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10. September 2001

Sieg und Niederlage auf Englisch -
victory and defeat in German

"Ein Engländer ist nie im Frieden, als wenn er im Streit ist."
altes deutsches Sprichwort

England schlägt Deutschland 5:1! Wie würde ein deutscher Fußballfan diese Nachricht lesen? Ihm fiele das Resultat ins Auge: "5:1, schrecklich, wie tief muss der deutsche Fußball gefallen sein. Und ausgerechnet gegen England!" und was liest ein englischer Fan? "England schlägt Deutschland - endlich haben wir es den Krauts gezeigt, unser Sieg gegen Hitler war also doch kein Zufall. Und noch dazu 5:1" - oder so ähnlich. Wenn England gegen Deutschland spielt, dann ist auf der Insel Ausnahmezustand und dann wird in den Annalen geblättert, und nicht nur die denkwürdigen Fußballereignisse der Jahre '56 und '66 stehen zur Debatte, nein, es wird über die beiden Weltkriege, die Weimarer Republik, über Hitler und Goebbels debattiert, da werden historische Gesetze entdeckt, welche die langfristige Überlegenheit der Engländer über die Deutschen und die Europäer überhaupt beweisen. Man ist mit Feindbildern schnell bei der Hand, ja, man hat sogar den Eindruck, als könne man nur gegen Feinde gewinnen. Und während man sich im deutschen Lager die Wunden leckt und fast nur über die eigene Schmach, auf jeden Fall nicht über England spricht, so geschieht hier - das selbe! Es ist nicht der Sieg, es ist nicht das eigene Team, oder doch nur an zweiter Stelle, sondern es ist die Niederlage Deutschlands, die man feiert. Schon die Europameisterschaft wurde kaum als Misserfolg eingeschätzt, obwohl man die Vorrunde nicht überstand, denn: man hat Deutschland geschlagen! Und Alan Shearer - Schütze des einzigen Tors - wird diesen Ruhm mit in sein Grab nehmen, das ist so sicher wie das Amen in der anglikanischen Kirche. Er ist ein gemachter Mann, noch in 50 Jahren wird Shearer jener sein, der gegen Deutschland das Tor schoss. Michael Owen schließlich stieg mit seinen drei Toren zum Olymp hinan, auch er wird nun als Halbgott verehrt. Pressestimmen:
Sport Life: "Red-hot Owen sinks Germans"
The Sun: Oh mein Gott. Deutsche erlitten ihren Wurst-Albtraum.
The Mirror: Svengland, Svengland, Svengland. Jürgen Klinsmann, Otto von Bismarck, BMWs, Schwarzwälderkuchen, Roggenbrot, Ludwig van Beethoven ... Eure Jungs haben eine höllische Abreibung erhalten.
Daily Star: Erhebt Euch, Sir Michael. England-Fans fordern, dass Michael Owen zum Ritter geschlagen wird.
Daily Mail: Goldener Owen. Die Nacht, in der die Weltordnung erschüttert wurde.
The Independent: Englische Fans ziehen famosen Sieg ein und lassen wundenleckendes Deutschland zurück.
The Guardian: Endlich können wir 1966 vergessen.

Bedarf es noch weiterer Beweise? Nun, es gibt sogar ein sich gut verkaufendes Buch, das erst kürzlich als Taschenbuch auf den Markt kam:

          

Verlagstext: David Downing's The Best of Enemies: England v Germany, (A Hundred Years of Anglo-German Football Rivalry) £7.99
"An England vs Germany football match is one of the most passionate and controversial sporting events there is - whether it's a club match or international. In this book, David Downing examines the history of such clashes, unearthing the stories, the statistics and the footballing trends."

