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LITERATUR
15. Juni 2004

Dies ist der 2. Teil der vergleichenden Analyse Maurensig/Meras. Hier geht es zum 1. Teil.

 

Icchokas Meras: Remis für Sekunden

Doch in dieser geheimnisvollen Abendstille gab es Menschen, Karbidlampen, einen kleinen Schachtisch, Figuren, tote Figuren und zwei lebende, die einander gegenübersaßen: Isaak Lipman und Adolf Schoger. Die toten Figuren waren nur Holz. Die lebenden aber Kämpfer.

 

Vollkommene Authentizität weist Icchokas Meras "Remis für Sekunden” auf. Ohne etwas über den Autor zu wissen – über litauische Literatur weiß man hierzulande wenig und wäre nicht auf der Frankfurter Buchmesse 2001 das kleine baltische Land Thema gewesen und deswegen eine Neuauflage des Buches erschienen, das 1966 in der DDR publizierte Büchlein wäre noch immer ein vergessenes Meisterwerk -, ohne die Lebensgeschichte des litauischen Juden Meras präsent zu haben, spürt der Leser umgehend, dass er in seinem Schreiben restlos aufgeht.

Anfangs benötigt man eine Weile, um sich dem Rhythmus dieser knorrigen Prosa anzupassen, aber nach und nach wird man von ihm aufgefangen und wiegt atemlos in den langsamen Wellen dieses Buches mit. Meras verzichtet auf alles Überflüssige. Die Sätze sind einfach gestaltet, erlauben sich selten ausschweifende Konstruktionen. Eine Einfachheit, ja Einfältigkeit, die Eigentlichkeit und Echtheit mit sich führt. Eine Schreibweise, die ihrem Gegenstand fast erschreckend entspricht. Ist es ein schnelles oder ein langsames Buch? Gibt man sich ihm hin, dann liegt es da, aufgeschlagen, wie ein spiegelglatter schwarzer See, dessen trügerische Ruhe seine wahre Tiefe erahnen lässt. Aber Tiefe hat dieses Buch, abgründige Tiefe! Es gehört zu den wenigen Büchern, die Sätze wie diese nicht nur unbeschädigt überstehen, sondern in denen diese Sätze, die so leicht falsch und banal wirken, wenn die falsche Zunge sie ausspricht, Weisheit ausstrahlen: "Die Zeit. Sie ist an allem schuld. Der Mensch kann vieles tun, doch eines kann er nicht – er kann die Zeit nicht zurückholen, die Uhr nicht zurückdrehen" – "Wenn du denkst, nur das Getto sei Getto, so irrst du dich. Draußen ist auch ein Getto. Der Unterschied besteht nur darin, dass unser Getto umzäunt ist und das andere nicht" – "Menschen sind immer verschiedener Meinung und werden es auch immer sein".

 

 

Den Hauptrhythmus bestimmt einerseits das Schachspiel zwischen Isaak und Schoger, dem 17-jährigen Insassen und dem deutschen Gettokommandanten. Kontrapunkte dazu setzen die nach biblischem Vorbild geformten genealogischen Einschübe Abrahams. Er ist der Baum. Der Baum wird stehen, es wird nur ein Ast fehlen, wenn der nächste Sprössling seiner zahlreichen Familie zu Grunde gehen wird. Nur Isaak wird ihm bleiben, und auch diesen ist er bereit zu opfern, wenn die Notwendigkeit es will, Isaak der Schachspieler, der um das Leben der Gettokinder spielt. Schoger droht, alle Kinder des litauischen Gettos zu deportieren, wenn Isaak verliert. Gewinnt er, so wird Isaak erschossen. Nur ein Remis kann alle retten. Aber es ist schwer, ein Remis zu erzwingen, viel schwerer als Sieg oder Niederlage. Und während Issak eröffnet und den fünften und den entscheidenden 17. Zug macht, während er ins Endspiel abwickelt und vor der letzten Entscheidung steht – Remis oder Matt für Schoger – wird seine Geschichte erzählt und die seiner jungen Liebe, Esthers, und die Geschichte aller Kinder des Abraham. Kleine menschliche Schwächen sind es, die diesen, eigentlich nur skizzierten, mit wenigen Strichen hingeworfenen Menschen Fülle und Überzeugungskraft verleiht, in einem Ausmaße, wie es vielleicht erst wieder Imre Kertecs gelungen ist, mit seinem "Roman eines Schicksalslosen".

