RUBRIKEN
Home
Polemik/Aktuelles
Literatur
Philosophie/Psycho
Über den Autor
Summaries &
Translations
SK König Plauen
Mehr Philosophie:
seidel.jaiden.de
POLEMIK
20. Dezember 2002

Schattenboxen - Das Schach und die Promis
(unter besonderer Berücksichtigung der Boxer)

- Teil 2 -

Der gemeine Schachspieler leidet unter einem noch gemeineren Klischee: Zwar gilt er gelegentlich als klug und gescheit – vor allem in eigenen Kreisen -, aber darüber hinaus wird er zumeist als engstirnig, täppisch, verträumt, linkisch, zänkisch, realitätsfremd, sprich lebens(welt)untauglich dargestellt und an diesem Eindruck ändert auch nichts, wenn man bedenkt, dass all diese liebenswerten Eigenschaften ebenso den wirklichen Denkern, den Philosophen, nachgesagt werden. Zudem assoziiert man wohl kaum physische Attraktivität mit ihm, dem homo scacchorum vulgaris. Weder gilt er als schön oder anziehend noch als sportlich oder fit, sämtlich Zentralwerte der Medienkultur. Letzteres aus den einfachen Gründen, weil Schach in den Augen der durchschnittlichen Öffentlichkeit eben kein Sport ist und weil der trotzdem gute Ruf des Spiels nicht zwangsläufig auf die Spieler abfärbt. Und wenn man einen beliebigen Turniersaal betritt, dann werden diese Vorurteile von schwitzenden, ächzenden, vor sich hinbrabbelnden, dickbäuchigen und oftmals schlecht gekleideten Männern kaum widerlegt. Der durchschnittliche Turniersaal gleicht einer Vollversammlung der PDZ, der Partei der Zukurzgekommenen. Und wenn man die gewöhnlichen Schachperiodika wälzt, dann werden die Vorurteile von vielen nickeligen Streitereien auf allen Ebenen über belanglose Nebensächlichkeiten, auch nicht widerlegt, weder vom Weltverband, noch von den gegenseitigen Unterstellungen der Spitzenspieler oder den "Wissenschaftlern", den Hobbyhistorikern und Analysanten, und erst recht nicht von den Streitereien um das Ei des Kolumbus in den Leserbriefen der "Euro Rochade".

Das gemeine Klischee des Schachspielers besteht nicht zu Unrecht und färbt unweigerlich auf den Ruf des Spiels selbst ab. Nur so herum funktioniert das! Mehr als alle aufwendigen Versuche, das Schach argumentativ zu veredeln, es als menschenbildnerischen Erziehungsfaktor oder wahren Sport durchzuboxen, hülfe der zivilisierte Umgang der Spieler untereinander, auf das man von den positiven Wirkungen nicht nur hört, sondern diese auch erfährt.

 

Man kann es auch anders sagen: Wer schön, reich und erfolgreich ist, spielt, in der Regel, kein Schach. Dies erklärt sich aus dem einfachen, vermutlich im Menschenwesen verankerten Verlangen, sich mit den Anderen im Wettbewerb zu messen, um das Gefühl persönlicher Überlegenheit zu erfahren. Wem dies auf den primär gesellschaftsrelevanten Gebieten nicht gelingt, tja, der spielt eben Schach. Alfred Adler hätte im Spielsaal eine ideale Anordnung vorgefunden, seine Grundthese experimentell zu bestätigen. Kritischen Beobachtern der Szene ist dies seit je kein Geheimnis: "Und diese Umstände erklären es auch, warum auf einen aufmerksamen Beschauer ein von gewohnheitsmäßigen Schachspielern erfüllter Saal einen eigentümlichen Eindruck ausübt. Frische, energische, tatensprühende Menschen sind kaum am Schachtisch zu finden, dagegen aber ein großer Prozentsatz durch körperliche Fehler am wirklichen Lebensgenuß verhinderter. Dann Menschen, denen ihr Beruf und sonstige Hindernisse ein Ausleben, zu dem sie vermutlich sich hingezogen fühlen, verwehren, und viel Alter und Gebrechlichkeit" [1]. Ob Schach als Ursache oder als Wirkung fungiert, kann in diesem Zusammenhang nicht erläutert werden. Die geringen Zugangsbedingungen jedenfalls – das ist ein enormer Vorteil im demokratischen Sinne und Nachteil im elitären – schließen vorab fast niemanden aus.

