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PHILOSOPHIE
1. Oktober 2003

Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend.

Es gehört zum Charakter einer Tugend, dass sie ohne Berücksichtigung der Folgen ausgeübt wird, damit sie mit Erfolg die inhärenten Güter hervorbringen kann, die der Lohn der Tugenden sind.

 

Das 1981 erschienene Werk "After Virtue: A Study in Moral Theory” des irischen Philosophen Alasdair MacIntyre kann man bedenkenlos zu den modernen Klassikern der Moralphilosophie zählen. In ihm findet das Schachspiel mehrfach und an exponierter Stelle Erwähnung.

Der folgende Artikel gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird mit dem Inhalt des Buches, seinen wesentlichen Aussagen und seiner inneren Logik folgend, bekannt gemacht, insofern er für die nachfolgende Untersuchung – der zweite Teil – der schachspezifischen Fragen von Bedeutung ist. Dies schließt folgerichtig eine gewisse Simplifizierung und Funktionalisierung ein, aber es kann und wird hier nicht Ziel sein, MacIntyres Werk kritisch und umfassend zu besprechen. Wo dies doch geschieht, dort zumeist im willkürlichen, vor allem schachlichen Zusammenhang oder aber um spielrelevante Gedankengänge verstehbar zu machen.

 

Wie alle nachantike und nachchristliche Moraltheorie, die ihren Tugendkatalog nicht mehr theologisch begründen kann, die Gottes Existenz oder Kompetenz oder Relevanz nicht mehr apriorisch setzen darf, beruft sich auch MacIntyre auf eine willkürliche Prämisse, die er mit einem Missstand begründet. Dabei handelt es sich um die verwahrloste Sprache der Moraltheorie. Demnach "besitzen wir heute nur noch Bruchstücke eines Begriffsschemas, Teile ohne Bezug zu jenem Kontext, die ihnen ihre Bedeutung verliehen haben" (15). (Es ist aus argumentationslogischen Überlegungen heraus interessant festzustellen, dass die nun folgende auf 350 Seiten entwickelte Deszendenz- und Dekadenztheorie bereits mit einem Verfallsargument beginnt.) Dies erkläre, weshalb es in der Moderne keinen vernünftigen Weg mehr gebe, moralische Übereinstimmung zu erzielen. Moraltheorien können zwar in sich kohärent sein, bleiben aber darüber hinaus inkompatibel und diskursunfähig, da sie von diversen unvereinbaren, aber nicht mehr anfechtbaren Prämissen ausgehen. So könne etwa die Abtreibung mit einem Recht der Person auf den eigenen Körper ebenso überzeugend legalisiert werden, wie sie mit dem Argument des Tötungsverbots kriminalisiert werden kann. Ursachen für diesen Misstand sind u.a. die begriffliche Inkommensurabilität und die Unanfechtbarkeit der jeweiligen Prämissen, aus denen dann logisch schlüssige Argumente entstehen, sind aber auch der unzulässige und oftmals unbe- oder ungewusste Gebrauch von historisch kontextuierten Begriffen, die wir implizit immer mitschleppen, und ist schließlich der unhistorische Gebrauch von Theorien, die aus ihrem Geschichtszusammenhang, aus ihrer kulturellen und sozialen Umgebung, herausgelöst werden – "Kant hört auf, Teil der Geschichte Preußens zu sein, Hume ist kein Schotte mehr" – wenn wir sie, die Moralphilosophen der Vergangenheit wie Zeitgenossen behandeln. Dies alles gibt einer Zugangsweise Vorlauf, die MacIntyre als "Emotivismus" beschreibt - einst als philosophisches System entworfen - und die heutzutage zum weitestgehend unreflektierten Usus gehört. "Der Emotivismus lehrt, dass alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen und Gefühlen sind, soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind" (26) [1].

Obig angesprochene Prämisse besagt nun folgendes: Moral ist nicht mehr, was sie mal war, und was einmal Moral war, ist größtenteils verschwunden (39). Wir haben also einen kulturellen Verlust und eine Rückentwicklung zumindest auf moralischem Gebiet zu konstatieren und soll dieser irgendwie rückgängig gemacht werden, so wird man nicht umhin können, "die verlorene Moral der Vergangenheit zu bestimmen und zu beschreiben und ihre Ansprüche auf Objektivität und Autorität zu beurteilen" (40).

Erste Zeugen des Dilemmas der moralischen Unentscheidbarkeit waren Diderot ("Rameaus Neffe"), vor allem aber Kierkegaard in "Entweder-Oder", der in A und B ästhetisches und ethisches Paradigma gegenüberstellt. Diese Autoren ziehen aber nur die Summe aus dem Scheitern der geschichtsmächtigen Aufklärung, insbesondere der Großentwürfe Humes und Kants. Freilich liegt dieses Scheitern nicht im persönlichem Versagen begründet, sondern in der Aufgabe des Aristotelismus vor dem Hintergrund der von ihnen selbst unaufgeklärt gebliebenen geistigen Wurzeln und innerster Überzeugungen, namentlich des Christentums: moralische Urteile in dieser Tradition, so MacIntyre, sind "sprachliche Überreste der praktischen Anwendung des klassischen Theismus, die den durch diese praktische Anwendung gebildeten Kontext verloren haben" (86) [2].

Die Befreiung der moralischen Entscheidung von der Teleologie und Hierarchie durch die Aufklärung führt den moralisch Handelnden in ein Dilemma: dass er sich einerseits als souverän in seiner moralischen Autorität betrachtet, andererseits für die moralischen Regeln einen neuen Status finden muss, "da ihnen ihr alter teleologischer und ihr noch älterer kategorischer Charakter" genommen wurde – welches insbesondere vom Utilitarismus und nachkantischen Vernunft- und Diskursphilosophien zu lösen versucht wurde, wenn auch, so der Kritiker, erfolglos. Deren Zentralbegriffe "Nützlichkeit", "Recht" und "Gerechtigkeit" stellen moralische Fiktionen dar (95). Sofern diese jedoch als Prämissen (und/oder Ziele) ganzen Argumentationssträngen dienen, sind unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich und unlösbar. Innerhalb eines solchen Begriffssystems ist Wahrheit noch relevant, in der Interaktion allerdings wird sie a priori unerreichbar.

