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PSYCHOLOGIE
22. April 2004

Gamesmanship
oder:
Wie man beim Schach (nicht) bescheißt und trotzdem gewinnt.

As a medium for demonstrating one's mastery of the game, the board and pieces are, in fact, most unreliable.

William R. Hartston

 

Der Reichtum der englischen Sprache, verglichen mit der deutschen, ergibt sich aus zwei Tatsachen: ihrem historisch begründeten großen Wortschatz und ihrer Kompaktheit, d.i. die Fähigkeit Dinge in prägnanter Kürze auf den Punkt zu bringen. Deutsch hingegen bezieht seine Attraktivität aus der grammatischen Komplexität. Es ist – neben dem antiken Griechisch [1] – die philosophische Sprache schlechthin, während sich Englisch scheinbar unaufhaltsam als Weltverkehrssprache etabliert. Dies sind, um es vereinfacht zu sagen, die Gründe dafür, dass die deutsche Metaphysik seit Meister Eckhart bis hin zu Marx, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger tief, aufregend und umwälzend war [2] (während englische Philosophie auf dem Kontinent fast immer als langweilige Analytische Philosophie rezipiert wird und nur dort wirklich Aufsehen erregte, wo sie, wie etwa im Falle Berkeleys, zur extremen Ansichten gelangte) und dass man einen guten Krimi oder flinke Witze fast nur auf Englisch zu Gesicht und Gehör bekommt [3].

 

Kein Wunder also, wenn uns immer wieder unübersetzbare Begriffe begegnen. Einer der schillernderen und faszinierenderen steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen: "Gamesmanship". Nicht nur ist die Vokabel unübersetzbar in andere (zumindest germanische und romanische) Sprachen, auch das Englische kennt kein treffendes Synonym und muss sich mit aufwendigen Umschreibungen abfinden: als "The art or practice of winning games by means other than superior skill without actually violating the rules", umschreibt es das "The Penguin English Dictionary" und das "Wordsworth Concise English Dictionary" definiert es als: "(facet. - Stephen Potter) the art of winning games by talk or conduct aimed at putting one’s opponent off". "facet." meint "facetiously" = scherzhaft, spaßhaft und Stephen Potter ist der "Erfinder" dieses mittlerweile vielgenutzten Wortes. Tatsächlich haben wir es hier mit dem eher seltenen Fall einer Wortschöpfung zu tun, deren Entstehung eindeutig rückzuverfolgen ist. Will man also Sinn und Konzept von gamesmanship begreifen, so wird man Stephen Potters Buch "The Theory and Practice of Gamesmanship" (nachfolgend abgekürzt: G) aus dem Jahre 1947 und darüber hinaus die drei Folgebände "Some Notes on Lifemanship" (L), "One-Upmanship" (O) und "Supermanship" (S) lesen müssen. Und gleich vorweg: dies ist ein Hochgenuss, auf Neuhochdeutsch: it’s great fun!

Gamesmanship lässt sich selbst für seinen Schöpfer nicht in wenigen Worten erklären, sondern bedarf eines ganzen Beispielkatalogs, selbst wenn seine prägnante Arbeitshypothese schon eine gute erste Vorstellung verleiht: "What is gamesmanship? Most difficult question to answer briefly. ‘The Art of Winning Games Without Actually Cheating'" (G 10). Eigentlich gehört gamesmanship aber eher zu jenen Beschäftigungen, die man, um sie zu verstehen, besser tut als bespricht.