Das erklärt auch, weshalb um Sondererscheinungen, wie etwa die "Schönheit" Kosteniuk, solch ein Rummel gemacht wird. In ihnen, den Sondererscheinungen, versucht die Schachwelt ihr eigenes Image zu widerlegen und erreicht doch nur – eben weil es sich um Ausnahmen handelt – die Bestätigung derselben. So kommt es, dass unüberlegte Dummheiten [2] einer siebzehnjährigen Göre unbemerkt die Medien passieren, weil alles auf Beauty, aufs für zugeknöpfte Schachverhältnisse ungewöhnlich attraktive Dekolleté oder auf den von zärtlicher Hand umspielten Phallus-Turm starrt, statt auf den Sinn der Worte zu achten.

[Quelle: http://www.kosteniuk.com/cgi/sphotos/eight.cgi?gal=3&opt=img&id=stud001]

Eine andere und weitaus interessantere Ausnahme stellen die Berühmtheiten, die "Promis" dar. Zunehmend kommt es unter ihnen in Mode, sich, trotzdem man schön, reich und erfolgreich ist oder sich dafür hält, als Schachspieler zu outen, so wie es en vogue ist, sich als Gay oder Jungfrau oder Brustkrebsoperierte öffentlich zu bekennen. Da das gemeine Klischee von vornherein nicht greift, lässt sich dieses Schachinteresse von der Sonnenseite des Vorurteils bestrahlen(wir wiederholen): Klugheit, Intelligenz, Überlegtheit, Cleverness und dergleichen. Gewöhnlich versucht man sich mit demjenigen zu versorgen, wovon man noch nicht ausreichend hat. Ein Begehren signalisiert immer Defizite. Man kann die Bedeutung dieser scheinbar banalen Aussage kaum unterschätzen, denn ihrer inneren Logik folgt die verblüffende Erkenntnis, dass Bekanntheit heutzutage eben nicht mehr mit intellektuellen Leistungen oder auch nur genuinen Fertigkeiten direkt proportional zusammenhängt. Wir verehren Nebensächlichkeiten, Dinge, für die oftmals niemand kann, und schämen uns für deren Abwesenheit. Dabei ist der Realbesitz zweitrangig, man muss vielmehr bei den anderen als etwas gelten. Als eine Schauspielerin den Regisseur fragte, was sie denn tun solle, antwortete er: "Halts Maul und sei schön!".

Einigen Stars und Sternchen scheint das nun nicht mehr zu genügen. Ob man das Verlangen, auch auf geistigem Gebiet zu leuchten und nicht nur im Fremdlicht des Spotlights, schon als Anfall von höherer Intelligenz zu werten habe, sei dahingestellt – die regelrechte Wut der Schönen und Reichen, auch "ein Buch zu schreiben", mag dem eher widersprechen -, aber dass ausgerechnet das Schachspiel immer populär-exklusiver wird, kann kein Zufall sein.

 

Besonders unter Sportlerstars scheint das Schachfieber zu grassieren und unter diesen wiederum besonders bei den Boxern und Fußballern. Kein Wunder, schließlich ist der blöde Athlet seit Menschengedenken eine feste Größe. Schon die Schlauesten unter den alten Griechen, bei denen ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper wohnen konnte - Mens sana in corpore sano -, machten den Typus lächerlich, wenn es umgekehrt eben nicht so klappte. Der Kyniker Diogenes: "Auf die Frage, warum die Athleten stumpfsinnig seien, antwortete er: 'Weil sie aus Schweine- und Ochsenfleisch aufgebaut sind" [3]. Um wie viel treffender ist dieses Apercu bei Athleten, die aus Schweine- und Ochsenfleischwachstumshormonen aufgebaut sind.

