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AKTUELLES
29. November 2005

Einige Erfahrungen mit einem
Internet-Fernschach-Server

Perhaps I am going too far, but it often seems that we become so used to being entertained that we have lost touch with our capacity to entertain ourselves. This applies in many domains of life, and is shown for instance by the fact that more people watch cooking programs on television than actually cook.

GM Jonathan Rowson

 

Als ich vor drei Jahren Tony Corkett, einen starken englischen IM fragte, wie man denn – als gewöhnlicher Patzer – seine Spielstärke endlich auf ein erträgliches Maß anheben könne, da gab er mir zwei Tipps: Analysiere Aljechins Partien und spiele Fernschach. So zumindest habe er angefangen, als er selbst vor diesem Problem stand. Und auch wenn er heute kaum noch etwas ins Schach investiere, so sei das Gespeicherte doch noch immer genug, um bei diversen Open vordere Plätze zu erreichen.

Besonders den Fernschachhinweis fand ich nützlich und überzeugend, so wie Tony ihn mir darlegte; nächtelanges Grübeln über eine spannende Stellung, ein besseres Positionsverständnis, ein tieferes taktisches Auge, vor allem eine breitere Eröffnungskenntnis, all das versprach das Fernschach.

Nun, Fernschach ist nicht mehr das, was es einmal war. Kaum einer sitzt noch vor dem Brett zum Analysieren, füllt dann seine Karte aus und wartet zwei Monate, bis der argentinische oder sowjetische Schachfreund- und Gegner antwortet, Zeit genug, um immer tiefer und tiefer in die Geheimnisse einzudringen. Heutzutage spielt man Fernschach auf dem Server, fern ist der Gegner nur noch in einer nebensächlichen Wirklichkeit, in der wirklichen Virtualität ist er hier und jetzt, vor allem jetzt. Das war die früheste Erfahrung, die ich machen musste, nachdem ich mich endlich auf einem Server angemeldet hatte.

Der erste Eindruck war gut, sehr gut sogar. Freundlich wurde ich als Gast von einem älteren Mitglied begrüßt und hatte die Genugtuung, ihn gleich in einer 15-zügigen Blackmar-Diemer-Blitzpartie vom Brett zu fegen. Ich suchte mir ein lustiges Pseudonym aus und spielte in den nächsten Tagen eine ganze Reihe von Livepartien, nicht zuletzt, um die Bedienung des Servers kennen zu lernen.

Schließlich schrieb ich mich für das erste Fernschachturnier ein. Man hatte 30 Tage Bedenkzeit für 10 Züge, das erschien ausreichend, zumal die Eröffnung oftmals innerhalb weniger Stunden runtergespielt werden konnte. Waren die 10 Züge getätigt, so summierten sich die übrig gebliebenen Tage zu den nächsten 30. Das hatte später zur Folge, dass einige Partien tatsächlich fast ein Jahr benötigten. Einige Gegner nutzten diese Regelung in unfairer Weise: Längst verlorene Partien wurden über Wochen und Monate hingeschleppt. Alle Partien des Turniers waren bereits entschieden, nur einer meiner Gegner glaubte ein einfaches Endspiel – meine zwei Türme gegen sein Einzelexemplar – ewig hinziehen zu müssen, anstatt es fairerweise aufzugeben. Aufgrund derartiger Erfahrungen wurde die Zeitregelung später geändert; die restlichen Tage verfielen, zehn Züge waren nun immer in 30 Tagen zu absolvieren.
Zu diesem Zeitpunkt, circa ein Jahr später, hatte sich das Verhalten auf dem Server deutlich geändert. Es war nun nahezu unmöglich Livepartien zu spielen. Zwar hatte sich die Spielerzahl nahezu verzehnfacht, aber niemand schien mehr Interesse an einer Partie Mann gegen Mann zu haben. Die meisten Teilnehmer loggten sich nur für einen kurzen Moment ein, um ihre Fernschachpartien auf neue Zugeingänge zu kontrollieren und waren danach – alienartig – wieder verschwunden. Ein, zwei Stunden später sah man sie wieder für einen Moment auftauchen, wenn sie ihre Antwortzüge abgaben. Kommunikation wurde nicht groß geschrieben. Ich selbst hatte mittlerweile mehrere Turniere am Laufen und war daher selbst gezwungen, tagtäglich nachzuschauen, um nicht wertvolle Bedenkzeit zu verlieren. Schach war plötzlich zum Muß geworden, aber darüber dachte man schon gar nicht mehr nach, sondern erledigte die Partien routiniert. Man wurde selbst zum Alien.