Um diesen Konflikt vermeiden zu können, hülfe nur ein Weg: sich der wahren Bedeutung der ersten systematischen Moralphilosophie bewusst zu werden - des Aristotelismus -, diesen in seiner Entstehung und seinen historischen Wandlungen zu begreifen, die Bedeutung seiner Kategorien zu Aristoteles’ Zeiten und allen nachfolgenden zu vergegenwärtigen, denn schließlich wurzelt hier unser moralisches Vokabular. Ein langer und beschwerlicher Umweg ist von Nöten, dessen Hauptstationen die Tugendbegriffe in der heroischen Gesellschaft, in Athen, bei Aristoteles und der mittelalterlichen aristotelischen Tradition, der Renaissance lägen. Die kolossale Schwierigkeit wird evident, wenn man sich klar macht, dass allein für Athen wenigstens vier Sichtweisen zu berücksichtigen seien: die sophistische, die platonische, die aristotelische und die tragische (182) – und Athen ist keinesfalls mit Griechenland gleichzusetzen! Wenn MacIntyres Analyse also zwingend wäre, so stünde eine schier unermessliche philosophisch-historische Neubesinnungsarbeit vor uns. Sie wäre zumindest insofern ertragreich, als sie den partiell illusionären Charakter unserer Moralvorstellungen aufzeigen könnte, der sich in unauflösbare Aporien verwickelt. Er, der Autor selbst, leistet sie nicht oder nur andeutungshalber an so marginalen Tugendkatalogen, wie dem Jane Austens (aber das zeigt nur die Größe der Aufgabe), und dies ist sicherlich ein entscheidender Punkt, weshalb das Buch auf viele Leser unbefriedigend wirkt: es beklagt, möglicherweise zu recht, den Verlust der Tugend, stellt aber keine oder nur allervageste Anhaltspunkte zur Verfügung, einen neuen Tugendkatalog zu entwerfen [3] und kümmert sich auch nicht um die Widerlegung des postmodernen und modischen Verdachts, dass eine konsistente Tugendlehre in einer pluralistischen, fraktalen Welt gar nicht mehr möglich oder sinnvoll sei.

Gibt es trotzdem eine "Kernvorstellung" – trotz der scheinbar unvereinbaren Vorstellungen – von Tugend (250ff.)? MacIntyre bejaht und begründet dies mit der Überlegung, dass es zur Anwendung einer Tugendvorstellung "stets der Annahme einer vorgängigen Darstellung bestimmter Merkmale des sozialen und moralischen Lebens bedarf, in dessen Sinne sie definiert und erklärt wird", sie wird von einer solchen prädominiert. Um sie herauszuarbeiten gilt es, "drei Abschnitte in der logischen Entwicklung dieser Vorstellung" zu bestimmen und jeder dieser Abschnitte hat seinen eigenen begrifflichen Hintergrund. "Der erste Abschnitt verlangt eine Hintergrunddarstellung dessen, was ich Praxis nennen werde, der zweite eine Darstellung dessen, was ich bereits als narrative Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens charakterisiert habe, und der dritte eine deutlich umfassender Darstellung dessen, was eine moralische Tradition ausmacht" (250, Hervorhebung J.S.).

Den Begriff der Praxis will er dabei besonders definiert wissen – die Definition ist hier anzuführen, weil sie bestimmte schachbezogene Aussagen kontextiert: "Mit Praxis meine ich jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeiten, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind, mit dem Ergebnis, dass menschliche Kräfte zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen der involvierten Ziele und Güter systematisch erweitert werden" (251f.).

Innerhalb einer Praxis kann man zwei Arten von Güter (Plural von "das Gut") erreichen: inhärente und äußerliche. Letztere, mit der Praxis verbundene Besitztümer und Nebeneffekte sind für den Tugenderwerb irrelevant, allein auf die inhärenten Güter kommt es an, denn sie sind das "Ergebnis eines Wettbewerbs: vortrefflich zu sein". Eine Tugend wird demzufolge in einer ersten definitorischen Annäherung bestimmt als "eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im Allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen" (256). MacIntyres Praxisbegriff wird nachfolgend im Schachzusammenhang noch konkretisiert. An dieser Stelle ist lediglich noch die Relativierung belangvoll, denn aus der Tatsache, dass Tugenden sich nur im Zusammenhang mit Formen der Praxis erklärt werden können, folgt nicht die Annahme, alle Praxisformen wären tugendhaft oder auch nur moralisch anstrebenswert.

Der zweite Abschnitt der logischen Entwicklung der Tugendvorstellung, die narrative Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens, beinhaltet die Einsicht, "das Selbst als narrative Form zu denken" (275). Dies bedeutet zum einen: "die Einheit einer Tugend im Leben eines Menschen ist nur als eine Eigenart eines einheitlichen Lebens verständlich, eines Lebens, das als Ganzes begriffen und bewertet werden kann", zum anderen, die jeweilige narrative Einordnung einer Handlung in einen Sinn und Motivations- und Überzeugungszusammenhang. Um eine bestimmte Handlung moralisch einordnen zu können, muss man sie strukturell in einen Kontext bringen: Ursache, Ziel etc., vor allem aber Intention des Handelnden, sprich, man muss die Geschichte dieser Handlung erzählen und verstehen können. Die Einheit eines individuellen Lebens besteht in der Einheit einer in einem einzigen Leben verkörperten Erzählung (292). "Die Tugenden müssen daher als die Dispositionen verstanden werden, die nicht nur die Praxis aufrecht erhalten und uns befähigen, die der Praxis inhärenten Güter zu erlangen, sondern die uns auch bei der relevanten Art von Suche nach dem Gut unterstützen… Wir sind somit zu einer vorläufigen Schlussfolgerung über das gute Leben für den Menschen gekommen: Das gute Leben für den Menschen ist das Leben, das in der Suche nach dem guten Leben für den Menschen verbracht wird, und die für die Suche notwendigen Tugenden sind jene, die uns in die Lage versetzen, zu verstehen, worin darüber hinaus und worin sonst noch das gute Leben für den Menschen besteht" (293).