 

Noch heute leiden besonders die Muskelprotze, die Boxer vor allen, die sich systematisch die Rübe einhauen, die bewusst Risiken für Hirn und Geisteskraft in Kauf nehmen, darunter. Filmhelden wie Rocky, Ringhelden wie Tyson, werden die Öffentlichkeit nie vom Gegenteil überzeugen und selbst ein Mohammed Ali ist erst als parkinsongeschüttelter Vollinvalide zum weisen Manne ernannt worden. Es kann daher nicht verwundern, wenn einige Faustkämpfer sich als Gentleman (Henry Maske), als Promovierte (Gebrüder Klitschko) oder als Ausgeglichenheitsguru (Lennox Lewis) inszenieren. Freilich, als Maske gegen Graciano Rocchigiani taumelte und trotzdem siegte, wenn die Klitschkos gleich reihenweise blutige Nasen und schäumende Münder schmieden oder als Lewis mit einem arroganten Lächeln auf den Lippen gegen Hasim Rahmann zu Boden sank, das sah nicht gentlemanlike, studiert oder cool aus.

 

Nun treffen sie also aufeinander, die Titanen des Schachbretts, Lewis und Klitschko, vorausgesetzt, dem Coach des Briten wird es gelingen, ihm noch einmal das ach so geliebte Schachbrett zu entreißen. So zumindest lautet die gern kolportierte Legende [4]. Und was die Gebrüder Klitschko gegen Elisabeth Pähtz zusammenschoben, darf, bei allem Respekt, nicht außerhalb der schachlichen Kritik stehen. Natürlich kann man nichts dagegen sagen, dass die Hünen dem "königlichen Spiel" frönen, im Gegenteil: weiter so! - nur wird es delikat, wenn dies öffentlich geschieht. Insofern scheint Lewis der cleverere zu sein, denn, soweit zu sehen ist, verzichtet er darauf, seine Partien der Allgemeinheit zu zeigen [5]. Sicher mit gutem Grund. Der stille Rätselhafte erscheint stets attrak-tiefer als die profane Entzauberung des Schaumschlägers.

Dass die Herren Muskelmänner auf schmalem Grade wandeln, zeigt das Beispiel Halil Mutlu, seines Zeichens türkischer Gewichtheber der 56-kg-Klasse, mehrfacher Olympiasieger (1996 und 2000), Welt- und Europameister, Weltrekordhalter usw. Wie alle Kameraden seines Teams "ist er vollkommen besessen vom Schach und spielt sogar oft während der Trainingspausen" [6], wie der spontane Schnappschuss - erschienen im "Guardian" - eindrucksvoll belegt:

Dies ist die Stellung:

Auch wenn Fritz die Situation mit +10 für Schwarz einschätzt, scheint sie für den Kraftzwerg und Denkriesen noch einiges herzugeben. Mutlu (Schwarz) hat sich ohne Zweifel eine starke Position erspielt. Doch der zu erwartende Zug des Weißen mag die eine oder andere Überraschung mit sich bringen. Kd2 scheint einleuchtend, aber Sxd8 gewinnt immerhin die gegnerische Dame und Lg6+, gefolgt von Lb4+ ist Fun pur (zweimal Schach!). Antony Mann gibt – allerdings für Schwarz(!), nichts ist unmöglich - entweder cxd1 oder fxe1 an, mit unklarer Stellung, aber doch Vorteil Schwarz. Hochinteressant wäre die Partienotation, allein um zu sehen, weshalb Schwarz aus wahrscheinlich taktischen Gründen die bereits erfolgte Bauernumwandlung nur für einen Läufer nutzte. Lange Rede kurzer Sinn: Der erhoffte Intelligenzgewinn wird durch die aufgedeckten Umstände locker wieder eingeholt und schlägt ins Negative um. Das umschreibt das prinzipielle Risiko des fahrlässigen Umgangs mit dem Schach durch Prominente.

