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"Der Jugend wird oft der Vorwurf
gemacht, sie glaube, dass die Welt mit ihr erst anfange.
Aber das Alter glaubt noch öfter, dass mit ihm
die Welt aufhöre."
(Christian Friedrich Hebbel, Festschrift
"100 Jahre Bahn-Sozialwerk")
Disko in der Villa Bergstraße
Jugendalter und Altersjugend
im Sozialwerk der Generationen
Vor dreizehn Monaten unterlag der SK
König Plauen in einer beiderseitigen Auswärtspartie
in Chemnitz dem BSW Dresden mit 2:6. Danach verließen
beide Mannschaften die Oberliga, Staffel Ost. Die Plauener
hatten für eine Saison das Siegen verlernt, lernten
dafür die Verabschiedung, den Abstieg mit miniaturisiertem
Brettpunktekonto, vier Remis in jener finalen Oberligabegegnung,
zwei an den ersten beiden Brettern, zwei an den letzten
beiden, kein Sieg also in einer einzigen Partie, bevor
die Könige, weit entfernt von ihrer Bestbesetzung,
dieses Mal mit sechs Ersatzspielern, also ohne ihre
ersten sechs Bretter, daher mit durchschnittlich 135
DWZ-Punkten pro Brett niedriger bewertet, die dunkel
marmorierte Wendeltreppe in der Villa Bergstraße
hinaufstiegen, als ob sich der Anfang eines neuen Endes
bereits ausgebreitet hatte. "Aber hinten sind wir
stärker", erklärte Peter Luban ungefähr
zwei Tage vorher. DWZ - nur ein Richtwert, ein unsicheres
statistisches Pendel zwischen Jugendalter und Altersjugend?
Drei nach neun, eine Gästebegrüßung
mit dem Gastgeberhinweis, dass die Schachuhren schon
laufen würden, demnach kein akademisches Viertel
beim Bahn-Sozialwerk, obwohl die Villa Bergstraße
zwischen Fachhochschule und Universität eingebettet
ist. (So ein Glück hat ja ein Jeder: Der Gast hat
ein Glück, wenn der Gastgeber keine einstündige
Eröffnungsrede vorbereitet hat, für den Fall,
dass die Gäste drei Minuten später über
die Wendeltreppe eintreffen, während die Zeit schon
ihre Geräusche macht.)
Die Neuauflage des Vorjahresmatches begann
rustikal. MCO Schaarschmidt stand bereits nach zwölf
Zügen einzügig auf Matt. Er hatte eine nicht
häufig gespielte Variante im Benoni vorbereitet,
in der jedoch noch viel seltener die kurze Rochade nicht
gemacht wird. Folglich stand sein König noch arglos
auf dem Grundstellungsfeld, unmittelbar links benachbart
dessen Wachturm, der von der weißen Dame auf g7
und dem Läufer auf h6 undeckbar befragt wurde,
mit Unterstützung des d6-Bauern, der sich in dieser
Zugfolge zusätzlich als weißer Keil ins Bewusstsein
prägte. Dunkler Marmor kam über die schwarze
Stellung, nachdem sich der weiße König der
Dauerschachattacke über die Brettmitte an den Brettrand
entzog. Aber nur kurze Zeit später glich Lion Pfeufer
am Spitzenbrett überraschend aus, der sich zuvor
in positioneller Sackgasse befand, jedoch ein grobes
Versehen seines Gegners sofort zum Partiegewinn ausnutzte
- zudem noch von ihm lernen konnte, dass Silberhochzeit
am Vorabend ein vernichtender Grund sein kann, wenn
es einmal nicht wie am Schnürchen läuft, obwohl
man doch schon so 'was von auf Gewinn stand, alles so
einfach schien, dass selbst Günther-Jauch-Kandidaten,
die sonst schon bei der ersten Frage alle drei Joker
in Anspruch nehmen müssen, ganz leicht darauf gekommen
wären, jedenfalls im höheren Sinne. Der volle
Punkt zum sofortigen Ausgleich krönte zumindest
Pfeufers starke Saisonleistung an den vorderen Brettern.
Nach dem Unentschieden von Christian
Hörr in geschlossener Stellung lief die Zeit der
Stille ab, denn als die beiden Schwarzpartien von Daniel
Butzke und Frank Gerbeth nach Materialverlust hintereinander
zusammenbrachen, gerieten die Plauener erneut unter
Druck. Doch selbst dieser Zwei-Punkte-Rückstand
wurde noch einmal aufgeholt, durch Siege von Christof
Beyer und Peter Luban, der Günter Kokschs Brechstangengewinnversuche
in der Zeitnot kurz vor dem Kontrollzug kunstvoll auskonterte,
beide Arme kraftvoll zum Sieg emporstreckte, er es ja
bereits geweissagt hatte, eben hinten stärker zu
sein, und fast wäre sie ausschlaggebend gewesen,
diese hintere Stärke, da plötzlich ein Mannschaftserfolg,
wenigstens ein Unentschieden erreichbar erschien.
Aber es war eine komplizierte Stellung
in der letzten noch laufenden Partie, der sich Andreas
Götz gegen Altmeister Jahja Eskandary zu erwähren
hatte, immer auf der Suche nach Kompensation für
den in der Eröffnung geopferten Bauern, zwischendurch
immer wieder diese unruhigen Geräusche des Herumklapperns,
verursacht von Schachfiguren beendeter Partien, die
sich auf ihrem Weg vom Schachbrett in den heimischen
Figurenkasten befanden. Figurengeräusche im Technosound,
die nur jene nicht beeindrucken können, die entweder
zu häufig in die Disko gegangen waren oder die
über die Gabe der stillen Dominanz verfügen,
gar die Ruhe Eskandarys zu zelebrieren, in der Lage
sind, auch wenn, nur wenige Zentimeter vom Geschehen
entfernt, der Geräuschterror tobte, sich Figuren
in autistischer Manie unablässig in den Figurenkasten
drängten, bevor der Deckel in einer Lautstärke
zuschlug, als ob an der gegenüberliegenden Wand
mit dem Vorschlaghammer ein Sargnagel der Vorfreude
versenkt würde. Eskandary behielt seinen Vorteil
auch nach der Zeitnot, baute ihn schließlich genüsslich
bis zum Matt aus, hin und wieder eine erhabene, geräuschlose
Bewegung, danach ewige Ruhe.
Es hatte nicht gereicht, dieses Mal hinten
besser gewesen zu sein, aber trotz der 3½:4½-Niederlage
Plauens verbleiben beide Teams in der Sachsenliga, mit
8:10 Mannschaftspunkten in der grauen Masse der Mittelmäßigkeit.
Und wenn auch Andreas Götz diese Partie nach verzweifelter
Gegenwehr verloren hatte, so kann er sich immerhin mit
dem besten Einzelergebnis innerhalb seiner Mannschaft
trösten, die Wendeltreppe nach der Partie abwärts
gehend. Der dunkle Marmor strahlte freundlich zurück.
Es konnte ja nichts mehr passieren.
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