Von hier aus ist der Schritt zum dritten Abschnitt, der Tradition, zwangsläufig, denn die je individuelle Geschichte ist in größere Geschichten eingebettet, "in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite (295). Identifiziere ich mich z.B. als Deutscher, so ist es mir – auch als Spätgeborener - nicht mehr möglich zu meinen, dass die Verbrechen der Nazis (als Deutsche – MacIntyre freilich macht diese m.E. wesentliche Differenzierung nicht) moralisch belanglos für meine Beziehung etwa zu meinen jüdischen Zeitgenossen sein können, denn das Selbst kann nicht von seinem sozialen und historischen Status gelöst werden. Allerdings scheint MacIntyre die nahezu paradoxe Komplexität dieses Gedankenganges zu unterschätzen. Wenn denn stimmt: "Ich bin daher zu wesentlichen Teilen das, was ich erbe, eine spezifische Vergangenheit, die in gewissem Umfang in meiner Gegenwart gegenwärtig ist. Ich sehe mich als Teil einer Geschichte, und das heißt ganz allgemein, als einer der Träger einer Tradition, ob mir das gefällt oder nicht" (295), dann wäre ich z.B. als Deutscher nicht nur Teil der Geschichte der deutschen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern eben auch Teil etwa der Geschichte der Sühne und Widergutmachung ad infinitum; kurz: Geschichte ist nicht linear zu denken, sondern eine Geschichte setzt viele Geschichten voraus und fort. Gleiches gilt für die Geschichte der Tugend: Voraussetzung für Tugend ist also schon immer eine (oder eben mehrere) Tugend, "die Tugend, das adäquate Gefühl für die Traditionen zu haben, denen man angehört oder die einem gegenübertreten" (297).

Im abschließenden Kapitel rekapituliert MacIntyre noch einmal die missliche Lage der heutigen Moral, die besondere Rolle, welche der Aristotelismus darin spielt, der, wenn auch nur als fragmentarischer Rest und kategoriales Selbstbedienungsdepot noch immer die modernen – d.i. die ungenügenden und gescheiterten - Moralphilosophien begründet und verweist darauf, dass Überwindungsversuche, etwa der Nietzsches, ebenfalls als gescheitert gelten müssen, woraus er erneut schließt, dass die "aristotelische Tradition auf eine Weise neu formuliert werden" müsse, "die die Verständlichkeit und Rationalität unserer moralischen und sozialen Handlungen und Verpflichtungen wieder herstellt" (345). Die Zeit, dies zu versuchen, sei endgültig gekommen. Solange dies jedoch nicht geschehen sei, bliebe vor allem, schließt er in seltsam orakelndem Ton, "die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrecht erhalten werden können, das bereits über uns gekommen ist" (350) [4].

 

Die erste Erwähnung des Schachs in MacIntyres Buch besitzt zwar nur Beispielcharakter, ist also für das Schach selbst nur von sekundärem Interesse und könnte ebenso durch ein anderes Beispiel ersetzt werden, da sie aber einen an-sich-bedenkenswerten Punkt berührt, der von größerer Tragweite ist, soll sie nicht unbesprochen bleiben. Wir hatten andeutend bereits gesehen, wie das Scheitern der Aufklärung mitverantwortlich für den Verlust der Tugendbegriffe gemacht wurde, wie "die Blinden ihr eigenes Sehvermögen bejubelten". Diese Blindheit wird weitergereicht; ein Resultat der Aufklärung ist die Entstehung der Sozialwissenschaften, die als Substituten für verlorengegangene ethische Territorien fungieren sollten. Will MacIntyre seinen Anspruch auf die Notwendigkeit der Wiederbelebung der klassischen aristotelischen Ethik begründen, so muss er u.a. den Anspruch der Sozialwissenschaften, diesen Bereich adäquat abdecken zu können, in Frage stellen und zeigen, dass sie ethischen Ansprüchen nicht genügen. Damit jedoch gibt er sich nicht zufrieden, vielmehr spricht er den Sozialwissenschaften ihren Wissenschaftscharakter vollends ab und zwar weil diese nie zu gesetzesgleichen Verallgemeinerungen und gültigen Prognosen gelangen können, ein Ziel übrigens, welches sich die Sozialwissenschaften selbst stellen und zur Selbstlegitimation nutzen [5]. Die unmittelbare Brisanz ist deutlich: "Wenn die Sozialwissenschaft ihre Erkenntnisse nicht in Form gesetzesgleicher Verallgemeinerungen vorlegt, werden natürlich die Gründe, Sozialwissenschaftler als Berater von Regierungen oder Privatunternehmen zu beschäftigen, uneinsichtig, und die bloße Vorstellung des Expertentums der Manager ist gefährdet" (124). Natürlich wäre es ein Leichtes, sozialwissenschaftliche Irrtümer empirisch nachzuweisen, aber so unterhaltend dies auch wäre, so unbefriedigend bliebe es aus logischer und wissenschaftstheoretischer Sicht. Folglich muss ein systematisches Versagen nachgewiesen werden und dies findet MacIntyre in der Eliminierung des Zufallsfaktors. Deshalb sei Machiavelli noch heute aktuell, weil er, trotz des Zieles der Voraussagbarkeit, das Element der "fortuna" nicht kategorisch ausschloss. Darüber hinaus – dies ist das Zentralargument mit an-sich-Bemerkenswertigkeit – gibt es "in menschlichen Angelegenheiten vier Quellen systematischer Unvoraussagbarkeit". Erstens, hier folgt er Popper, können radikale Neuerungen nicht vorausgesagt werden. In der Altsteinzeit z.B. hätte niemand die Erfindung des Rades voraussagen können, da die Voraussage inklusive der Begriffsbildung ("Rad"), die Erfindung selbst immer schon voraussetzt. Daraus ergibt sich die "konsequente Unvoraussagbarkeit der Wissenschaft", ein Wissen, das in der modernen Gesellschaft unabdingbar wäre, um gesellschaftliche Voraussagen sinnvoll treffen zu können. (129ff.).

