RUBRIKEN
Home
Polemik/Aktuelles
Literatur
Philosophie/Psycho
Über den Autor
Summaries &
Translations
SK König Plauen
Mehr Philosophie:
seidel.jaiden.de
LITERATUR
10. März 2004

Bobby Fischer Goes To War. The True Story?

Euwe thought the best thing about the match was that it was over.

Lothar Schmid [1]

 

Jedes Jahr, das ist im Schachbuchbereich nicht anders als im Film, bringt ein Oscar gekröntes, ein "bestes Werk” hervor. Der beste Film muss kein guter sein – nur die Abwesenheit eines wirklich guten Films oder einer wirklich guten Jury kann den Skandalerfolg von "Herr der Ringe" in Hollywood erklären – und auch über den Vorjahressieger auf dem Schachmarkt, Kasparows "My Great Predecessors" streiten sich die Experten. Glaubt man den ersten Expertisen über das erst kürzlich erschienene Buch "Bobby Fischer goes to war. The true story of how the Soviets lost the most extraordinary chess match of all time", so liegt ein neuer ernsthafter Herausforderer für den diesjährigen Schach-Oscar bereits vor [2] und spätestens seit Geuzendams "Linares! Linares!" und Sosonkos Doppelpack "Russian Silhouettes"/"The Reliable Past" weiß man, dass der ansonsten übersatte Schachmarkt noch ein Plätzchen frei hat für journalistisch oder essayistisch aufgearbeitete Historie [3]. Exakt auf diesen Markt preschen David Edmonds und John Eidinow, zwei BBC-Journalisten, indem sie unter reißerischem und leider leicht irreführendem Titel die alte Mär von der Jahrhundert-WM neu erzählen.

Sie legen die Messlatte hoch: die wahre Geschichte soll es sein und nichts weniger. Aber ist nicht alles über das Schachmatch gesagt, haben nicht zahlreiche Autoren analysiert (Gligoric, Golombek, Alexander, Evans/Smith usw.) und präanalysiert (Varnusz/Florian) und reanalysiert (Euwe/Timman), hat man nicht Fischer und Spassky schon treffend charakterisiert (George Steiner), sogar psychoanalysiert (Fine), hat man den enigmatischen Fischer nicht schon ausführlich biographisiert (Brady) und sogar literarisiert (Waitzkin) oder seine Geschichte vertont (Andersson/Rice) und hat man nicht genügend über ihn, sein Verweilen, sein Verhalten spekuliert und selbst die Sterne befragt (Kraushaar)? Was also soll es da noch zu erzählen geben? Die wahre Geschichte eben, endlich die Wahrheit!

 

Mit der Wahrheit jedoch, der historischen zumal, ist es ein eigen Ding. Sie setzt ein doppeltes exaktes Wissen voraus, das der Vergangenheit und – noch viel wichtiger – das der Zukunft! Die meisten Historiker leiden unter dem Trugschluss, sie in der Vergangenheit finden zu können, die Wahrheit, mithilfe noch besserer Recherchen, noch tieferer Grabungen, noch genauerer Rekonstruktionen etc., dabei liegt das eigentliche, das unlösbare Problem in der anderen Richtung. Was nämlich etwas war, hängt davon ab, was es gewesen sein wird, und lässt sich erst dann sagen, wenn die Geschichte beendet ist [4].

 

Auch die beiden Journalisten beanspruchen neues Material freigelegt zu haben, vor allem hatten sie erstmals Einblick in KGB-Akten. Sie dürfen auch in Anspruch nehmen, dass die Geschichte des Ostblocks, die Geschichte des Kalten Krieges, die in den Verwirrungen um Fischer und Spassky mehr als virulent war, wenn schon nicht beendet, so doch zumindest durch eine entscheidende Zäsur neu erzählbar geworden ist. Zudem stellt die Affäre einen Kulminationspunkt dar, man kann sie wie einen Mikrokosmos entziffern und die kleinen wie die großen Zusammenhänge exemplarisch aufzeigen. Gute Gründe also, es zu tun.

