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PHILOSOPHIE
7. März 2005

Gustav Schenk: Das leidenschaftliche Spiel.
Schachbriefe an eine Freundin

Man muß Gustav Schenks kurzen Briefroman "Das leidenschaftliche Spiel" wohl zu den vergessenen Schachbüchern zählen. Das verwundert in mehrfacher Hinsicht. Immerhin ist das Büchlein in verhältnismäßig hoher Auflage erschienen – mir liegt die erste Auflage vor, "Erstes bis Fünftes Tausend"; ob es eine zweite gab, entzieht sich meiner Kenntnis –, und wurde zudem unter dem Titel "The Passionate Game" ins Englische übertragen. Von seiner relativ weiten Verbreitung zeugt auch das regelmäßige Auftauchen bei Ebay, oft ein guter Indikator für die Popularität eines Werkes.

Schenk (1905-1969), sowenig man von ihm erfahren kann, schien eine interessante und vielseitig interessierte Person gewesen zu sein. Kein geringerer als Ernst Jünger korrespondierte mit dem Drogenexperten [1] und empfing einige Besuche Schenks während des Kriegsherbstes 1944 in Kirchhorst, wo man, von Fliegeralarm und Bombengedröhn umgeben, von Katastrophe und Tod, "über die berauschende Kaktee Payotl" spricht, "sodann über ein dreißigtägiges Fasten, zu dem er Vorbereitungen trifft" oder: "Sodann mit Schenk im Atelier von Grethe Jürgens" – einer bekannten Malerin der Neuen Sachlichkeit [2], die übrigens die acht Farbtafeln im vorliegenden Buch beisteuerte – "dort Unterhaltung über die Pflanzen der Moore und Halligen" [3]. Fast mag es enttäuschen, keine Erwähnung eines gemeinsamen Schachspiels vorzufinden; immerhin teilte Jünger, dem nur wenige Tage später der verstorbene Vater beim Schachspiel im Traum erscheint, die Passion für das - nun warum nicht -, für das leidenschaftliche Spiel.

Grethe Jürgens: Bildnis Gustav Schenk. 1931. Öl auf Leinwand
(Bildquelle: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2001/0394/pdf/abbmbil-sw.pdf)

Vor allem aber verblüfft die heutige Resonanzlosigkeit, weil Schenks "Schachbriefe an eine Freundin" zu den besseren, zu den wohlüberlegteren und tieferen Erklärungsversuchen zum Rätsel Schach zählen. In keinem der gängigen Referenzwerke findet es Erwähnung oder eine substantielle Besprechung (und auch beim Googeln findet sich nichts). Dabei bedient sich der Autor einer seit der Klassik und Romantik stets wohlbewährten Form – man denke an den "Werther", an Bettina von Arnims "Günderode", an "Die gefährlichen Liebschaften": den Briefroman. Erst 1934, zwei Jahre vor Schenks Werk, feierte der philosophische Briefroman in Gestalt der "Philosophie des Alltags. Briefe eines Philosophen an ein junges Mädchen", verfaßt von Franz Carl Endres, bemerkenswerte Verkaufserfolge. Möglicherweise verdankt Schenk diesem Buch entscheidende Anregung; vergleichende Analysen würden eine ganze Reihe von Übereinstimmungen aufweisen.

