiß. Eben weil bei den Ansichten, deren wahre Begründung im Unbewussten liegt, die Verfälschung des Urteils durch Interessen und Neigungen sich jeder Kontrolle entzieht und ungeniert breitmacht, ist es doppelt nötig, die subjektive Begründung ans Licht zu ziehen, und mit den Resultaten diskursiv-logischer Schlussfolgerungen zu konfrontieren, da nur in den letzteren eine gewisse, wenn auch immer noch sehr mangelhafte Garantie der Objektivität liegt. Ist auch für den Augenblick das subjektive Vorurteil stärker, mit der Zeit gewinnt die bewusste Logik doch an Boden, und ist es nicht in einer Generation, so ist es im Laufe vieler" (138).

So wird das geschichtstragende transzendentale Subjekt zum finalen Trostbringer.

 

 

--- Jörg Seidel, 05.09.2002 ---


[1] Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Stuttgart/Berlin 1923. Band 4. S. 290
[2] Wilhelm von Schnehen: Ratschläge betreffs Hartmanns Schriften. In: Band 2. Seite II.
Es ist unglaublich, mit welchen Attributen Hartmann von seinen freilich wenigen Anhängern bedacht wurde. Sie bezeichneten sein Denkgebäude als "entschieden das größte, umfassendste und vielseitigste Lehrgebäude, das die Geschichte der Philosophie kennt. Wie Aristoteles das gesamte Wissen des klassischen Hellenentums und Thomas von Aquino das des christlichen Mittelalters, so fasst Hartmann das seiner eigenen Zeit in Gedanken zusammen. Und sein Gedankenbau ist um ebensoviel reicher, tiefer und vielgestaltiger als die seiner beiden Vorgänger, wie das Leben und Wissen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts reicher, tiefer und vielgestaltiger war… Auch von den großen Denkern der Neuzeit kann sich an Spannweite und innerem Reichtum seines Lehrgebäudes keiner mit Hartmann messen". Und weiter: "…dass es in dieser mehr als zweitausendjährigen Geschichte des abendländischen Denkens drei tiefste und bedeutendste Einschnitte gibt: drei große Wenden oder neue Anfänge, von denen jeder ein großes, völlig neues Zeitalter einleitet. An diesen drei Wenden aber stehen: Plato, Descartes und Hartmann" (Wilhelm von Schnehen: Eduard von Hartmann. Stuttgart 1929. S. 384 und 394, vgl. 26, 45 und 67). Diese Begeisterung wirkt fast schon wieder lächerlich, aber sie ist nicht ohne Interesse, denn wie lässt sich eine derartige Wahrnehmungskluft verstehen? Einerseits das vollkommene Vergessen und die philosophische Diffamierung und andererseits der Versuch uns einen überphilosophen, einen absoluten Denker zu präsentieren. Man kann dieses Urteil nicht auf bloßes Jüngerverhalten zurückführen, denn erstens ist Schnehens Buch, von zitierten Passagen abgesehen, wirklich sehr gut und jederzeit zu empfehlen, nicht nur demjenigen, der sich über Hartmann informieren will, zweitens schätzten auch Denker von erstem Range, wie etwa Fritz Mauthner, Hartmann und bezeichneten ihn, wie Max Scheler etwa, "als die einzige Persönlichkeit", "deren geistige Spannweite alle philosophischen Antriebe des 19. Jahrhunderts umfasste und dazu alle Fortschritte der positiven Natur- und Geisteswissenschaften in ihr System einzuordnen suchte, die einzige zugleich, die den tiefgehenden inneren Bruch zwischen der deutschen Spekulation und der geistigen Herrschaft der Spezialwissenschaften nicht mitgemacht hat" (zit.: ebd. S. 387), und schließlich drittens, kann sich jeder selbst bei der Lektüre, vor allem der "Philosophie des Unbewussten" vom Gedankenreichtum Hartmanns überzeugen. Mir schien er ein beachtenswerter Geist zu sein, ein wiederzuentdeckender Denker und man kann nur hoffen, dass sich ein objektiver und fachlich kompetenter Kopf finden wird, ein zeitgemäßes Fazit zu ziehen. Die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen, vermutlich aber mit Tendenz nach wirklich großem Denken, zumindest partiell (Ethik, Religionsphilosophie und Anthropologie scheinen mir am brisantesten zu sein, Hartmanns Psychologie ist z.T. bestätigt und allgemein anerkannt, metaphysisch hingegen gibt’s wohl kaum was zu retten).
[3] KSA 1, S. 314-319 (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben)
[4] Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 15. Seite 79
[5] Dies ist auch die Perspektive, aus der Hartmanns Denken für Ludger Lütkehaus interessant wurde, der sich nicht nur für die Neuherausgabe des Klassikers verantwortlich zeichnete, sondern ihm auch ausführlich Platz einräumt in seinem sehr lesenswerten Opus "Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst". Zürich 1999; vgl. insbesondere Seiten 223 – 262, wo Hartmanns Ontodizee als Kakodizee (Rechtfertigung des Schlechten) vorgestellt wird, die in Mainländers Denken noch einmal radikalisiert wird.
[6] Eduard von Hartmann: Philosophie des Schönen. Berlin 1924. S. 540


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