 

Lennox Lewis hingegen ist ein wahrer Meister der Selbstimagepflege. Wo immer er auftritt gibt er überzeugend die Rolle von Schwiegermamas Liebling: sanft, höflich, hilfsbereit. Hier z.B. ließ er sich bei einem Schulbesuch ablichten und zeigte einem 13-jährigen Schüler ein paar Züge seines Könnens und lieben Charakters [7].

[Quelle: http://news.bbc.co.uk/sport1/hi/boxing/specials/lewis_v_tyson_fight/2028170.stm]

Das Vertrauen der Engländer in ihren sanften Riesen ist so groß, dass selbst ein vielbeachteter Fernsehspot zur Verhinderung von häuslicher Gewalt (neben notorischen Triebwohltätern wie Bob Geldof oder Alan Shearer) unter seinem Namen läuft. Umso schwieriger ist es, den unerklärlichen Aussetzer während der Tyson-Lewis Promotion zu erklären, bei der ganz eindeutig der gute Lennox zuerst zuschlug, glücklicherweise aber dann noch vom "Bösen Mike" ins Bein gebissen wurde, alle Aufmerksamkeit darauf lenkend.

[Quelle: http://news.bbc.co.uk/sport1/hi/boxing/specials/lewis_v_tyson_fight/2169825.stm]

Wenige Tage nach diesem Vorfall erschien ein aufschlussreicher Artikel im "Sunday Telegraph", von keinem geringeren verfasst, als Dominic Lawson, Freund Nigel Shorts und Autor des umstrittenen Buches "The Inner Game", Herausgeber des "Spectator" und, so Raymond Keene, "clearly a very influential person in British political life" [8]. Aufschlussreich ist vor allem der Einblick in die nationale Mentalität der Engländer [9], da der Zeitpunkt von Lawsons Schachpartie mit Lennox – denn darum ging es - alles andere als zufällig zu sein scheint. Da wird ein gefallener Engel wieder aufgerichtet. Alles an Lawsons Beschreibung deutet darauf hin, die sanftmütigen Seiten des Boxerstars herauszukehren und was eignet sich da besser – neben der sanften Hand, den geschmeidigen und lautlosen Bewegungen, der vertrauenseinflößenden Erscheinung, dem Lachen, dem Sinn für Humor und all dem Kram – als eine friedliche Partie Schach im trauten Heime? Hätte jemand erwartet, ein negatives oder auch nur zweifelndes Urteil über Lennox’ Schachkünste zu hören, selbst von einem Spieler, der über mehr als 2000 ELO verfügt? Selbstverständlich nicht, selbstverständlich wird dem gemütlichen Koloss intellektuelle Größe, auch wenn er beide Partien verliert, schachliches Talent, Angriffsgeist und sogar großmeisterliches Eröffnungswissen bescheinigt und da das noch nicht genügt das kundige Urteil St. Nigels eingeholt: "’He's obviously not too bad. He clearly has the right ideas, and played a lot of very logical moves.’ That's a high compliment from Short" [10]. (Lawson sollte seinen Freund diesbezüglich besser kennen. [11])

Schließlich darf Lennox auch noch ein wenig über das Schach sinnieren: "It's like boxing: there's a strategy. You have to decide what move to use, or what combination of moves. I'm thinking less when I'm boxing, because the reaction time is a lot quicker, but some people call me the chess boxer because they say I think too much when I'm in the ring. I am taking my time about it and they are not seeing the action they want. Well, that is because I am thinking of the proper strategy to defeat this man. I am thinking and boxing at the same time. Some boxers just go in there and just throw punches and hope to win."

