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Einige Erfahrungen
mit einem
Internet-Fernschach-Server
Perhaps I am
going too far, but it often seems that we become so
used to being entertained that we have lost touch with
our capacity to entertain ourselves. This applies in
many domains of life, and is shown for instance by the
fact that more people watch cooking programs on television
than actually cook.
GM Jonathan
Rowson
Als ich vor drei Jahren Tony Corkett,
einen starken englischen IM fragte, wie man denn –
als gewöhnlicher Patzer – seine Spielstärke
endlich auf ein erträgliches Maß anheben
könne, da gab er mir zwei Tipps: Analysiere Aljechins
Partien und spiele Fernschach. So zumindest habe er
angefangen, als er selbst vor diesem Problem stand.
Und auch wenn er heute kaum noch etwas ins Schach investiere,
so sei das Gespeicherte doch noch immer genug, um bei
diversen Open vordere Plätze zu erreichen.
Besonders den Fernschachhinweis fand
ich nützlich und überzeugend, so wie Tony
ihn mir darlegte; nächtelanges Grübeln über
eine spannende Stellung, ein besseres Positionsverständnis,
ein tieferes taktisches Auge, vor allem eine breitere
Eröffnungskenntnis, all das versprach das Fernschach.
Nun, Fernschach ist nicht mehr das, was
es einmal war. Kaum einer sitzt noch vor dem Brett zum
Analysieren, füllt dann seine Karte aus und wartet
zwei Monate, bis der argentinische oder sowjetische
Schachfreund- und Gegner antwortet, Zeit genug, um immer
tiefer und tiefer in die Geheimnisse einzudringen. Heutzutage
spielt man Fernschach auf dem Server, fern ist der Gegner
nur noch in einer nebensächlichen Wirklichkeit,
in der wirklichen Virtualität ist er hier und jetzt,
vor allem jetzt. Das war die früheste Erfahrung,
die ich machen musste, nachdem ich mich endlich auf
einem Server angemeldet hatte.
Der erste Eindruck war gut, sehr gut
sogar. Freundlich wurde ich als Gast von einem älteren
Mitglied begrüßt und hatte die Genugtuung,
ihn gleich in einer 15-zügigen Blackmar-Diemer-Blitzpartie
vom Brett zu fegen. Ich suchte mir ein lustiges Pseudonym
aus und spielte in den nächsten Tagen eine ganze
Reihe von Livepartien, nicht zuletzt, um die Bedienung
des Servers kennen zu lernen.
Schließlich schrieb ich mich für
das erste Fernschachturnier ein. Man hatte 30 Tage Bedenkzeit
für 10 Züge, das erschien ausreichend, zumal
die Eröffnung oftmals innerhalb weniger Stunden
runtergespielt werden konnte. Waren die 10 Züge
getätigt, so summierten sich die übrig gebliebenen
Tage zu den nächsten 30. Das hatte später
zur Folge, dass einige Partien tatsächlich fast
ein Jahr benötigten. Einige Gegner nutzten diese
Regelung in unfairer Weise: Längst verlorene Partien
wurden über Wochen und Monate hingeschleppt. Alle
Partien des Turniers waren bereits entschieden, nur
einer meiner Gegner glaubte ein einfaches Endspiel –
meine zwei Türme gegen sein Einzelexemplar –
ewig hinziehen zu müssen, anstatt es fairerweise
aufzugeben. Aufgrund derartiger Erfahrungen wurde die
Zeitregelung später geändert; die restlichen
Tage verfielen, zehn Züge waren nun immer in 30
Tagen zu absolvieren.
Zu diesem Zeitpunkt, circa ein Jahr später, hatte
sich das Verhalten auf dem Server deutlich geändert.
Es war nun nahezu unmöglich Livepartien zu spielen.
Zwar hatte sich die Spielerzahl nahezu verzehnfacht,
aber niemand schien mehr Interesse an einer Partie Mann
gegen Mann zu haben. Die meisten Teilnehmer loggten
sich nur für einen kurzen Moment ein, um ihre Fernschachpartien
auf neue Zugeingänge zu kontrollieren und waren
danach – alienartig – wieder verschwunden.
Ein, zwei Stunden später sah man sie wieder für
einen Moment auftauchen, wenn sie ihre Antwortzüge
abgaben. Kommunikation wurde nicht groß geschrieben.
Ich selbst hatte mittlerweile mehrere Turniere am Laufen
und war daher selbst gezwungen, tagtäglich nachzuschauen,
um nicht wertvolle Bedenkzeit zu verlieren. Schach war
plötzlich zum Muß geworden, aber darüber
dachte man schon gar nicht mehr nach, sondern erledigte
die Partien routiniert. Man wurde selbst zum Alien.