Vordergründig will das kleine Buch zweierlei sein: Geschichte einer verkannten Liebe und Anleitung zur Erlernung des Schachspiels. Unter diesen Gesichtspunkten ist es für uns weniger ergiebig, auch wenn die Rahmenhandlung den ästhetischen Genuß garantiert, auch wenn die Spieleinführung weniger direkt und technisch sich darbietet als in den Hunderten bekannten Erstlingswerken. Wirklich mitteilenswert wird es als – in Anlehnung an Endres’ Untertitel – "Briefe eines Schachphilosophen…". Der Ich-Erzähler bekennt: "ich will Ihnen ein Spiel zeigen und philosophiere" (31). Erst am Ende lernen wir, daß die Motive nicht ganz so selbstlos wie vorgegeben waren, daß jenes "Zauberspiel" durchaus doppeldeutig, vieldeutig zu verstehen ist, als Schach- und Liebesspiel. Mit den Tücken des Schachs soll die an einen anderen verlorene Geliebte zurückerobert werden, eine Rahmenhandlung, die ob ihrer unerwarteten Wendungen zu überzeugen vermag. An der Oberfläche freilich will der Verführer "nur" in jenes Zauberspiel, "dieses größte Spiel der Menschheit" einführen, "das aber Ihre Sinne schärft, ihren Gefühlen eine Atempause gewährt, das eisig und frostig ist oder warm und glühend, ganz wie Sie es wünschen und leiten, und das Sie ohne sichtbare Mühe den Kampf lehrt, Kampf als Lebensgefühl, Kampf als Grund aller Bewegung" (9). "Kampf", so lautet denn auch das Zauberwort, an dessen hartem Klang der Schreiber sich nicht satt hören kann. Auch dieses Wort klingt in seinem Munde vieldeutig: im Spiel, um die Geliebte, vor allem Kampf als Universalerklärung aller Entwicklung – abgeleitete aus dem Schachspiel. Das klingt zu deutlich nach Lasker (oder dem frühen Jünger), um an einen Zufall glauben zu können (vgl. auch S.35).

Erfüllt ist der Briefschreiber von heiliger Ehrfurcht, die ihn zu fast absurden Überhöhungen verleitet: "…daß das Schachspiel allein den Glauben an die wunderbaren Kräfte des Menschen stärken kann" (8). Es kann auch nicht erfunden worden sein, nein, man muß es entdeckt haben, schließlich ist es "ein Teil der Natur", nicht anders als der Mensch selbst und unterliegt den quasi-darwinschen Gesetzmäßigkeiten: "Sie stehen nicht außerhalb, Sie sind ihren Gesetzen unterworfen, Sie brauchen nur elementar zu reagieren, Sie müssen nur kämpfen mit allen Mitteln Ihres Instinkts, um gut Schach zu spielen" (10). Gut bedeutet ganz offensichtlich nicht erfolgreich. Erst nachdem die Ehrfurcht im Gegenüber erweckt wurde, macht sich der Schreiber an die Regelkunde, beginnt die Figuren, die Züge zu erläutern. Das ist naturgemäß trockene Materie und kann nur gelegentlich durch mystizistische Einfügungen verklärt werden. Etwa wenn er im Springer "ausschweifende Phantasie, Härte, Zartheit, Macht und Zauber des Schachs beschlossen" sieht oder in der Dame das "Symbol Ihres Geschlechtes überhaupt. Sie ist nicht die bestimmte mit Namen zu nennende Dame, sie ist Prinzip einer Naturmacht" (24).

Auf den nächsten Dutzend Seiten gibt Schenk ein erstes Spielbeispiel und wählt dafür das altbekannte Seekadettenmatt:

  1. e4 e5
  2. Sf3 d6
  3. Lc4 h6?
  4. Sc3 Lg4?
  5. Sxe5! Lxd1
  6. Lxf7 Ke7
  7. Sd5+#

Schwarz vernachlässigt seine Figurenentwicklung und erleidet demzufolge – das ist die uralte Lehre aus dieser Miniatur – eine satte Niederlage.

Nebenbei erläutert er Rochade, en-passant-Regel etc. und auch da muß er mit geheimnisvollem Geraune seine junge Partnerin bei der Stange halten. "Wir haben es wirklich so weit gebracht, daß wir meinen, ein Spiel sei eine milde Art von Betäubungsmittel, das man im schläfrigen, halbwachen Zustand ohne die geringste innere Beteiligung anwenden dürfte, hemmungslos, ohne Verantwortung, zum Amüsement, um die Seuche der Langeweile vergessen zu machen. Doch das Schach ist kein Spiel unserer Zeit. Es entstammt alten, reichen Kulturen, die die Zivilisationskrankheit Langeweile nicht kannten und die ein Kampfspiel mit dem gleichen Einsatz der Kräfte, mit der gleichen Anspannung einer für alles gerüsteten Seele ausübten, wie einen ernsthaften Kriegshandel, der über Tod und Leben entschied" (31). Ganz gleich, ob das stimmt, es ist trotzdem wahr! "Sie wissen es – ich will Ihnen den Sinn des Schachspiels deutlich machen. Es soll Ihnen ein jetzt noch fremdes, erregendes Gefühl zurückbleiben, das sie nie wieder loswerden können, solange Sie ein Schachbrett sehen: es ist die ernste, fast tragische Erkenntnis von der unerbittlichen Konsequenz einer Handlung, die weit über ein Spiel, wie wir es aufzufassen gewohnt sind, hinausgeht" (48).