 

Was aber am meisten überrascht, ist folgende Aussage: "After the second game is over I ask Lennox how often he plays chess. ‘When I am in training camp? Oh, all day, sometimes. Well, certainly about four hours a day.’" Vier Stunden am Tag!! Wow! Wo nimmt ein Mann, der pro Tag, so will man annehmen, sechs bis acht Stunden seinen Körper schindet, der, so weiß man, wenn er das nicht tut, unzählige "Gesellschaftstermine” wahrzunehmen hat, der auf tausend Hochzeiten tanzt, die Welt umreist, Interviews gibt, Besuche absolviert, karitativ tätig ist, wohl auch so was wie eine Familie hat, woher nimmt der die Zeit, täglich – certainly - vier Stunden Schach zu trainieren? Und wieso hat er sich dann noch keinen Namen in der Schachszene erobert, denn bei normaler Intelligenz und Begabung sollten vier Stunden tägliches Training bald zu spielerischen Erfolgen führen, die bei einer öffentlichen Persönlichkeit kaum unbeachtet bleiben dürften. Immerhin hat kein geringerer als Karpow einst verkündet, dass er nicht mehr als drei Stunden täglich sinnvoll trainieren könne [12]. Es ist die totale Fokussierung auf das Boxen, die täglichen acht Stunden gedankenlosen Knüppelns, die im "image making" nach einem scheinbaren Gegenpol verlangen, eben nach vier Stunden intelligenter Tätigkeit. Umgekehrt ist z.B. Kasparow bis zur Lächerlichkeit auf seinen durchtrainierten Körper stolz.

 

Tatsächlich sind sich Schach und Boxen näher, als der erste Eindruck glauben macht. Analogien, wie die von Lennox Lewis, reichen nicht aus, die Nähe zu erklären. In beiden gibt es eine Strategie, richtig, beide werden oft taktisch entschieden – wer wüsste das besser als Lewis, dessen Strategie gegen Rahman perfekt aufzugehen schien, bis der einzige taktische Einschlag, die "Partie" beendete? -, in beiden gibt es Kombinationen, knock- und blackouts, beide basieren auf primärer Dualität, beide stellen einen Kampf dar, in dem zwei Persönlichkeiten aufeinander treffen, zwei Stile, vielleicht sogar Lebensauffassungen oder Philosophien, aber all dies trifft auf so viele Bereiche zu und entbehrt daher wirklicher Überzeugungskraft. Fakt ist, dass es sich bei beiden Sportarten – für beide ist der Begriff des Sports daher problematisch – um die metaphysischsten Varianten des breiten Sportspektrums handelt, sie stellen Extreme dar und sind deshalb von besonderem philosophischem Interesse. Ins Unernste und idealtypisch Übertriebene gewendet könnte man sagen: während hier zwei Hohlköpfe aufeinander treffen, sind es dort zwei Hohlkörper.

 

Deshalb sollte man von einem Boxer genauso viel schachliche Glanzleistung erwarten, wie von einem Schachspieler boxerische. Genauso aber wie ich einen "typischen" Schachspieler im Boxring nur lächerlich und lachhaft finden kann – die frühen Slapstic-Einlagen des Stummfilms haben ein ganzes Arsenal urkomischer Szenen dazu produziert, nicht zuletzt Charlie Chaplin und Buster Keaton -, genauso darf ich von einem Boxer erwarten, dass er zumindest ein Grundverständnis des Schachs besitzt, wenn er sich öffentlich damit hervortut… und wenn er es nicht besitzt, dann darf auch gelacht werden.

Dieses Grundverständnis haben die Gebrüder Klitschko leider vermissen lassen, als sie sich in Leipzig mit Elisabeth Pähtz, blindspielend, zu messen wagten. Aber das war alles doch nur ein Spass? Ja, eben!