Eine der Schwierigkeiten ergibt sich aus der kompositorischen Vagheit des Begriffs, seltsamerweise macht dieses Manko ihn derart schillernd. Zum einen erlangt er seinen Puzzlecharakter (puzzle engl. = Rätsel) aus seinen sechs Bestandteilen: game, gamesman, gamesmanship, man, manship, -ship; zum anderen ist es die Bedeutungsvielfalt jedes einzelnen Bestandteils, die die Genialität der Wortschöpfung nachweist. Es ist der ideale Beweis für – wie Michel Foucault es beschrieb - die "wunderbare Eigenschaft der Sprache reich zu sein durch ihren Mangel", Bedeutungsreichtum zu erlangen durch den Mangel an Eindeutigkeit, durch den Mangel an Worten im Vergleich zum Vorhandenen [4]. Jedes einzelne dieser Grundbestandteile weist eine beeindruckende Bedeutungsvielfalt auf: game, von der Unterhaltung über den Wettkampf bis hin zum Sport (Penguin Dictionary gibt allein 11 Bedeutungen); man, vom männlichen Erwachsenen bis hin zur Menschheit (10); -ship, von der Bedingung und Qualität (friendship) über die Fertigkeit (horsemanship, scholarship) und den Status (professorship) bis hin zur Gruppenidentität (membership) und dem Titel (Lordship). Es kann also nicht wundern, wenn Potter diesen glücklichen Begriff auf alle möglichen Gebiete ausdehnt und wenn er zu zeigen versucht, dass ähnliche psychische Strukturen in einer ganzen Anzahl von –manship-Ideen anzutreffen sind. Vielleicht ist die Essenz des Terminus, "the philosophy of gamesmanship", die "One-Upmanship": "how to make the other man feel that something has gone wrong, however slightly" (L 13), kurz: dem anderen immer eines voraus zu sein.

 

Nun, wird man sagen, was soll daran originell sein? Ist es nicht schon immer der Menschen Ansinnen gewesen, sich mit dem anderen zu messen und zu vergleichen und, um überlegen zu sein oder wenigstens zu erscheinen, auch, sagen wir mal, unlautere Mittel zu verwenden? Tatsächlich liegt Potters Leistung auch nicht darin, das Konzept des gamesmanship erfunden zu haben, vielmehr geht auch er von "roots deep in human character" aus (S 11) und bekennt: "I browse in the realms of Behavioristicism and Implied Anthropology" [5] (S 14), ja mehr noch, führt er die "Origins and Early History of Gamesmanship" bis auf das Spiel der primitiven Tiere oder das Katz-und-Maus-Spiel zurück, um andere frühe Formen wie "the whole art of Homeric gamesmanship" (L 114) und "the battle of Agincourt" [6] und "the symbolism of the Pawns in Chess" (G 97) daraus erwachsen zu lassen. Sein eigentliches Verdienst liegt im Finden des kongenialen Wortes und in der Beschreibung des Phänomens als Kunst, "The art of winning…". Potter ist der erste Analysator. Sein Konzept kann daher überhaupt nur vor dem Hintergrund einer höheren Bildung und traditioneller Etikette wirken: "no true gamesman is, I hope, ever either mean or bad mannered" (G 43), stets spricht er ausschließlich zum archetypischen englischen Gentleman. Unsportlichkeit hat hier nichts zu suchen! "The good gamesman is the good sportsman" (G 21).

 

Müßig auch anzufügen, dass der Spielraum des Begriffs den Raum des Spiels überschreitet. Er ist "too big to be contained by the world of games” (G 10), es sei denn, man betrachte das ganze Leben, die ganze Welt als Spiel und Spielfläche.

Bevor wir uns dem Spezifikum Schach zuwenden, inklusive der neueren Grenzüberschreitungen bis hin zum glatten Betrug, ist es sinnvoll, einige – und wir können hier nicht alles referieren – Grundbestandteile des gamesmanship zu erläutern.

 

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel hat Sepp Herberger, der "Fußball-Philosoph", gesagt und Potter würde ergänzen: das Spiel beginnt vor der Partie, die Kunst des wahren gamesman beginnt im Vorspiel, im "Pre-Game”. Sein erstes Axiom lautet: "THE FIRST MUSCLE STIFFENED (in his opponent by the gamesman) IS THE FIRST POINT GAINED” (G 15). Ziel des Unterfangens ist die Verwirrung ("flurry”) des Gegners und das kann durch verschiedene Mittel erreicht werden; der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt, ob man nun die Tennisschläger vertauscht, den Gegner mit dem Wagen abholt oder sich abholen lässt um sich dann zu verfahren oder verfahren zu lassen, ob man die Vorteile des "Home and Awaymanship" (L 109) ausspielt, sprich die je örtlichen Gegebenheiten usw. das alles hängt vom eigenen Geschmack und der Versiertheit ab. Potter kann hier nur Denkanstöße und bewährte "gambits and ploys" geben, sofern folgende Einstellung gesichert ist: "The match started a good hour before the game began" (G 88).