Bereits aus solchen Äußerungen wird deutlich, wie wenig seine Spielauffassung mit dem wissenschaftlich betriebenen Schach, dem professionell betriebenen Schach gemein hat. Insbesondere das Erforschen von Eröffnungen, von ungezählten Varianten und Untervarianten kann den Beifall des beseelten Spielers nicht finden, der gerade das Irrationale, das Unvorhergesehene, die Phantasie aller eisernen Logik und Rechenkunst vorzieht. "Was kam dabei heraus? Trocken gebackene Remisspiele, krampfhaft gehaltene, von der Forschung erzwungene Gleichgewichtslagen, Annäherungen an das Gleichgewicht, das es im Schach" – und nun folgt die vielleicht tiefste Stelle des Buches – "das es im Schach ja nicht gibt" (51). Mit diesem bemerkenswerten Satz widerspricht Schenk aller bisherigen und zukünftigen Schachtheorie seit Steinitz. "Das Schach ist ein Kampfspiel, in ihm gibt es keinen Ausgleich und keine Gleichgewichtslage" (16). Offensichtlich kann der minimale Anzugsvorteil hier nicht gemeint sein, nein, besagtes Ungleichgewicht stammt aus anderer Quelle. Der Versuch durch systematische Forschung ein Gleichgewicht herzustellen entspricht einem auf Nivellierung ausgerichteten Geist des Zeitalters. Tiefer jedoch ist das Pantha Rei, das sich im dauerhaften Kampf der Gegensätze manifestiert. Es ist das Gesetz schlechthin, "das in der menschlichen Natur ebensogut herrscht, wie im Kristall oder im Aufbau der Welt" (52). Und wo das Gleichgewicht doch entsteht, dort muß man es bewußt stören, z.B. durch ein Opfer, durch ein Gambit! Hier ist es das Evans-Gambit. Je fragwürdiger, desto reizender. Natürlich darf dann nicht der halbe Punkt das Ziel der Partie sein, sondern das Erlebnis desselben. "…mein Ehrgeiz geht nur dahin, die Atmosphäre eines atemberaubenden Spieles wiederzugeben" (56).


Exkurs

Wie tief das Vorurteil einigen Gambits (z.B. Evans-Gambit, Blackmar-Diemer-Gambit, Albins Gegengambit) gegenüber im Gedächtnis der professionellen Spieler verankert ist, zeigt eine Bemerkung Peter Heine Nielsens (NIC 8/2003. S. 47ff.), der soeben ein Evans-Gambit, eine denkwürdige Partie, gegen Nigel Short knapp, äußerst knapp, überstand. Schon nach 4. b4!! kann er sich nicht verkneifen, anzumerken: "Here again, I’m not too impressed with the Englishman’s sense of time. This was popular around 1860." Danach entwickelt sich ein rasantes Spiel, in dem Heine Nielsen ununterbrochen zu verteidigen hatte und Short leider im entscheidenden Moment den Gewinnzug nicht fand.

 