[Quelle: http://www.chess-international.de/ticker/leipzig/leipzig.htm]

Elisabeth Pähtz
Gebrüder Klitschko
1.e4
b6?!

Nicht dass man das, die "modern defence", nicht spielen könnte, aber für blutige Amateure wäre ein ordinäres e5 oder c5, e6, d6 wohl angebrachter. Der Verlauf der Partie zeigt, dass die Eröffnungsidee dieses Zuges nicht bekannt war.

2.d4
La6?

… Lb7 führte in bekannte Eröffnungsbahnen, wenn auch schwierige.

3.Lxa6
Sxa6!

ein guter Zug in schlechter Stellung

4.Sc3
Tb8?

Wer kann diesen Zug erklären? Entweder nur Kasparow oder der Mann, der sich für Kasparow hält.

5.Sf3
Sf6?

Verleiht zumindest die vorübergehende Illusion einer Figurenentwicklung.

6.e5
Sh5??

Damit ist die Partie entschieden! Man kann diesen Zug mit Lewis' Vernachlässigung der Deckung vergleichen, auch wenn er hier nicht zum sofortigen K.o. führt, sondern den Gegner noch ein bisschen taumeln lässt.

7.g4
Sf6?

… d5 hätte wenigstens noch etwas Gegenspiel ermöglicht und sich ins Unabänderliche mit fliegenden Fahnen begeben. Der Textzug sichert Weiß zu allem Unglück Raumvorteil und die bessere Bauernstruktur - als ob derartige Feinheiten eine Rolle spielen würden.

8.exf6
gxf6

Da kann man nicht meckern! Trotzdem überraschend, denn dem Gesetz der Serie entsprechend hätten die Herren Patzer mit exf6 es dem Gegner noch mehr erleichtern können.

9.De2
...

...
Lg7??

Ist nur noch durch Lh6??? zu überbieten.

10.Dxa6
Dc8

Nach der alten russischen Bauernregel: Hast du zwei Figuren weniger, tausche die Damen! - die zwei Figuren weniger bleiben dir schließlich.

11.De2
...

Von nun an beginnt Elisabeth gegen den Strich zu spielen, spätestens hier hat sie begriffen, dass die Flachnasen auf alles reinfallen!

...
c5?

Was will man machen? Ob die beiden hier schon ahnten, dass sie verlieren könnten? Sieht jedenfalls verdammt nach verzweifeltem Befreiungsschlag aus: Raus die Fäuste, irgendeinen wird's schon treffen und der Herr die seinen erkennen. Subtilere Züge wie 11…Db7 oder h5 oder e6 oder d6 waren schwer zu finden.

12.dxc5
Dxc5

Findet ein Blinder mit Krückstock! Wahrscheinlich wäre selbst hier, in der fifty-fifty-Situation das Nehmen mit dem Bauern stärker (bringt Tb8 "ins Spiel", wenn man so sagen kann), aber das sind Haarspaltereien.

13.Sh4
...

Ein teuflischer Plan, den sie nie und nimmer gegen einen Schachspieler probiert hätte. Der Zweck heiligt die Mittel…

...
d6?

Quod erat demonstrandum!

14.Sf5
Lf8!!?

Zwei Ausrufezeichen für den besten schwarzen Zug des Spiels, da der einzig korrekte. Ein Fragezeichen, weil die Korrektheit Zufall war, wie der weitere Verlauf zeigen wird.

15.Lh6!!?
...

Wer hier nichts zu lachen hat, der lacht nimmermehr! Elisabeth Pähtz wählt einen klar schwächeren Zug, weil sie weiß, was kommen muss und weil alle besseren Züge das Elend nur verlängert hätten. Des Spaßes halber, verdient der Zug zwei Ausrufezeichen. Die Kleine hat Humor!! …

...
Lxh6????

… und wird kongenial belohnt.