 

Da gibt es Rahel, der man den Sohn nahm, die man im genetischen Experiment künstlich befruchtete, die jenes liebenswerte und ekelerregende Geschöpf gebiert.

Da gibt es Bassja, die auf die Strasse geht und dort Ruwa findet, der in ihr den Menschen, nicht die Frau achtet.

Da gibt es Kasriel, der fast ein Philosoph geworden wäre, ein Übermensch und der zu schwach ist, den Folterungen zu widerstehen, und stark genug, sie auf ewig zu vermeiden.

Da gibt es Riwa, die Partisanin, die aus dem Getto floh, das Elektrizitätswerk in die Luft sprengte, die nach 30 freien Tagen doch von deutschen Truppen umstellt wird und die auch noch die letzte Kugel für den Feind bereit hält.

Da gibt es Ina, die berühmte Sängerin, deren Schicksal der Versuch, eine Partitur ins Getto zu schmuggeln, besiegelt.

Und da gibt es noch Taibele, die jüngste der Geschwister, ein kleines Mädchen noch, die Abraham weggab zum Rechtsanwalt Klimas und dessen Frau, auf dass sie sicher sei, und die zusammen mit ihren Adoptiveltern am Galgen endet.

 

Abraham, der Baum, der Gettoleiter, sieht seine Kinder alle gehen, nur Isaak bleibt noch, Isaak, der mit Schoger um das Leben Schach spielt.

 

Aber dieses Buch erzählt auch die Geschichte Janeks, des Polen, der freiwillig im Getto bleibt.

Es erzählt die Geschichte Lisas, die ein Kind von fremdem Samen erwürgt und ein litauisches an die Brust legen wird.

Die Geschichte Rudis, der den Widerstand organisiert.

Die Geschichte Jaschkas, des Peitschenmeisters, der andere schlägt, damit er nicht geschlagen wird.

Die Geschichte Hersch Mitenbergs, dem einstigen Führer des Gettos, der sich der Gestapo stellt, in den Gestapokammern ein qualvolles Ende findet, um das Getto zu retten.

Es erzählt die Geschichte Maikas, der schon tot ist, als die Geschichte beginnt.

Es wird Antanas Jankauskas Geschichte erzählt, der Litauer, der eine Abrahamstochter lieben lernt und mir ihr im Kugelhagel stirbt, und die Geschichte seines Bruders, des Kollaborateurs.

Auch von den litauischen Frauen wird erzählt, die den beiden Flüchtlingen Milch und Brot geben und traurig dazu lächeln.

Und die Geschichte des namenlosen deutschen Soldaten, mit den blonden Stoppeln und den tiefen Falten um die Augen, der Isaak und Esther aus dem Getto befreit. Auch dieser eine, einzige deutsche Soldat macht das Buch groß!

Selbst die Geschichte der Pflastersteine, auf denen die Menschen herumtrampeln, wird erzählt. Sie aber liegen, unbeweglich, steinhart. Oder die der Blumen, mit denen man zärtlich die Wangen der Geliebten streicheln kann…

 

Vergessen wir nicht die Geschichte des Schachspiels, an einem Ort, wo das Schachspielen oder das Blumenpflücken, wo kleine Gesten, Widerstand bedeuten können, auch die Geschichte des Schachspiels wird erzählt, des Schachspiels mit Schoger, das sich entwickelt und vor dem 17. Zug nach Plan zu laufen schien, doch dann macht Isaak einen Fehler, der ihm das teure Remis kosten kann, der es am Ende aber sichert, sichern könnte. Eine versteckte Parabel. Es kommt alles ganz anders!

 

Icchokas Meras: Remis für Sekunden. Berlin (Ost) 1966. 178 Seiten

 

--- Jörg Seidel, 15.06.2004 ---


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