 

Sie nutzen dafür ein erprobtes Erfolgsrezept, eine Mixtur aus peinlicher Exaktheit – "Robert J. Fischer was born to a life of chess at 2.39 p.m. on 9 March 1943 in Chicago" -, aus historischer und soziokultureller Einordnung und einer ganzen Anzahl von Exkursen (über Dostojewski, Spieltheorie, Schach und Musik/Wahnsinn/Mathematik… u.a.). Ob das beim Leser ankommt, hängt von dessen Gusto ab; man mag die Uhrzeitgenauigkeit als Akkuratesse feiern oder als Ballast verdammen, man mag ein Buch über Dostojewski vorziehen wollen und auch die historischen Hintergründe kann man als farbtupferischen Horizont oder hausbackenen Akademismus empfinden. Unabhängig vom Geschmacksurteil kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass unnötiges Material stolz präsentiert wird, um Recherchetiefe und Wissensüberhang sichtbar zu machen. An wesentlichen Einsichten allerdings wird nicht viel Neues geboten und selbst was man aus KGB-Archiven oder Gesprächen mit einst involvierten Altkommunisten erfährt, ist weniger neu als zum ersten Mal konkret. Um als Essay funktionieren zu können, sind derartige Passagen oft zu lang und detailliert; man liest und vergisst es sogleich. Höchstens ein paar Verschwörungstheoretiker im Rochade-Umfeld werden aus dieser trockenen Materie frischen Saft für Gerüchte und Vermutungen ziehen.

Fischer – Spassky (Reykjavík, 1972)
(Foto: http://bobbyfischer.net/)

Trotz allem kommt man nicht umhin, einige Schlussfolgerungen aus der Lektüre zu ziehen. So wird dem Leser des biographischen Teils deutlich, dass Fischer wohl nie den allgemeinen Wirklichkeitsbegriff mit seinen Mitmenschen teilte, dass er von Beginn an unter einem gewissen Realitätsverlust litt. Denken von abstrakten Differenzen war ihm unmöglich, weshalb rhetorische Figuren seinen Horizont ebenso überschritten wie der Gedanke des Kompromisses, der Diplomatie und selbst die einfachste Witzpointe blieb ihm – wie einem sechsjährigen Kind – verborgen (Um Fischer zu verstehen, muss man wahrscheinlich Piaget studieren und nicht Freud).

Es wird klar, dass Spassky viel mehr von der Geschichte und Gesellschaft geprägt wurde als sein amerikanischer Kontrahent, dessen Probleme subjektiver Natur sind. Wenn es noch etwas aufzuklären gäbe, dann vielleicht Fischers soziale Determination – inwieweit ist die amerikanische Gesellschaft (mit)verantwortlich für Fischers Idiosynkrasien und komplementär dazu wäre auch die ultimative Psychogenese Spasskys zu schreiben – vorausgesetzt sie biete mitteilenswerte Einsichten, "normal" wie er war. Schon immer widmete man Spasskys politischer Einstellung mehr Raum, während Fischer ein psychologisches Interesse weckt.

Man bekommt gute Einsicht in die bürokratischen Prozesse des Sowjetschachs und sieht vor allem, dass die sogenannte und achso effiziente "Schachmaschine" dem Spieler oftmals eher Knüppel zwischen die Beine warf, anstatt behilflich zu sein.

Den isländischen Belangen wird verhältnismäßig viel Raum gewidmet, die Isländer kommen von allen am besten weg (wenn das Buch in mir etwas bewirkt hat, dann ein erneutes Interesse für diese außergewöhnliche Insel, ihre Menschen, ihre Natur, ihre einmalige Literatur).