16.Dxe7#
1 - 0

 

Wer nun noch glaubt, die Klitschkos wüssten Schach zu spielen, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.

 

 

--- Jörg Seidel, 20.12.2002 ---

Fortsetzung folgt ...

Lesen Sie auch den 1. Teil dieser Reihe: "Paläoanthropologische Untersuchungen oder: Boris Becker und das Bum-Bum-Schach"


[1] Wilhelm Junk: Philosophie des Schachs. Leipzig 1918. S. 104
[2] exemplarisch: http://www.welt.de/daten/2002/11/07/1107sp366860.htx
[3] Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch VI/49
[4] "I honestly, don't like him playing chess,'' moaned Steward (the manager) as he looked out from the penthouse of the Mandalay Bay resort. ''When we get close to fight I try to hide it. I mean I see him sitting there for 10 minutes thinking four moves ahead before he makes one and he actually does the same thing in the ring."
[5] allerdings soll vor einigen Jahren ein Stellungsdiagramm im "British Chess Monthly" erschienen sein; nur, dass es eine solche Zeitschrift m.E. gar nicht gibt, lediglich das "British Chess Magazine" vgl. Dominic Lawson: The day I squared up to Lennox Lewis in: Sunday Telegraph 3.2.2202
[6] Antony Mann: Memoirs of a Mediocre Chess Player. KingPin 33, S. 35f. - Ich beziehe mich nachfolgend auf diesen Artikel
[7] vgl. auch die brandaktuelle Boxanthologie: Boxing. Unseen Archives. Parragon. Bath 2002; S. 377, wo selbiges Photo kommentiert wird: "Lennox relaxes by playing chess with local school children in Memphis". Lennox relaxes also vor dem Kampf gegen "Iron Mike”.
[8] Cathy Forbes: Meet the masters. Brighton 1994. S. 13
[9] vgl. zur Thematik: Sieg und Niederlage auf Englisch -victory and defeat in German. http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Polemik/england.php
[10] Dominic Lawson: The day I squared up to Lennox Lewis in: Sunday Telegraph 3.2.2202
…Although Lewis is a very big man even by the standards of heavyweight boxers - 6ft 5in, 17st 8lb, and arms that span 83 inches - he moves with astonishing lightness. There is absolutely no sense of physical menace, and his handshake is feather-light… In our first game Lennox, playing with the white pieces, loses speedily: he goes for a quick knock-out against my Sicilian defence and is caught off balance by a sneaky counterpunch.
"Let's have a rematch," he says, without a trace of ill-feeling. Of course the champion has a right to a return match, I reply. In the second game, I play the Spanish opening, sometimes known as the Spanish torture, because of the way in which it slowly crushes the life out of the opponent. …
Lennox, however, plays a very sharp response, currently fashionable in Grandmaster chess, and it's all I can do to keep control of the position. Eventually I do manage to grind him down, but not before almost falling into a series of devilish traps set by Lennox. ... But suppose, I suggested to Lennox, that he never entered the ring against Tyson. What would happen, instead, if the two of them settled their differences over the chess board? Lewis's answer, between great gulps of laughter, was instantaneous. "Oh, I would definitely win. He would eat the pieces and be disqualified."
[11] Was Nigel Short unter einem guten Spieler zu verstehen scheint und wie weit er sich von der Realität entfernt hat – woher kenne ich das nur? -, offenbart folgende Meldung aus "Chess", November 2002, S. 49: "Nigel Short was annotating the game Z. Bratanov – M. Gurevich in his increasingly eccentric Sunday Telegraph column. Of Bratanov’s 46th move he wrote: ‚It was better to wait with the bishop on f3, but weak players are not good at that sort of thing’. And just how weak is Mr Bratanov? His rating at the time was 2438.”
[12] Anatoli Karpow: Wie ich kämpfe und siege. Heidelberg 1978. S. 12


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

Impressum
Copyright © 2002 by Christian Hörr
www.koenig-plauen.de