Gut bewährt haben sich auch "conversationship", die Kunst den anderen in verhängnisvolle Selbst- oder Unsicherheit zu quatschen (L15) oder aber auch "clothemanship", die Kunst, durch denkbar ungeeignetste Kleidung den Rivale abzulenken bzw. ihm das Gefühl zu verleihen, bezüglich seiner Kleiderordnung selbst fehl am Platze zu sein, frei nach dem Motto: "If you can’t volley, wear velvet socks" (G 18). Welche Methode man auch wählt, und Potters Werke sind voller skurriler Ideen, wichtig ist allein, die richtige Atmosphäre des Unwohlseins zu schaffen – "The atmosphere, of course, is worked up, long before the game begins" (L 87). -, den Gegner zu verunsichern, möglichst ohne dass dieser etwas bemerkt: "The object is to create a state of anxiety, to build up an atmosphere of muddled fluster" (G 15).

Hierin einmal erfolgreich, fällt es dem geübten gamesman leicht, den eigentlichen Spielverlauf in seine Richtung zu lenken. Für den gewieften Schachspieler versteht sich Potters Regel, "play against your opponents tempo", quasi von selbst und die Geschichte des "Königlichen Spiels" kennt extreme Beispiele; wir erinnern an dieser Stelle nur an das legendäre Turnier Hastings 1851, wo Williams – nicht ganz zufällig ein Engländer – zweieinhalb Stunden für einen Zug benötigte um den erzdeutschen Anderssen fast an den Rand der Verzweiflung zu führen. Bedauerlicherweise hat moderne Effizienz die Möglichkeiten dieser Strategie in Form der Zeitbeschränkung drastisch eingeengt, um andererseits ein neues weites Feld zu eröffnen: das Spiel mit der Zeitnot (und den mittlerweile aus der Mode gekommenen Hängepartien).

Potter exemplifiziert seine Theorie hauptsächlich am Golf, "the gamesgame of gamesgames". (Einer der dessen Bücher offensichtlich sehr genau studiert hat, war Ian Fleming; James Bond ist ein Meister des gamesmanship und die Bond-Romane lassen sich leicht als Phänomenologie des gamesmanship lesen. [7])

Auch eine andere teuflische Methode ist aus dem Schach geläufig: "limpmanship" "Limpmanship, as it used to be called, or the exact use of minor injury, not only for the purpose of getting out of, but for actually winning difficult contests, is certainly as old as medieval tourneys, the knightly combats, of ancient chivalry. Yet, nowadays, no device is more clumsily used, no gambit more often muffed. ‘I hope I shall be able to give you a game…’” (G 29). Schon Blackburn (mitunter wird das Zitat auch Amos Burn zugeschrieben) beklagte am Ende seiner erfolgreichen Karriere, "nie gegen einen gesunden Gegner gewonnen zu haben”. Freilich, wäre der gamesman nicht der geborene Verlierer, welchen Sinn hätte die ganze Anstrengung? Besondere Schwierigkeiten ergeben sich also aus einer Gewinnsituation, in der die Regeln des "Winmanship" zu befolgen sind, während die normale Verlustsituation gewisse Fertigkeiten in "Losemanship" verlangt. Ist zum Beispiel der Konkurrent in einem guten Rhythmus, in einem "flow", so genügt es, ihn diskret auf seinen beneidenswerten Zustand aufmerksam zu machen, denn schließlich gilt: "CONSCIOUS FLOW IS BROKEN FLOW" (G 47). Sollte der gamensman trotz allem auf der Verliererstrasse sein, so muss er sich umorientieren; statt um den Gewinn zu spielen, spielt er nun um Ruhm und Ehre (als gamesman, wohlgemerkt): "For the glory of the gamensman who’s a loseman in the game" (G46). Dies lässt sich mit einer einzigen Formel erreichen: "Praise-Dissection-Discussion-Doubt – is the same for all shots and for all games. I often think the possibilities of this gambit alone prove the superiority of games to sports…" (G 48). Den Gegenspieler zu preisen dürfte nicht schwer fallen, ihn unauffällig abzulenken schon eher. Potter gibt als Beispiel "the removal of an imaginary hair from opponent’s ball, when he is in play" (G 50) im Billard, eine simple Strategie, die im Schach insbesondere Anatoly Karpow zur Perfektion beherrscht. Man wird schwerlich ein Spiel des Ex-Weltmeisters sehen, in dem er nicht ein imaginäres (oder vom eigenen Kopf gefallenes) Haar mit keckem Finger vom Brett zu wischen versucht [8].