"Die zweite Art systematischer Unvoraussagbarkeit folgt aus der Weise, in der die Unvoraussagbarkeit bestimmter zukünftiger Handlungen für den jeweiligen Handelnden ganz individuell ein weiteres Element der Unvoraussagbarkeit an sich in der sozialen Welt schafft" (132). Solange jemand sich noch nicht für eine Alternative entschieden hat, kann er nicht voraussagen, für welche er sich entscheiden wird. Könnte er das, dann hätte er sich bereits entschieden. Zwar könnte theoretisch "ein hinreichend informierter Beobachter" jemandes Entscheidung voraussagen, aber da dieser Beobachter, aus denselben Gründen, seine eigene Zukunft, seine eigenen Entscheidungen nicht voraussagen kann und er daher nicht voraussagen kann, inwieweit seine Entscheidungen die anderer Menschen beeinflussen werden, inklusive derjenigen, dessen Zukunft er voraussagen könnte, führt diese Überschneidung zur prinzipiellen Unmöglichkeit auch dieser Voraussage. "Dass ich meine Zukunft nicht voraussagen kann, erzeugt tatsächlich ein bedeutsames Maß an Unvoraussagbarkeit an sich" (133). Um dem vorauszusehenden Vorwurf, dass die Prämisse – wenn ich mich noch nicht entschieden habe, welche Alternative ich wähle, so kann ich nicht voraussagen, für welche ich mich entscheiden werde – in Frage gestellt werden könnte, entwickelt MacIntyre ein Gegenbeispiel, in dessen Ergebnis er zur Umformulierung der Prämisse gelangt um sie somit auch für den Zweifelnden verdaulich zu machen:

"Ich bin ein Schachspieler, und mein eineiiger Zwillingsbruder ebenfalls. Aus Erfahrung weiß ich, dass wir im Endspiel bei der gleichen Stellung auf dem Brett immer dieselben Züge machen. Ich überlege, ob ich in einer Endspielsituation meinen Springer oder meinen Läufer ziehen soll, als jemand zu mir sagt: ‚Gestern war Ihr Bruder in derselben Lage.’ Ich kann nun voraussagen, dass ich denselben Zug machen werde, den mein Bruder gemacht hat. Hier liegt also sicher ein Fall vor, in dem ich eine meiner zukünftigen Handlungen voraussagen kann, die von einer noch nicht getroffenen Entscheidung abhängt. Aber der springende Punkt ist, dass ich meine Handlung nur voraussagen kann mit der Angabe ‚derselbe Zug wie der, den mein Bruder gestern gemacht hat’, aber nicht mit der Angabe ‚ziehe den Springer’ oder ‚ziehe den Läufer’. Dieses Gegenbeispiel führt daher zu einer Umformulierung der Prämisse: ich kann meine zukünftigen Handlungen nicht voraussagen, sofern sie von Entscheidungen abhängen, die ich noch nicht getroffen habe – mit den Angaben, die die Alternativen nennen, die die Entscheidung definieren. Und die so umformulierte Voraussetzung ergibt die entsprechende Schlussfolgerung über die Unvoraussagbarkeit als solche" (133f.).

Der Vollständigkeit halber sollen auch die letzten beiden Quellen systematischer Unvoraussagbarkeit erwähnt werden. Die eine, die dritte, entspringt "dem spieltheoretischen Wesen des sozialen Lebens" in der sozialwissenschaftlichen Reflexion, das vor allem, aber nicht nur, an der unübersehbaren Komplexität von "Transaktionen" und der Offenheit/Unbestimmtheit jeder Situation scheitert – "Es wird nicht ein Spiel gespielt, sondern mehrere, und, um die Spielmetapher noch weiter auszudehnen, das Problem im wirklichen Leben ist, dass ein Zug des Springers nach B3 immer mit einem Lob über das Netz beantwortet werden kann" (136). Beim anderen, dem vierten handelt es sich um den "reinen Zufall", das unabsehbare Einwirken äußerer Einflüsse.

 

Ein zweites Mal wird das Schachspiel auf einem der vielen Seitenpfade analogisch genutzt. MacIntyre, nachdem er die Frage "Nietzsche oder Aristoteles?", also "Umwertung aller Werte", Schaffung neuer Werte oder Begreifen der alten Werte zugunsten des antiken Denkers entschied, sieht sich nun der Aufgabe gegenüber, Entstehung und historische Wandlung des Aristotelismus zu verfolgen und beginnt folgerichtig dort, wo das griechische Denken seine tiefsten Wurzeln hat, in der heroischen Gesellschaft und deren Geschichte. Die Notwendigkeit ergibt sich auch aus der einfachen Tatsache, dass in klassischen Kulturen "das wichtigste Mittel der moralischen Erziehung das Erzählen von Geschichten war" (163), nicht zuletzt eben der heroischen Geschichten, die den "moralischen Hintergrund für zeitgenössische Streitgespräche" bildeten. Um klassische und moderne Gesellschaften verstehen zu können, ist das Verständnis der heroischen Gesellschaften notwendig. Diese wiederum zeichnen sich durch einen beneidenswert festen Wertekatalog aus, über den sich das Individuum problemlos – dort, wo die Einschränkung gilt, begann das tragische Zeitalter (Sophokles) – identifizieren konnte. Sein und Tun, Sollen und Tun waren identisch. Der Mensch war das, was er tat und aus seinem Tun ließ er sich vollständig erklären. Ins Große gewendet: "Moral und soziale Struktur sind in der heroischen Gesellschaft ein- und dasselbe" (166). Diese Identität wird nun ausgerechnet durch den Erzähler zerstört, der zur ersten problematischen Gestalt wird, " denn es steht fest, dass der Dichter oder der Verfasser der Saga für sich eine Art Verständnis beansprucht, das den Gestalten, über die er schreibt, verwehrt wird" (168). Unter Erzähler ist hierbei selbstverständlich nur derjenige zu verstehen, der den Überblick beansprucht, etwa, ganz paradigmatisch, Homer. Die Geschichten, die sich die homerischen Gestalten erzählt haben mochten, sind problemlos, denn sie verlassen den Rahmen der eigentlichen Geschichte in die sei eingebettet sind, nicht, sie sind lediglich Teil dieser, sie konstituieren sie aber konstruieren sie nicht. Innerhalb dieser Geschichte gehen sie vollständig auf, sie wissen "was sie einander schuldig sind" und ihr Verhalten ist vollständig konsistent und luzid. Um den Sachverhalt deutlich zu machen, gebraucht MacIntyre eine "gefährliche, aber aufschlussreiche Analogie" zum Schach.