Und was den Engländern im Fußball die Deutschen sind, das sind im Schach die Russen. Unter Russland versteht man alles, was östlich Polens liegt und einst unter der Diktatur Lenins und Stalins litt. Auch hier der Geschichtsfaktor. Schließlich saß Churchill mit Stalin an einem Tisch und sah nicht immer gut aus. Das schmerzt noch heute. Die jüngeren Fußballereignisse waren wie ein Déjà-vu und erinnerten frappant an Englands glorreichste und bitterste Schachstunde der Neuzeit. Zwar hatte man mit Howard Staunton (1810-1874) schon einmal einen überragenden Spieler, den Raymond Keene in einem Anfall von Patriotismus kurzerhand zum Weltmeister machte [1] - wiewohl anerkanntermaßen dieser Titel erstmals 1886 an Steinitz verliehen wurde -, doch wurde man mit diesem Staunton nicht ganz glücklich. Makel befleckten seine reine Weste, unbritische Makel: er verlor gegen die deutschen Adolf Anderssen und Baron Heydebrandt von der Lasa und weigerte sich, Morphys Herausforderung zu einem Zweikampf anzunehmen, es mangelte ihm an Kampfeswille. Man musste fast anderthalb Jahrhunderte warten, bis mit Nigel Short ein würdiger Nachfolger gefunden schien. 1993 war es dann soweit, im Rahmen von Kasparows PCA wurde die Weltmeisterschaft zwischen Kasparow und Short ausgespielt, die erste übrigens außerhalb der FIDE. Hier begann die Trennung der Schachverbände, die noch heute mit den zwei Weltmeistern Anand und Kramnik die Schachwelt teilt.

Es ist eine in der Welt etwas vergessene WM, der Glanz der einstigen Titanenkämpfe ist verblasst und spätestens mit dem Systemduell Fischer - Spasski ging diese klassische Ära zu Ende. Die Geschichte wiederholte sich auch hier ein zweites Mal als Farce (Karpow - Kortschnoi, Karpow - Kasparow). Nicht der Verlust an qualitätsvollem Schach ist zu beklagen, sondern der an weltmännischer Souveränität und personeller Originalität. Elegante Größen wie Steinitz, Lasker oder Capablanca sind kaum noch auszumachen. So musste bei besagtem Match vor allem das Systemschema erneut herhalten. Im Lager Shorts unterließ man keine Gelegenheit, Kasparow als ehemaligen Parteikader, als Kind des Sowjetregimes, als opportunistischen Wendehals zu diskreditieren. Nicht nur Englands Ehre stand auf dem Spiel, sondern das der ganzen westlichen Welt. Short, der in den Medien seit seiner Kindheit als große Hoffnung, das englische Schach wiederzubeleben, aufgebaut wurde, war sich dann auch nicht zu schade in die laufende Kamera zu sprechen: Kasparow werde immer Kommunist bleiben, man habe es hier mit einem früheren Parteimitglied zu tun ... sein Protektor sei aserbaidschanischer KGB-Chef und dergleichen mehr. [2]