 

Wie bei allen Dingen, die wirklich Spaß machen, gibt es nicht nur ein Vor- sondern auch ein Nachspiel. Der wahre gamesman ist der Vorkämpfer der permanenten Partie. Das "After-game" stellt sich zwei Ziele, in Abhängigkeit von der Spielsituation. "The true gamesman knows that the game is never at an end. Game-set-match is not enough”. Hat er nun gewonnen, so stellt er sicher, dass der Gegenspieler dies in voller Intensität begreift und schafft zu diesem frühen Zeitpunkt bereits die Grundlage für kommende Aufeinandertreffen; "The winner must win the winning". Hat er verloren, so besteht die Aufgabe darin – "turning defeat into something very near complete victory" – dem Sieger das Siegesgefühl zu vergällen: "It is true of the typical gamesman that his opponent never knows when he has won". "And the good gamesman is never known to lose, even if he has lost" (G 83). Zum Beispiel kann man den Sieger auf die Tradition des Titels aufmerksam machen und ihn in eine lange Reihe von unangenehmen und unbeliebten Vorgängern stellen oder, falls es sich um ein Freundschaftsspiel handelt, die Bemerkung fallen lassen: "I don’t think I’ve ever won a friendly match this year”. [9]

 

After-Game-Gamesmanship kann bereits während des Spiels stattfinden, dann nämlich, wenn die Siegesschale sich schon entscheidend geneigt hat. So ist es mir (Schwarz) erst kürzlich passiert, dass in dieser Stellung,

die für Schwarz unweigerlich gewonnen ist und in der Weiß hätte problemlos aufgeben können, mein Gegner mir, mit lächelnder Geste, eine Tasse Kaffee – white, sugar, of course – brachte. Daraufhin fragte ich ihn: "So, you’re preparing for a long battle?". Er lachte und erwiderte: "I am completely aware the position is lost, but…", unbewusst gegen Benjamin Franklins Verdammnis dieses gambits aus "The Morals of Chess” verstoßend: "You ought not to endeavour to amuse and deceive your adversary, by pretending to have made bad moves, and saying you have now lost the game, in order to make him secure and careless, and inattentive to your schemes; for this is fraud, and deceit, not skill in the game”.

Was in dieser kleinen lebensnahen Szene geschah, bringt Potter auf allgemeine Begriffe. Jeder Versuch mithilfe des gamesmanships den Kontrahenten zu beeinflussen, beginnt mit einem "gambit" [10] oder "ploy" und kann ausschließlich durch ein "countergambit" bekämpft werden. Versierte gamesmen können durch countercountergambits und countercountercountergambits etc. ein brillantes Feuerwerk zündender Ideen, ein Spiel im Spiel entfachen, noch bevor die Partie begann oder jenseits von ihr, noch bevor ein Ball geschlagen, eine Figur gerückt wurde. Die eigentliche Partie des gamesman ist das Psychospiel.