"Die Regeln, die Handlung und Werturteil in der Ilias bestimmen, ähneln den Regeln und Vorschriften eines Spiels wie dem Schach. Es ist eine Frage der Tatsachen, ob jemand ein guter Schachspieler ist, ob er gute Endspielstrategien entwerfen kann, ob ein Zug in einer bestimmten Situation der richtige Zug ist. Schach setzt Übereinkunft darüber voraus, wie man Schach spielt, ja es besteht zum Teil aus dieser Übereinkunft. In der Schachsprache ist es unsinnig zu sagen: ‚Das war der absolut einzige Zug, der ein Schachmatt erreichen könnte, aber war es richtig, diesen Zug zu machen?’ Daher müsste jemand, der so etwas sagt und versteht, was er sagt, einen Begriff von ‚richtig’ verwenden, der seine Definition außerhalb des Schachspiels erhält; so könnte dies jemand fragen, dessen Ziel es beim Schachspielen ist, eher ein kleines Kind zu belustigen als zu gewinnen" (168).

Der Gewinn des "Außen" (ein Begriff, der in der modernen und postmodernen Philosophie noch viel stärker betont wird, der aber bereits im homerischen Epos oder anderen heroischen Epen, wie z.B. der Edda, wurzelt) ist somit – erst mal wertneutral – Ursache (manche würden auch "Schuld" sagen) für den Verlust der Tugend im Sinne des Nicht-mehr-Wissen, was in bestimmten Situationen zu tun sei, was gefordert ist, gegründet auf einer sicheren Einordnung in einen übersichtlichen und nicht erklärungs- und begründungsbedürftigen Wertzusammenhang. Verlässt der Spieler die Immanenz des Schachspiels – um bei der Analogie zu bleiben -, so werden Wertbegriffe wie "richtig", "gut", "schlecht", "schön" etc. plötzlich problematisch. Strukturell Vergleichbares geschieht mit mythischen oder religiösen Urtexten, die auch heute noch im innersten Zentrum unserer Diskurse stehen. Erst wenn sie reflektiert werden, wenn man über sie nachdenkt, werfen sie Entscheidungsprobleme auf. Einerseits bringt diese Reflexion alles Unheil – in Form von Konflikten – mit sich, andererseits den lebendigen Reichtum, den wir heute als positiven Wert begreifen.

MacIntyre hält die Schachanalogie für gefährlich, weil sie aus einer Leichtigkeit stammt, die den heroischen Gestalten nicht gegeben war: Wir spielen Schach zu verschiedenen Zwecken, aber es hat keinen Sinn zu fragen, zu welchem Zweck (präreflektive, immanente) Gestalten, etwa die Gestalten der "Ilias", Regeln und Gebote beachten und befolgen. "Jede Wahl entsteht innerhalb des Systems, das System selbst kann nicht gewählt werden". Die wesentlichste Differenz "zwischen dem emotivistischen Selbst der Moderne und dem Selbst des heroischen Zeitalters" sieht der Philosoph in der "Fähigkeit, sich selbst von jedem Standpunkt oder jeder Ansicht zu lösen, gewissermaßen einen Schritt zurückzutreten, und diesen Standpunkt oder diese Ansicht von außen zu betrachten und zu beurteilen" (169), eine Möglichkeit, die den Menschen des heroischen Zeitalters nicht gegeben war, aber es wird nicht ganz klar, weshalb man nicht auch die Geschichte des modernen Menschen, der glaubt, "sich selbst von jedem Standpunkt oder jeder Ansicht" lösen zu können, nicht unter demselben Vorzeichen einer Illusion sich wird erzählen können? Man sieht leicht den zirkulären Charakter des Arguments.

 

Ein drittes Mal kommt MacIntyre in seinem zentralen Kapitel, dem vierzehnten, "Das Wesen der Tugenden", auf das Schachspiel zu sprechen, und wenn es auch hier lediglich als Beispiel und als Erläuterungsschema fungiert, so lassen sich diesmal doch wesentliche Aussagen rückschließen, die für eine Philosophie des Schachs von großer Bedeutung sind. Sie werden, denkt man sie weiter, aufschlussreiche Überlegungen sowohl über die innere Energie, den Faszinationshaushalt des Spiels offen legen, und Anlass geben, über gewisse Entwicklungen in der professionellen und kommerziellen Schachwelt kritisch nachzudenken.

Mehrfach bereits wurde auf die Vielzahl der Tugendvorstellungen hingewiesen, die im Laufe der Geschichte ihren jeweiligen Platz behauptet haben. Oftmals sind die Differenzen derart eklatant, dass diese Vorstellungen als unvereinbar zu gelten hätten, wenn es denn nicht gelänge, einen gemeinsamen Kernbereich freizulegen. MacIntyre geht von mindestens drei grundverschiedenen Tugendbegriffen aus; a) dem homerischen, in dem die Tugend jene Eigenschaft ist, die dem einzelnen gestattet, seine soziale Rolle zu spielen, b) den aristotelischen, in dem die Tugend den einzelnen in die Lage versetzt, das menschliche Ziel (Telos) zu verwirklichen und c) den utilitaristischen, in dem Tugenden nützlich sind, um (himmlischen oder irdischen) Erfolg zu haben. Neben der "narrativen Ordnung" und der "Tradition" ist es vor allem die "Praxis", die eine Kernvorstellung der Tugend konstituiert. Ihr ist daher das Hauptaugenmerk gewidmet (s.o.). Der Philosoph versteht darunter jene Tätigkeiten, in deren Verlauf inhärente Güter verwirklicht werden. "Schiffe-Versenken ist kein Beispiel für Praxis in diesem Sinn, und auch das geschickte Werfen des Balles beim Football nicht; aber das Footballspiel selbst ist ein Beispiel, und das Schachspiel auch" (252). Inhärente und äußerliche Güter, als Gegensätze, müssen verstanden werden. Erstere loten die inneren Möglichkeiten einer Tätigkeit aus, wohingegen letztere sich in der Regel als reiner Besitz artikulieren (Gegensatz von Sein und Haben), etwa als Ruhm oder Geld. Nachfolgende Passage (Hervorhebung J.S.) bildet das Herzstück für den schachinteressierten Leser und nicht nur für ihn:

"Nehmen wir das Beispiel eines hochintelligenten, siebenjährigen Kindes, dem ich das Schachspielen beibringen möchte, obwohl das Kind kein besonderes Verlangen danach hat, das Spiel zu erlernen. Das Kind hat jedoch großes Verlangen nach Süßigkeiten und kaum eine Gelegenheit, dieses Verlangen zu stillen. Ich sage dem Kind daher, dass ich ihm für eine Mark Süßigkeiten schenke, wenn es einmal in der Woche Schach mit mir spielt; außerdem sage ich ihm, dass ich so spielen werde, dass es für das Kind schwer, aber nicht unmöglich sein wird, zu gewinnen, und dass es, wenn es gewinnt, zusätzlich Süßigkeiten im Wert von einer Mark bekommt. Auf diese Weise motiviert, spielt das Kind und spielt, um zu siegen. Aber solange nur die Süßigkeiten dem Kind einen guten Grund zum Schachspielen liefern, hat es keinen Grund, nicht zu betrügen, aber allen Grund zu betrügen, vorausgesetzt, es ist dazu in der Lage. Es wird jedoch, so können wir hoffen, eine Zeit kommen, in der das Kind in den schachspezifischen Gütern – im Erreichen einer gewissen hochspezialisierten Art von analytischem Geschick, strategischer Vorstellungskraft und Kampfstärke – neue Gründe findet; Gründe dafür, nunmehr bei einer bestimmten Gelegenheit nicht einfach zu gewinnen, sondern sich darin hervorzutun, was das Schachspiel verlangt. Wenn das Kind jetzt betrügt, schlägt es nicht mich, sondern sich.

Es gibt zwei Arten von Gütern, die möglicherweise im Schachspiel erreicht werden können. Zum einen gibt es Güter, die äußerlich und zufälligerweise mit dem Schachspiel und anderen Praxisarten durch Zufälle innerhalb der sozialen Umgebung verbunden werden – im Falle des vorgestellten Kindes die Süßigkeiten, im realen Fall für Erwachsene Güter wie Prestige, Status, Geld. Es gibt immer alternative Wege, solche Güter zu erreichen, und ihre Erlangung ist niemals ausschließlich an eine bestimmte Praxis gebunden. Auf der anderen Seite stehen Güter, die der Praxis des Schachspiels inhärent sind; sie können nur durch das Spielen dieses oder eines anderen Spiels dieser Art erreicht werden. Wir bezeichnen sie aus zwei Gründen inhärent: erstens können wir uns sie nur … in Kategorien des Schachs oder eines anderen Spiels dieser speziellen Art und mit Hilfe von Beispielen aus solchen Spielen spezifizieren…; zweitens können sie nur durch die Erfahrung der Teilnahme an der betreffenden Praxis bestimmt und erkannt werden. Wer nicht über die entsprechende Erfahrung verfügt, ist daher nicht fähig, über inhärente Güter zu urteilen" (252f.).

Für die Tugendlehre sind die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen doppelt interessant. Einerseits entpuppen sich Tugenden als untrennbare Bestandteile einer Praxis mit inhärenten Gütern, andererseits sind sie selbst Resultat einer solchen geglückten Praxis; sie bedingen sich wechselseitig. Um die inhärenten Güter einer Praxis zu erreichen, muss ich mich deren "Maßstäben für die Vortrefflichkeit" unterordnen, die wiederum historisch und als Wettbewerb festgelegt werden, d.h. man muss sich mit der Geschichte der Praxis aktiv auseinandersetzen – dies verleiht die Urteilsfähigkeit – und sich an den Besseren messen. Wenn ich nicht in der Lage bin, die Überlegenheit anderer zu akzeptieren, die besser wissen, welcher Zug in einer bestimmten Situation der bessere ist, werde ich nie in der Lage sein, selbst einen richtigen Zug einzuschätzen oder gar spielen zu können. Diese Einordnung ist bereits ein tugendrelevanter Akt: "Es gehört zum Begriff der Praxis…, dass ihre Güter nur dadurch erlangt werden können, dass wir uns in dieser Praxis in unserem Verhältnis zu anderen Beteiligten einordnen. Wir müssen lernen zu erkennen, was wem zusteht" (256).

Mit seiner zentralen Aussage, das sei in Parenthese angefügt, wird die Lauterbarkeit des behavioristischen Konzepts angezweifelt, das eben nur rein äußerlich Menschen erziehen kann und mutmaßlich auch nur äußerliche Menschen erzieht. Nur dort, wo die inhärenten spezifischen Güter eine Eigendynamik entwickeln, kann die jeweilige Praxis zur moralischen Vervollkommnung dienen. Die behavioristische Idee der positiven Stimulans oder der operativen Konditionierung mag als Einstieg in einen Erziehungs- und Lernprozess ein möglicher Weg sein, aber sie wird, verabsolutiert, nie zur Erlangung inhärenter Güter befähigen, falls diese nicht ihre Eigendynamik entfalten und falls die jeweilige Person nicht die notwendige kognitive, emotive und empirische Weite besitzt, diese Eigendynamik zu erfassen. Der prominenteste Fall im Schachkomplex dürfe das Lebendexperiment Laszlo Polgars mit seinen drei Töchtern sein, das Beispiel gemacht hat und zu mehr oder weniger kompetenter Nachahmung inspirierte; im heutigen deutschen Nachwuchsbereich muss man bei einigen "Talenten" befürchten, dass es ihnen, aufgrund fehlender Aufnahmemöglichkeiten, verwehrt ist und sein wird, die inhärenten Güter des Schachs zu erreichen, seien sie auch noch so erfolgreich. Fast ist es banal, auf die Vielfalt von Praktiken hinzuweisen, deren spezifische inhärente Güter denen des Schachs gleichwertig oder gar überlegen sind und die in monokulturellen Erziehungsprojekten zudem verloren gehen.