Auch der Umgangston hatte sich deutlich
geändert. Vom positiven Eindruck des ersten Mal
blieb nicht viel übrig. Die meisten Spieler hielten
es nicht einmal für nötig, sich zu Beginn
einer Partie vorzustellen oder aber, wie das ja bei
jeder Nahschachpartie gang und gäbe ist, den Gegner
zu begrüßen, ihm Glück zu wünschen
etc. Man fing einfach an, ganz als ob man gegen einen
Computer spielte. Und tat man etwa etwas anderes? Bald
wurde deutlich, dass der Gegner in fast allen Fällen
tatsächlich kein Mensch, sondern eine Maschine
ist. Das ist gar nicht mal als Vorwurf gemeint, denn
ich selbst war mittlerweile längst zum Computerspieler
geworden. Anfangs nahm ich mir vor, Fritz nur zu befragen,
um grobe Fehler zu vermeiden. Ich überlegte mir
einen Zug und bevor ich ihn tätigte, ließ
ich Fritz kontrollieren. Nach und nach, besonders mit
der Vielzahl der Partien, ließ ich mich auch von
Fritz zu anderen Zügen "überreden",
mir immer wieder sagend: "In der Realpartie, mit
entsprechender Bedenkzeit, hättest du den auch
gefunden". Umgekehrt wurden eigene Züge –
die nun mal meist schwächer sind – sofort
vom Gegner bestraft. Es ist ja nicht schwer nachzuvollziehen,
dass der Gegner eben auch ein Computer war. Wie sonst
kann ein 1800er eine sechszügige hochkomplizierte
Mattkombination inklusive Opfer innerhalb weniger Minuten
sehen? Da war man schon in der fatalen Logik behaftet:
Um überhaupt eine Chance gegen die Computer am
anderen Ende der Strippe zu haben, musste man selbst
den Computer zu Rate ziehen. Spieler, die hartnäckig
darauf verzichteten, verloren bis zu 90% aller Partien
– ein fast eindeutiger Beweis, dass 90% aller Partien
elektronisch gesteuert wurden. Nur bei den wirklich
guten Spielern, jenseits der 2300, Nahschach wohlgemerkt,
oder den ganz schwachen, konnte man noch überraschende
Züge finden. Konnte das überhaupt anders sein?
Ich versuchte zu recherchieren und fand heraus, dass
einige Leute zeitgleich zwei-, drei-, sogar vierhundert
Partien laufen haben. Ich selbst hatte bei 30 Partien
schon soweit den Überblick verloren, dass ein Eindenken
in die jeweilige Situation gar nicht mehr möglich
war. Ich versuchte, mich auf die drei, vier wesentlichen
Spiele zu konzentrieren, jene, die mir aus diversen
Gründen besonders interessant erschienen, der ganze
Rest wurde mehr und mehr der Maschine überlassen.
Diese Tendenz verallgemeinert, führte schließlich
nicht mehr zum Fernschachserver, sondern zu einem gigantischen
Schachcomputerwettbewerb. Interessanterweise leugneten
aber fast alle Teilnehmer den Gebrauch von technischen
Hilfsmitteln, mehr noch, sie lehnten ihn, als Gipfel
der allgemein tolerierten Hypokrisie, in öffentlichen
Statements ab. Wenn man die Personalseite aufschlug,
auf der jedermann und jederfrau die Gelegenheit bekam,
sich vorzustellen, so gab es kaum einen Schachfreund,
der die Benutzung des Computers zugab. Dabei gab es
einen sehr einfachen Beweis. So, wie meine Wertungszahl
bis zu 500 Punkten über meiner tatsächlichen
angelangt war, so sah es bei den meisten anderen auch
aus. Kurz: Die Situation wurde zusehends unbefriedigend.
Kein Wunder auch, wenn mehr und mehr Frust entstand.
Der allgemeine Ton blieb nicht nur unpersönlich,
er wurde auch aggressiver. Beschimpfungen, Beleidigungen,
Beschwerden und Unterstellungen waren auf der Tagesordnung.
Immer mehr gestandene Spieler verabschiedeten sich,
die einen stillschweigend, die andern fluchend und diffamierend.
Bei mir reifte die Erkenntnis, als ich
Tony zwei Jahre später auf einem Open wieder traf.
Noch immer spielte ich am falschen Ende des Turniers.
Es dämmerte die Einsicht: Auch Fernschach, dieses
Fernschach hilft dir nicht. Im Gegenteil, es entfremdet
sogar von der Schachszene, denn der Eindruck bleibt,
es übermäßig mit unangenehmen Leuten
zu tun zu haben, eine Erfahrung, die sich im stickigen
Turniersaal durchaus nicht bestätigt.
Kann das anders sein? Ist es nicht tatsächlich
so, wie Jonathan Rowson, einer der wenigen selbstdenkenden
Großmeister, in der Nachfolge Marshall McLuhans,
schreibt, dass das Medium den Inhalt bestimmt, dass
die Art und Weise, wie Information geliefert wird, nicht
unschuldig ist, dass das Medium nicht nur Äußerlichkeit,
sondern selbst Botschaft ist? Verführen die Schachprogramme,
die DVDs, die Internetserver nicht tatsächlich
zu jener vom Fernsehen so gut eintrainierten Passivität,
in deren sicherem Schutz wir lieber den Meistern zusehen,
statt selbst Meister zu werden? Rowson schreibt: "I
think this creeping laziness may be related to new mediums
like analysing engines and DVDs because although they
seem to assist us in our efforts, they also make much
of our effort superfluous. In this sense, they might
be inadvertently taking us away from the rewards of
productive thinking, which is the uniquely human experience
that makes chess so enjoyable in the first place.[1]
--- Jörg Seidel, 29.11.2005 ---
[1]
Jonothan Rowson: The Medium is the Message. In: New
in Chess 6/2005. S. 99ff.
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Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
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