 

So auch im Schach! "The prime object of gamesmanship in chess must always be, at whatever sacrifice, to build up your reputation" (G 76). Potter rühmt sich, in seinem lokalen Schachklub als einer der stärksten Spieler zu gelten, ohne je (actually) eine Partie gewonnen zu haben: "this is done by affecting anxiety over the wiseness (sic!) of your opponent’s move.”, etwa indem man ihn freundlich fragt, ob er das tatsächlich so meine oder feststellt, dass er seine Entscheidung zu Rochieren in sechs, sieben Zügen bereuen könne. Ein anderes gambit bestand aus einer lauthals vorgetragenen Blindschachpartie zweier gamensmen, bei der Züge durchaus frei erfunden werden können, da ohnehin niemand zu folgen weiß. "Potters opening" hingegen – besonders wirksam gegen stärkere Spieler, gegen die man ohnehin verliert, besteht aus drei, vier Eröffnungszügen und der nachfolgenden Aufgabe, mit der Begründung, dass ein so erfahrener Spieler doch wohl kaum den forcierten Figurenverlust im 17. Zug übersehen würde etc. "It is no exaggeration to say that this gambit, boldly carried out against the expert, heightens the reputation of the gamesman more effectively than the most courageous attempt to fight a losing battle" (G 78).

"Sitzfleisch” umschreibt ein weiteres "primory chessmanship gambit”, "winning by use of the glutei muscles" (G 79). Dass es sich hierbei um ein uraltes, typisch englisches "gambit” handelt, beweisen Adolf Anderssens Aufzeichnungen vom Hastinger Turnier 1851: "Die Partien wurden auf niedrigen Tischen und Stühlen ausgetragen. Die zu kleinen Tische wurden von den Schachbrettern an den Seiten überragt. Neben den Spielern saßen Sekretäre, die alle Züge zu notieren hatten. Man hatte kein freies Plätzchen, um das sorgenvolle Haupt während des harten Kampfes zu stützen. Für den englischen Spieler ist allerdings eine bequemere Einrichtung überflüssig. Kerzengerade sitzt er auf seinem Stuhle, steckt die Daumen in beide Westentaschen und sieht, bevor er zieht, eine halbe Stunde regungslos auf das Brett. Hundert Seufzer hat sein Gegner ausgestoßen, wenn er endlich einen Zug ausführt" [11].

Die Kunst, die Steine richtig zu führen, gehört auch dazu. Aggressives Figurenknallen führt zwischen Männern meist nur zu erhöhtem Testosteronausstoß, also gesteigerter Kampfeslust; von einer zarten Frauenhand im richtigen Moment eingesetzt, kann es beim männlichen Gegenüber verheerende Folgen haben. Der ergänzende gekonnte Einsatz der weiblichen Büste versteht sich von selbst [12].

Zugegeben, all diese Hinweise wirken heutzutage etwas antiquiert. Sie stellen jedoch lediglich den Beginn einer langen, einer sehr langen Tradition dar – immerhin empfahl schon Ruy López (1561): "Stelle das Brett so, dass die Sonne in die Augen deines Gegners schaut" –, die mittlerweile neue ungeahnte Blüten treibt.

Doch lassen sich daraus gut und gerne allgemeine Schlussfolgerungen ziehen, etwa, um nur eine Andeutung zu machen, für Schule, Lehre, Studium und Beruf, wo es eben nicht darauf ankommt, Dinge zu lernen und zu wissen, sondern lediglich darauf, die Lehrkraft und den Vorgesetzten glauben zu machen, dass man wisse. Anders ist ein Phänomen wie Gert Postel, der Briefträger im Arztkittel, der nicht nur einer Zunft, sondern der ganzen Gesellschaft einen Spiegel vors Gesicht hielt, gar nicht denkbar [13]. Sein "gambit" bestand fast ausschließlich aus der Nutzung von – wie es Potter nennt – "OK-words and names", aus "clothemanship”, "passmanship” und "committeeship” ("the art of coming into a discussion without actually understanding a word of what anybody is talking about" O 51).

Wie weit aber darf man gehen? Sind Postels "Doktorspiele", um am Beispiel zu bleiben, nicht eigentlich Betrug und sogar kriminell? Definitorisch zog Potter die Grenze beim "actually not cheating", verweist er auf eine nicht zu überschreitende moralische Grenze, nur leicht durch den ironischen Oberton ("actually") unterminiert. Dort, wo der eigentliche Betrug beginnt, findet die Grenzverletzung statt: "In other words, gamesmanship can go too far. And the gamesman must never forget that his watchwords, frequently repeated to his friends, must be sportsmanship and consideration of others” (L 97).