Umgekehrt muss man sich fragen, ob die heute Erfolgreichen tatsächlich die inhärenten Güter des Schachs assimiliert haben oder ob nicht Geld und Ruhm als äußere Güter die wahre Triebfeder einiger (professioneller) Spieler sein könnten. Es gibt freilich gute Gründe anzunehmen, dass lediglich Spieler mit ausgeprägter Sensibilität für inhärente Güter tatsächlich in der Lage sind, im spieltechnischen Spitzenbereich mitzuhalten, auch wenn diese Konstitution durch die Dominanz äußerer Güter mitunter verdrängt wird. Beides kann sich überlappen, ein Faktum, das in MacIntyres Betrachtung sicherlich zu kurz kommt. Man wird gerade die Grenzphänomene, Spieler wie Morphy, Aljechin, Fischer und Kasparow nicht begreifen können, wenn man das Zusammenspiel von inhärenten und äußeren Gütern vernachlässigt. Aber sie hätten nie und nimmer werden können, was sie wurden, wenn sie nicht die innere Faszination des Schachs wie nur wenige erfassten und vielleicht sogar überinterpretiert hätten. Gerade darin liegt ihre moralische Ambivalenz begründet und diese wiederum macht sie nicht nur als Schachspieler bedeutend, denn obwohl sie die inhärenten Güter radikalisierten, dürften sie schwerlich für MacIntyres Kriterium in Frage kommen:

"Wir müssen mit anderen Worten die Tugenden der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Ehrlichkeit als notwendige Bestandteile jeder Praxis mit inhärenten Gütern und Maßstäben für Vortrefflichkeit akzeptieren. Denn dies nicht zu akzeptieren, bereit zu sein, zu betrügen, wie unser fiktives Kind am Anfang bereit war, beim Schachspiel zu betrügen, verwehrt uns insofern, die Maßstäbe für Vortrefflichkeit oder die der Praxis inhärenten Güter zu erreichen, als die Praxis dadurch außer als Mittel zur Erreichung äußerlicher Güter sinnlos wird" (256).

Tatsächlich warnt er wenig später davor, die beiden Bereiche zu vermischen und man kann diese Warnung nicht deutlich genug unterstreichen, gehört es doch noch immer zum, vermutlich wahrnehmungspsychologisch zu begründenden Usus, technische Fertigkeiten mit moralischen Eigenschaften zu korrelieren. Jemand, den wir für eine Fähigkeit bewundern, eine spezielle Ausführung, trauen wir instinktiv auch auf andern Gebieten zu, kompetent zu sein – das ist das Prinzip der Prominentenwerbung.

"Meine These impliziert nicht, dass große Geiger nicht bösartig und große Schachspieler nicht niederträchtig sein könnten" (259).

Bezüglich der inhärenten Güter des Schachspiels ist die technische Fertigkeit überhaupt nicht relevant. Ob 1200 oder 2500 ELO ist a priori bedeutungslos. Der schwache Spieler kann uns mehr über das Schach zu sagen haben als der stärkste, er kann moralisch integerer sein, er kann die inhärenten Güter des Schachs viel besser verwirklicht haben, als jener, muss es freilich nicht. Allerdings muss er dazu erst die Superiorität des anderen anerkannt haben.

"Stellen wir uns einen ungewöhnlich guten Schachspieler vor, dem es nur auf das Gewinnen ankommt, und das in ausgeprägter Form. Seine Fähigkeiten machen ihn den Großmeistern ebenbürtig. Er ist also ein großer Schachspieler. Aber da das, worum es ihm geht, nur das Gewinnen ist – und vielleicht die zufällig mit dem Gewinnen verbundenen Güter wie Ruhm, Ansehen und Geld -, ist das Gut, auf das es ihm ankommt, in keiner Weise spezifisch für das Schachspiel oder Spiele ähnlicher Art, wie es ein Gut sein muss, das in dem Sinn, in dem ich den Ausdruck gebraucht habe, der Praxis des Schachspiels inhärent ist. Denn er hätte genau das gleiche Gut, nämlich das Gewinnen und dessen zufällige Belohnungen, auf jedem anderen Gebiet erreichen können, auf dem es Wettkämpfe und Sieger gibt, wäre er in der Lage gewesen, ein vergleichbares Niveau an Fähigkeiten auf diesen Gebieten zu entwickeln. Daher ist das, worum es ihm geht, und was er als sein Gut erreicht, nicht die Art von Vortrefflichkeit, die dem Schachspiel eigen ist, und nicht die Art von Freude, die sich zusätzlich zu einer solchen Vortrefflichkeit einstellt, ein Gut, das auch weit schlechtere Spieler auf ihrem Niveau erreichen können" (364).

Wichtiger als die technische Fähigkeit ist die Tugend, sie vor allem ist Voraussetzung für das Erreichen der inhärenten Güter:

"…dass ohne Tugenden im Kontext der Praxis nur das erkannt werden kann, was ich als äußerliche Güter bezeichnet habe, auf keinen Fall aber der Praxis inhärente Güter" (262).

Desweiteren besteht die Gefahr, die Praxis mit den Institutionen zu verwechseln – "Schach, Physik und Medizin sind Beispiele für Praxis; Schachklubs, Laboratorien, Universitäten und Krankenhäuser sind Institutionen. Institutionen befassen sich bezeichnenderweise- und notwendigerweise mit dem, was ich als äußerliche Güter bezeichnet habe. Sie beschäftigen sich damit, Geld und andere materielle Güter zu erwerben; sie sind nach Macht- und Statuskategorien gegliedert und verteilen Geld, Macht und Status als Belohnung" (260). -, wenngleich Institutionen wichtig sind, um eine Praxis am Leben zu erhalten. Andererseits neigen Institutionen aufgrund der Äußerlichkeit zur Korruption der Praxis und es bedarf erneut der Tugenden (Ehrlichkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit) der Macht der Institutionen zu widerstehen.