Mit für ein Schachspiel unvergleichlichem technischem Aufwand wurde das Match im Londoner Savoy Theater, von "The Times" großzügig gesponsert, inszeniert. Tägliche Live-Übertragung, ausführliche Analysen auf Channel 4 mit GM King, GM Speelmann (Shorts Sekundant), GM Keene und der sexy-molligen Carol Vordermann (die später für "slim fast" Werbung machte), halbstündige Sendungen auf anderen Sendern - es war flächendeckend. Ein Traum für alle Schachfans, wenngleich die Analysen oft lächerlich banal waren, denn BBC hatte ein Problem: wie kann man das Spiel dem unkundigen Zuschauer interessant machen. Richtig: durch kinderleichte Analysen, Regelkunde etc. und durch Feindbilder. Dominic Lawson, ein Freund Shorts und täglicher Begleiter hat darüber ungewollt ein aufschlussreiches Buch geschrieben: "The inner game". Es beginnt mit Ausreden, die sich abzeichnende Niederlage wird vorab legitimiert. Es wird über die sowjetische Schachschule gesprochen, die noch immer existiere und aus der man, nach Jahren des Drills, nur als Meister hervorgehen könne. Tenor: Wenn Nigel diese Möglichkeiten gehabt hätte, dann... Und Kasparow ist sowieso nur ein Schachmaschine. Danach geht man zu Verleumdungen über: Da werden angebliche Bestechungsversuche sowjetischer Spieler inkl. Kasparow erwähnt, sein unfaires Verhalten am Brett beschrieben, es werden Verschwörungstheorien entworfen, selbst ein Inzestverdacht mit Mutter Klara angedeutet und schließlich zeigt man den Sportsgeist des "Affen" [3]: "Kasparov will always have a Soviet cast of mind. Those who where brought up under that system all have the same warped outlook: ‚You fuck with my wife - I kill you. I fuck with your wife - you keep quiet if you know what's good for you.'" [4] Dies die Worte Shorts. Kasparov hatte schon Jahre zuvor ein dickes Buch darüber geschrieben - "Child of change" [5] -, um genau jene Vorwürfe zu entkräften; es hat, in Shorts Augen, offensichtlich nichts genutzt. Ganz typisch englisch saß man dann wieder zusammen im Studio und teilte gegenseitig Komplimente aus.

Man wird sich vielleicht noch erinnern, wie das Match verlief. Gleich die erste Partie brachte die Ernüchterung, als Short bei guter Stellung wenige Sekunden vor der Zeitkontrolle beim 38. Zug das Remisangebot Kasparows ausschlug, um gleich darauf im 40. Zug durch Zeitüberschreitung zu verlieren. Ein dummer Verlust, wovon er sich nie wieder recht erholte. Spiel 3, 4, 7 und 9 gingen an Kasparow, der zur Halbzeit mit 7,5 zu 2,5 schon entscheidend führte. Erst als er den Spargang einlegte, gelang Short im 15. Spiel der erste und letzte ganze Punkt, den Kasparow postwendend zurückeroberte. Englands Schmach war deutlich: 12,5 zu 7,5 - fünf ganze Punkte!

Wie aber wurde diese nationale Tragödie bewältigt? Hier ist der Unterschied zur deutschen Mentalität gut sichtbar. "The Times" schrieb nach der historischen Fußballnacht wohl zu Recht: "Ein Debakel, ein Albtraum, eine Schande - das sind nur einige der gestrigen deutschen Schlagzeilen. Dies würde tiefe Wunden hinterlassen, sagte Günter Netzer. Das war typisch für Deutschlands Kulturpessimismus - seine selbstzerstörerische Tendenz nach jedem Rückschlag: Als ob ein einziges Spiel die Tatsache verdüstern könnte, dass Deutschland die WM-Qualifikationsgruppe immer noch anführt." Selbstzerstörerische Tendenz - das ist gut beobachtet. Ganz anders geht man in England mit Niederlagen um. Auch wenn die englischen Helden verlieren, sie bleiben doch Helden, die eben einer bösen Macht unterlagen. Gäbe es noch Fairness auf der Welt, dann, ja dann... Statt mit Wut und Empörung, statt mit dem alldeutschen Ruf nach rollenden Köpfen und neuen Männern, die das Land brauche, pflegt man auf der Insel ausgiebig die Niederlagen, ja, man genießt sie. Eine seltsam anheimelnde Stimmung des Mitleides greift um sich und eint das Land, man verzeiht und bestätigt sich in der geschlossenen englischen Gesellschaft des wichtigsten gemeinsamen Wertes: des Englischseins. So konnte es Short nach der Niederlage passieren, dass er auf der Straße angesprochen wurde: "We're proud of you. You're a real fighter! You aren't going to throw the towel." Lawson erklärt sich das seltsame Phänomen nicht unoriginell so: "But the British public admired something other than victory: they admired guts, never-say-die fighting spirit, heroic failure and, still as always, the underdog. That is why, while the press consistently ridiculed Frank Bruno, the London boxer still retained enormous public affection and support, far greater than more successful fighters who seemed to have less spirit. That is why footballer like Paul Cascoigne excites mass popular admiration, long after the pundits have labelled him a disappointment. The British - and perhaps, only the British - are not so much interested in technique, or even in winning or losing: what they admire in their sportsmen is heart."
Und jetzt kommt's: "It is an attitude not confined to the sporting arena. British popular history has not so much to say about our national victories. But it lavishes its attention on heroic defeats or setbacks. The evacuation of Dunkirk, the sufferings of the Blitz, are far more vivid in the popular imagination than any of our victories in the last war." [6]
Peter Sloterdijks Neudefinition der Nation als Erregungs- und Stressgemeinschaft [7] hat vielleicht nirgendwo solche Aktualität wie auf der Insel.