Auch der Umgangston hatte sich deutlich geändert. Vom positiven Eindruck des ersten Mal blieb nicht viel übrig. Die meisten Spieler hielten es nicht einmal für nötig, sich zu Beginn einer Partie vorzustellen oder aber, wie das ja bei jeder Nahschachpartie gang und gäbe ist, den Gegner zu begrüßen, ihm Glück zu wünschen etc. Man fing einfach an, ganz als ob man gegen einen Computer spielte. Und tat man etwa etwas anderes? Bald wurde deutlich, dass der Gegner in fast allen Fällen tatsächlich kein Mensch, sondern eine Maschine ist. Das ist gar nicht mal als Vorwurf gemeint, denn ich selbst war mittlerweile längst zum Computerspieler geworden. Anfangs nahm ich mir vor, Fritz nur zu befragen, um grobe Fehler zu vermeiden. Ich überlegte mir einen Zug und bevor ich ihn tätigte, ließ ich Fritz kontrollieren. Nach und nach, besonders mit der Vielzahl der Partien, ließ ich mich auch von Fritz zu anderen Zügen "überreden", mir immer wieder sagend: "In der Realpartie, mit entsprechender Bedenkzeit, hättest du den auch gefunden". Umgekehrt wurden eigene Züge – die nun mal meist schwächer sind – sofort vom Gegner bestraft. Es ist ja nicht schwer nachzuvollziehen, dass der Gegner eben auch ein Computer war. Wie sonst kann ein 1800er eine sechszügige hochkomplizierte Mattkombination inklusive Opfer innerhalb weniger Minuten sehen? Da war man schon in der fatalen Logik behaftet: Um überhaupt eine Chance gegen die Computer am anderen Ende der Strippe zu haben, musste man selbst den Computer zu Rate ziehen. Spieler, die hartnäckig darauf verzichteten, verloren bis zu 90% aller Partien – ein fast eindeutiger Beweis, dass 90% aller Partien elektronisch gesteuert wurden. Nur bei den wirklich guten Spielern, jenseits der 2300, Nahschach wohlgemerkt, oder den ganz schwachen, konnte man noch überraschende Züge finden. Konnte das überhaupt anders sein? Ich versuchte zu recherchieren und fand heraus, dass einige Leute zeitgleich zwei-, drei-, sogar vierhundert Partien laufen haben. Ich selbst hatte bei 30 Partien schon soweit den Überblick verloren, dass ein Eindenken in die jeweilige Situation gar nicht mehr möglich war. Ich versuchte, mich auf die drei, vier wesentlichen Spiele zu konzentrieren, jene, die mir aus diversen Gründen besonders interessant erschienen, der ganze Rest wurde mehr und mehr der Maschine überlassen. Diese Tendenz verallgemeinert, führte schließlich nicht mehr zum Fernschachserver, sondern zu einem gigantischen Schachcomputerwettbewerb. Interessanterweise leugneten aber fast alle Teilnehmer den Gebrauch von technischen Hilfsmitteln, mehr noch, sie lehnten ihn, als Gipfel der allgemein tolerierten Hypokrisie, in öffentlichen Statements ab. Wenn man die Personalseite aufschlug, auf der jedermann und jederfrau die Gelegenheit bekam, sich vorzustellen, so gab es kaum einen Schachfreund, der die Benutzung des Computers zugab. Dabei gab es einen sehr einfachen Beweis. So, wie meine Wertungszahl bis zu 500 Punkten über meiner tatsächlichen angelangt war, so sah es bei den meisten anderen auch aus. Kurz: Die Situation wurde zusehends unbefriedigend. Kein Wunder auch, wenn mehr und mehr Frust entstand. Der allgemeine Ton blieb nicht nur unpersönlich, er wurde auch aggressiver. Beschimpfungen, Beleidigungen, Beschwerden und Unterstellungen waren auf der Tagesordnung. Immer mehr gestandene Spieler verabschiedeten sich, die einen stillschweigend, die andern fluchend und diffamierend.

Bei mir reifte die Erkenntnis, als ich Tony zwei Jahre später auf einem Open wieder traf. Noch immer spielte ich am falschen Ende des Turniers. Es dämmerte die Einsicht: Auch Fernschach, dieses Fernschach hilft dir nicht. Im Gegenteil, es entfremdet sogar von der Schachszene, denn der Eindruck bleibt, es übermäßig mit unangenehmen Leuten zu tun zu haben, eine Erfahrung, die sich im stickigen Turniersaal durchaus nicht bestätigt.

Kann das anders sein? Ist es nicht tatsächlich so, wie Jonathan Rowson, einer der wenigen selbstdenkenden Großmeister, in der Nachfolge Marshall McLuhans, schreibt, dass das Medium den Inhalt bestimmt, dass die Art und Weise, wie Information geliefert wird, nicht unschuldig ist, dass das Medium nicht nur Äußerlichkeit, sondern selbst Botschaft ist? Verführen die Schachprogramme, die DVDs, die Internetserver nicht tatsächlich zu jener vom Fernsehen so gut eintrainierten Passivität, in deren sicherem Schutz wir lieber den Meistern zusehen, statt selbst Meister zu werden? Rowson schreibt: "I think this creeping laziness may be related to new mediums like analysing engines and DVDs because although they seem to assist us in our efforts, they also make much of our effort superfluous. In this sense, they might be inadvertently taking us away from the rewards of productive thinking, which is the uniquely human experience that makes chess so enjoyable in the first place.”[1]

 

--- Jörg Seidel, 29.11.2005 ---


[1] Jonothan Rowson: The Medium is the Message. In: New in Chess 6/2005. S. 99ff.


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

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