Diese Grenze ist allerdings längst überschritten worden!

 

Legitimer Nachfolger Potters ist William Hartston mit seinen beiden Büchern "How to Cheat at Chess" (dt. "Wie man beim Schach bescheißt") und "Soft Pawn" (dt. "Schach und Sex und Rock’n Roll"). Nicht zufällig trägt erstgenanntes Büchlein den Betrug schon im Titel, sucht also schon den direkten krummen Weg zum Erfolg und reiht sich damit in eine ganze Phalanx von Ratgebern zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen ein, die meist alle schon vergessen haben, Erfolg ethisch zu hinterfragen. Wer Erfolg hat, hat schon immer Recht. Wir mögen diesen Zynismus, gestehen wir es uns ein! Wir verstehen ihn viel besser als die Potterschen Umständlichkeiten. Während man beim "Erfinder" des gamesmanship aus dem Schmunzeln nicht herauskommt, so bei Hartston aus dem Lachen nicht [14]. Und während Potter als subtiler Psychologe auftrat, der gekonnt mit dem rhetorischen Mittel der Ironie umzugehen verstand, geben heutige "Schachpsychologen" ungeniert direkte Tipps, wie man den Konkurrenten mit Hilfe "psychologischer" [15] Tricks und Fallen auf die Verliererstrasse bringen kann. Aktuellstes Beispiel dafür sind Amatzia Avnis’ – ansonsten einer der wirklich lesenswerten Schachautoren – "Practical Chess Psychology" [16] oder Angus Dunningtons sogenannte "Chess Psychology" [17], die nicht über Banalitäten, faulen Zauber und Anweisungen zu Täuschungsmanövern hinauskommen und, im ersten Falle, sogar ein eigenes Kapitel "Psychological Ploys" enthält.

Doch spricht sich darin lediglich ein allgemeiner Gesinnungswandel aus, dessen tiefe Ursachen in gesellschaftsmoralischen Entwicklungen zu suchen, dessen öffentlichkeitswirksame Auswüchse nicht zuletzt bei unseren Schachhelden zu finden sind. Die Fälle von (versuchtem) Betrug sind mittlerweile Legion, sie reichen von organisierten Traumpartien um Schönheitspreise einzuheimsen [18], über den mitleiderregenden Fall Allwermann [19] bis hin zu Kasparows Zugrücknahme gegen Judith Polgar (Linares 1994). Sie sind im Großmeister-Schach offensichtlich gang und gäbe [20]. Vielleicht kann man sogar die verführerische These wagen, dass unsere größten (modernen) Schachspieler auch die größten Könner des gamesmanship – um nur das mindeste zu sagen – sind. Man denke nur an Fischers skandalöse Auftritte in Sousse (besonders die Partie gegen Reshevsky) und Reykjavik oder aber an das Affentheater von Baguio [21]. Hollands Nummer 1, Loek van Wely drückt es in der passenden Sprache aus: "You don’t have to be a complete asshole to get to the top, but it helps" [22].

 

 