Nigel Short - Peter Heine Nielsen
[C52]
Skanderborg 2003,
1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bc4 Bc5 4.b4 Bxb4 5.c3 Ba5 6.d4 exd4 7.Qb3 Qe7 8.0-0 Bb6 9.cxd4 Nxd4 10.Nxd4 Bxd4 11.Nc3 Nf6 12.Nb5 d5 13.exd5 Bxa1 14.Ba3 Qe5 15.f4 Bd4+ 16.Kh1 Qe3 17.Nxd4 Qxb3 18.Re1+ Kd8 19.Be7+ Kd7 20.Nxb3 c6 21.d6 b6 22.Bxf7 c5 23.Nd2 Kc6 24.Nc4 Bf5 25.Ne5+ Kb7 [25...Kb5? 26.Re3 h5 (26...Ka5 27.Rg3±) 27.Bc4+ Ka4 28.Rg3±] 26.a4? [26.Re3! b5 27.Rg3 Be4 28.Rxg7 Nd5 29.f5 c4 30.Bxd5+ Bxd5 31.d7+-] 26...h5 27.Bxf6 gxf6 28.Bd5+ Ka6 29.Bc4+ Kb7 30.Bd5+ Ka6 31.Bc4+ Kb7 ½-½

 

Der dänische Großmeister läßt sich anschließend zu jener aufschlußreichen (und originellen) Äußerung hinreißen, die so tief in das (fehlende) Abenteuerverständnis des Profischachs blicken läßt: "After the game my opponent said he wondered why the Evans is so little played at top level. I think it’s because it loses a pawn".


Schließlich wird auch das Endspiel besprochen. Im Elementarsten, etwa einem einfachen Bauernendspiel, sieht der Verfasser den "Sinn des Schachs offenbar" werden, denn dort, "wo die Fülle der Figuren nicht mehr verwirrt", wird "das Gerüst des Schachs deutlich" und "im Gerüst die organische Einheit des Spiels" (64). Mit derart weisen Worten endet der technisch orientierte Vortrag an die Geliebte. Im Abschiedsbrief sinniert der Schachphilosoph über Wert und Sinn des Spiels. "Ich wollte Sie sammeln und nicht zerstreuen, ich wollte Ihnen nicht Selbstvergessenheit schenken, sondern Sie zum Kampf rüsten" (65). Schach ist eben mehr als Zeitvertreib und Belustigung, auch wenn der individuelle Spieler das darin finden mag. Allein schon das historische Phänomen stellt uns, die jetzigen Schachspieler, in eine lange Tradition und die wiederum stellt die inhärente Frage: Was spricht das Schach im Menschen an, da es jahrtausendelang und in vielen verschiedensten Kulturen wirkmächtig war und ist? [4] Es ist das immer Aktuelle: "Der Inhalt des Schachspiels wird unser Inhalt sein, der Kampf wird unserem Kampfsinn entsprechen", ihr "praktischer Sinn" ist es, zu "helfen, wahrhaftig zu spielen" (67f.). Hätte das Wort "wahrhaftig" nicht auch kursiv gesetzt sein müssen? Wahrhaftigkeit und historische Bedeutsamkeit lassen sich in einem Wort bündeln, ein Wort, welches dem modernen Menschen sauer aufstoßen muß. Aber aus diesem Wort bezieht das Schach seine Subversivität. Es lautet, in seinen verschiedenen Schattierungen: Überflüssigkeit, Sinnlosigkeit, Folgenlosigkeit oder eben auch: Verschwendung. "Bedeutsam ist nur die großartige Verschwendung von Kraft und Phantasie, die hier in Erscheinung tritt. Zeit und schöpferisches Handeln sind scheinbar ohne Nutzen vergeudet worden für ein – Spiel. … Es ist aber immer ein Merkmal höchster Kultur gewesen, verschwenden zu können, ohne nach dem Nutzen zu fragen. Mit dem Schach werden keine äußeren, keine sichtbaren Vorteile erlangt. Es ist aus einem anderen Lebensbedürfnis entstanden, aus einem Übermaß an Kraft" (69).

Gustav Schenk: Das leidenschaftliche Spiel. Schachbriefe an eine Freundin. Schünemann Verlag Bremen 1936, 92 Seiten, Mit 8 mehrfarbigen Bildtafeln von Grethe Jürgens

 

 

--- Jörg Seidel, 07.03.2005 ---


[1] Von ihm stammt u.a. der Klassiker: Das Buch der Gifte.
[2] http://www.fembio.org/frauen-aus/hannover/grethe-juergens.shtml
[3] Ernst Jünger: Sämtliche Werke. Erste Abteilung. Band 3. Tagebücher III. S. 306 und 312
[4] vgl. Metapsychik des Schachs


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