 

Vor allem aber wird einmal mehr klar – man kann da im Übrigen lesen, was man will, pro- und contra Fischer –: einen Weltmeister Fischer hätte es nie geben dürfen! Der größte Skandal der ganzen Affäre ist nicht sein unerhörtes und unbegreifliches Benehmen, sondern dass es trotzdem zu diesem Wettkampf kam und damit das Fehlverhalten eines Mannes, der Hunderten öffentlich ins Gesicht schlug, letztlich gerechtfertigt und belohnt wurde! Und was hätten wir, aus rein schachlicher Perspektive, denn verloren? Neben zwei, drei erstklassigen Spielen, einen Anfängerfehler des vermeintlich besten Spielers der Welt, eine nichtausgetragene Partie und fünf schwere Patzer des Weltmeisters, die einen ästhetischen Genuss empfindlich stören müssen.

 

Dahinter verbirgt sich das ganze Dilemma der Geschichtsschreibung, dass sie sich nicht schreiben lässt ohne das akkurate Wissen um die Zukunft. So gesehen könnten sich Euwes, Schmids und Slaters vielgelobte Rettungsversuche als historische Fehler entpuppen und Spasskys bemerkenswerter Stoizismus als Dummheit universalen Ausmaßes, spätestens als er vor der dritten Partie den Raumwechsel zulässt. Schmid entwickelte ein diplomatisches Gespür, als ginge es darum den dritten Weltkrieg zu verhindern, nur um ein "Genie nicht zu zerstören", das sich zwanzig Schachpartien später selbst abschaffte. Vielleicht hat Fischer nur den Stand des Asozialen auf den Schachthron gehoben, zumindest aber den Wahlspruch der FIDE und der internationalen Schachkommune – gens una sumus – ad absurdum [5] geführt: wir sind alle eine Familie – außer Bobby Fischer! Das scheint der wahre Grund des Fischermythos zu sein: nicht sein Schachkönnen, sondern, bewusst oder unbewusst, sein PR-Genie in eigener Sache.

Am Ende ist es die Crux des Geschichtsschreibens schlechthin. Es gibt immer nur Meinungen, Wahrnehmungen, aber keine Wahrheit. Auch dies hier ist nicht "the true story", selbst wenn alles in ihr wahr wäre.

 

Nichtsdestotrotz, auch dieses Buch könnte das beste des Jahres werden…

David Edmonds and John Eidinow: Bobby Fischer Goes to War. The True Story of How the Soviets Lost the Most Extraordinary Chess Match of All Times. London 2004. 302 Seiten

 

 

--- Jörg Seidel, 10.03.2004 ---

 

 

Mehr zum Kampf des Jahrhunderts z.B. auf den Seiten von Mark Weeks:

http://www.mark-weeks.com/chess/72fs$$.htm


[1] In: Edmonds/Eidinow. S. 247
[2] Gareth Williams hält es für ein "excellent and enthralling tale", ein "thoroughly engrossing, gripping and ful-filling read"; Daniel King sekundiert und sieht darin "the definitive account of the 1972 world title match (beide in Chess, March 2004); nicht ganz so euphorische aber meist positive Besprechungen gibt es unter:
http://books.guardian.co.uk/reviews/history/0,6121,1135340,00.html
http://www.davidhigham.co.uk/html/Titles/Bobby_Fischer_Goes_To_War
http://enjoyment.independent.co.uk/low_res/story.jsp?story=490738&host=5&dir=207
http://www.iht.com/articles/508962.html
http://news.scotsman.com/features.cfm?id=60972004
http://www.telegraph.co.uk/arts/main.jhtml?xml=/arts/2004/01/11/boedm11.xml
&sSheet=/arts/2004/01/11/bomain.html

[3] vgl. NIC Bestseller-Liste, wo das Buch gleich auf Platz 3 durchgestartet ist: http://www.newinchess.com/Shop/Default.aspx
[4] vgl. dazu den einleitenden Teil von: Geschichte des deutschen Arbeiterschach. Und ausführlicher: Jörg Seidel: Ondologie Fanomenologie Kynethik. Essen 1999. S. 43 - 50
[5] was er im Übrigen ohnehin ist: absurd! Ausgerechnet Schachspieler!


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

Impressum
Copyright © 2002 by Christian Hörr
www.koenig-plauen.de