 

Abschließend wollen wir uns in aller Kürze noch einmal der Frage widmen, welches die inhärenten Güter des Schachs sind und wie sie innerhalb eines Tugendkataloges zu bewerten sind. Zur Erinnerung, MacIntyre verstand unter inhärenten Gütern, die "Vortrefflichkeit", die der spezifischen Form von Praxis angemessen und durch sie definiert sind und er führt bezüglich der schachspezifischen Güter das "Erreichen einer gewissen hochspezialisierten Art von analytischem Geschick, strategischer Vorstellungskraft und Kampfstärke" an. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen und die Schachapologeten haben sich stets als sehr erfinderisch erwiesen [6] in der Zuordnung von positiven Eigenschaften, die dem Spieler aus der Beschäftigung mit dem Schach erwachsen sollten. Sinn und Unsinn solcher Schlussfolgerungen zu besprechen, kann hier nicht der Ort sein [7], stattdessen soll das Augenmerk auf jene wichtige Einschränkung gerichtet werden, die MacIntyre sehr zu recht macht: die "gewisse hochspezialisierte Art". Ganz gleich welche Tugenden und Fähigkeiten man mit dem Schach (oder jeder anderen Praxis) attribuiert, es handelt sich stets um eine hochspezialisierte Art und beim Schach insbesondere, denn die allgemeine Lebensrelevanz des Schachs ist doch äußerst beschränkt, verglichen etwa mit der Musik, den Künsten, der Philosophie etc. Diese Begrenzung ergibt sich z.T. schon zwangsläufig aus der Exklusivität jeder Praxis, umso mehr, wenn es sich um eine hochspezialisierte Praxis handelt. Die Güter, die der Praxis des Schachspiels inhärent sind, "können nur durch das Spielen dieses oder eines anderen Spiels dieser Art erreicht werden. Wir bezeichnen sie aus zwei Gründen als inhärent: erstens können wir sie nur in Kategorien des Schachs oder eines anderen Spiels dieser speziellen Art und mit Hilfe von Beispielen aus solchen Spielen spezifizieren…, zweitens können sie nur durch die Erfahrung der Teilnahme an der betreffenden Praxis bestimmt und erkannt werden. Wer nicht über die entsprechende Erfahrung verfügt, ist daher nicht fähig, über inhärente Güter zu urteilen" (253). Damit werden die zu erreichenden inhärenten Güter des Schachs nicht nur in ihrer Bedeutung relativiert, indem sie auf einen Mikrobereich des menschlichen Handelns bezogen werden, sondern sie werden auf der anderen Seite auch aufgewertet, denn aus ihrer Erlangung ergibt sich der allgemeine Nutzen für die "gesamte Gemeinschaft, die an der Praxis teilhat" (255). Und dies beschränkt sich nicht nur auf die hervorragendsten Exemplare der Gemeinschaft und deren bereichernde Leistungen und Erkenntnisse, von denen die Gemeinschaft profitiert, sondern auch auf die einfachen Mitglieder, die mit der Verwirklichung der inhärenten Güter einen wesentlichen atmosphärischen Beitrag leisten!

Alasdair MacIntyre
(Bildquelle: http://www.sas.ac.uk/philosophy/PLLP.htm)

Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/M. 1997. (1981) 381 Seiten

 

--- Jörg Seidel, 01.10.2003 ---


[1] "…weil sich in der Praxis … die allgemeine implizite Erkenntnis durchsetzt, dass Ansprüche auf Objektivität und Sachlichkeit nicht erfüllt werden können" (35).
"…es ist wichtig festzuhalten, wie oft in ganz unterschiedlichen, modernen philosophischen Zusammenhängen etwas auftaucht, das der versuchten emotiven Verkürzung der Moral auf persönliche Vorlieben sehr ähnlich ist – auch in den Werken derjenigen, die sich gar nicht für Emotivisten hielten" (37).
[2] "Moralische Urteile verlieren dann ihren eindeutigen Status, und die Sätze, die sie ausdrücken, verlieren parallel dazu ihre umstrittene Bedeutung. Solche Sätze stehen dann als Ausdrucksformen einem emotivistischen Selbst zur Verfügung, das seinen sprachlichen und praktischen Standpunkt in der Welt verloren hat, da ihm die Anleitung durch den Kontext fehlt, in welchem sie ursprünglich zu Hause waren" (87).
"Die Aufklärung ist folglich die eine Epoche par excellence, in der es den meisten Intellektuellen an Selbsterkenntnis fehlt … bei dem die Blinden ihr eigenes Sehvermögen bejubeln" (114).
[3] Vgl. etwa: Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997. S. 362
[4] An dieser Stelle verrät sich am deutlichsten MacIntyres philosophisches Selbstverständnis als Kommunitarist. http://www.gallileus.info/gallileus/disciplines/WirtschSozialWi/Soziologie/campaigns/Campus_2/
104279734483/order

[5] Offensichtlich geht MacIntyre davon aus, dass Handlungen von Individuen, die sich einem klassischen Tugendkatalog verschrieben haben und sofern sie konsequent handeln, in jeder Entscheidungssituation voraussagbar wären. Wer Sokrates verstanden hat, kann sich über dessen Entscheidung, den Schierlingsbecher zu leeren nicht ernsthaft wundern. Interessanterweise haben aber gerade dies Sokrates' hervorragendste Schüler getan und ihn zur Flucht zu überreden versucht. Auch diese Idee steht also vorerst unter dem Verdacht, eine Fiktion zu sein. Selbst Personen, deren Leben adäquat zu deren ausgearbeiteten und wohlbegründeten Moralauffassung zu verlaufen schien und scheint - man denke an Sokrates, Diogenes, Seneca, den jungen Luther…(derartige Denker, natürlich unheroisch, gibt es auch heute noch: Drewermann, Hösle… mögen dem entsprechen) - könnte man entgegenhalten, dass sie einfach noch nicht derjenigen (Extrem-)Situation gegenüberstanden, die sie zu Verletzungen führen würde.
[6] …aber nur wenige haben die Tiefendimension begriffen; Artur Jussupow gehört zu diesen, wenn er aufzählt "die Intuition, der sportliche Kampfgeist, das logische Denken,… die Konzentrationsfähigkeit, das Denken, Disziplin, die Fähigkeit Entscheidungen zu treffen, das Erlernen auch mit der Niederlage zu leben, mit Informationen zu arbeiten", aber alles unter die entscheidende Prämisse stellt: "Schach braucht auch viel Liebe". (Rochade Europa 7/03, 23).
[7] Einiges wurde bereits angedeutete in: Kinderschachpsychologie


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