--- Jörg Seidel, 10.09.2001 ---


The Carol Vorderman Network
http://my.genie.co.uk/o44wen/cv_home.html

World Chess Championship Highlights 1993 Kasparov - Short PCA Title Match Highlights
http://www.mark-weeks.com/chess/93ks$$.htm


[1] Keene, R.D/Coles, R.N. Howard Staunton the English world chess champion. St. Leonards on Sea. 1975
[2] vgl. Keene, Raymond/King Daniel: Kasparov - Short. The inside story. Grandmaster Video. Woking 1993
[3] "Nigel Short calls Kasparow: Animal, ape, arrogant arsehole, Asiatic despot, baboon, bastard, incapable of normal human relationship, nasty, powerhungry, thoroughly unpleasant." Aus: Kingpin. No. 21 1993. S. 24
[4] Lawson, Dominic: The inner game. London 1993. S. 17 Übersetzung: "Kasparow wird immer diese sowjetische Wesensart haben. Jene, die unter diesem System aufwuchsen, haben alle diese perverse Auffassung: You fuck with my wife - I kill you. I fuck with your wife - und Du verhältst dich ruhig, wenn du weißt, was gut für dich ist." Wie sehr dies Shorts eigene Sichtweise ist, darauf weist eine erst kürzlich im "Sunday Telegraph" gegebene Aussage über seinen englischen Erzfeind, Tony Miles und zu dessen Nachruf (!), hin: "I obtained a measure of revenge not only by eclipsing Tony in terms of chess performence, but also by sleeping with his girlfriend, which was definitley satisfying but perhaps not entirely gentlemanly" (KingPin 35, S. 3).
[5] dt.: Kasparow, Garri: Politische Partie. München 1987
[6] ebd. 194f. Übersetzung: Aber die britischen Menschen bewunderten etwas anderes als den Sieg: sie bewunderten Schneid, den gib-nie-auf Kampfgeist, heroisches Versagen und, wie schon seit je, den Benachteiligten. Deshalb behielt Frank Bruno, der Londoner Boxer, die Sympathien und die Unterstützung der Leute weit mehr als erfolgreichere Boxer mit weniger Kampfsinn und das, obwohl sich die Presse ständig über ihn lustig machte. Deshalb erregt ein Fußballer wie Paul Gascoine massenhafte Bewunderung, lange noch nachdem ihn die Experten das Etikett ‚Enttäuschung' anhängten. Die Briten - und wahrscheinlich nur die Briten - sind weniger an Technik interessiert, noch nicht mal am Gewinnen oder Verlieren: was sie an ihren Athleten bewundern, ist das Herz. 
Dies ist einen Haltung, die nicht auf die Sportszene begrenzt bleibt. Die beliebte britische Geschichte hat nicht allzu viel über unsere nationalen Siege zu sagen, sondern verbreitet sich reichlich über heldenhafte Niederlagen und Rückschläge. Die Aufgabe Dünkirchens, die Leiden des Blitzkrieges sind weit wesentlicher im öffentlichen Bewusstsein lebendig, als einer unserer Siege während des letzten Krieges."
[7] Sloterdijk, Peter: Der starke Grund zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes. Frankfurt 1998


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

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