--- Jörg Seidel, 22.04.2004 ---


[1] wie Heidegger irgendwo sagt; vgl. auch: Raymond Aron: Der engagierte Beobachter. Stuttgart 1983. S. 31
[2] Man kann das an einem Beispiel verdeutlichen, an den Romanen des Norwegers Knut Hamsun, dessen prosaisches Norwegisch in deutscher Übersetzung scheinbar an geheimnisvoller Tiefe gewinnt, dessen Bücher auf Englisch allerdings nahezu ungenießbar werden, wie übrigens auch in den romanischen Sprachen. Für "Markens Grøde" erhielt Hamsun 1920 den Literaturnobelpreis. Man müsste den Titel mit "Der Erde Wachsen" oder "Wachstum der Erde" übersetzen und tatsächlich lautet die englische Übersetzung adäquat und kühl "Growth of the Soil", wohingegen Hamsuns erste deutsche Übersetzerin Pauline Klaiber daraus das konnotativ reiche, metaphysisch aufgeladene und fast mystische "Segen der Erde" macht.
[3] Diesen, zugegebenermaßen etwas oberflächlichen Gedanken fortgesponnen, wird man das Russische und seine Literatur als empfindsam und besonders leidempfindlich auffassen können und das Französische als sensibel und anregend. Einen Dostojewski, Pasternak oder Solowjew kann es eben nur auf Russisch geben, wie ein Balzac, Baudelaire und Proust nur auf Französisch denkbar ist, und selbst noch Derrida kaut inhaltsschwere Wörter wie der Connaisseur den gehaltreichen Wein.
[4] Michel Foucault: Raymond Roussel (1963). Frankfurt/M. 1989. S. 19ff.
[5] zwei Wörter, die selbst schon für sciencemanship stehen
[6] die Schlacht von Agincourt (1415), während des Hundertjährigen Krieges, baut noch heute das historisch orientierte Selbstbewusstsein der Engländer auf. In scheinbar aussichtloser Stellung schickten 6000 englische Krieger angeblich 18 000 Franzosen in den Tod; hauptsächlich mithilfe des legendär gewordenen "long- bow". Der Langbogen ist seither Symbol angelsächsischer Überlegenheit und kaum jemand schert sich noch darum, dass Frankreich actually den Krieg gewann!
[7] siehe "Schach und Bond, James Bond"
http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Literatur/bond.php
[8] siehe auch: "Ist das Schach ein sauberer Sport?"
http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Polemik/gerueche.php
[9] Loek van Wely gab erst kürzlich Einblick, wie ausgefeilt diese Kunst auf dem Schacholymp beherrscht wird, ganz gleich, ob Kasparow, Anand, Kramnik, Topalow, Radjobow, Ponomariow etc. siehe: KINGPIN 37, 29-33
[10] neben "checkmate", "stalemate" und "pawn in the game" einer der vier Schachbegriffe, die wohl nicht nur im Englischen den Weg in die Umgangssprache gefunden haben. (The Penguin Dictionary of English Idioms. London 1994. S. 254
[11] aus: Joachim Frank: Lob des königlichen Spiels oder Schach-Brevier. Wien/Berlin 1979. S. 80f.
[12] vgl. Chris Depasquale: Battle of the Sexes. Kingpin 36, S. 17ff.
[13] Gert Postel. Doktorspiele. Berlin 2001 (Eichborn)
[14] Das gilt allerdings für das englische Original viel mehr als die deutschen Übertragungen. Nicht dass Bernd Bra-ken und Norbert Krüger als Übersetzer einen schlechten Job gemacht hätten - ganz im Gegenteil, sie haben durch die oft freie Übertragung noch das Beste draus gemacht -, nein, es liegt an der englischen Sprache selbst, die, wie eingangs erwähnt, im Falle des Witzes eben nur begrenzt übersetzbar ist.
[15] Dass es sich um ein primitives Fehlverständnis von "Psychologie" handelt, wurde am Beispiel von Munzerts "Schachpsychologie" deutlich gemacht.
[16] Amatzia Avni: Practical Chess Psychology. Understanding the Human Factor". London 2001
[17] dazu hat Johannes Fischer in "KARL" schon alles gesagt: http://www.karlonline.org/kol20.htm
[18] vgl. Frank Rhoden: Cheating at Chess. In: Chess Treasury of the Air. London 1966. S. 211
[19] Italien musste wenig später einen ähnlichen Fall von computergestütztem Betrugsversuch erfahren, bei dem allerdings der vermeintliche Täter vielleicht selber zum Opfer eines übereifrigen Schiedsrichters wurde. Vgl. "Italia Scacchistica" 1159, S. 52 und nachfolgende Nummern
[20] siehe z.B. David Levy/Stewart Reuben: "The Chess Scene". London 1974. S. 117 – 127. oder, ganz frisch aus der Presse: New in Chess 8/2003. S. 63.
[21] Vgl. Anatoly Karpov & Baturinsky: From Baguio to Merano. The Worlds Chess Championship Matches of 1978 and 1981. Oxford 1986. Wer Karpows Aussagen über Kortschnoi nicht traut, dem sei die selbstentlarvende Au-tobiographie des "gamesmanship-Weltmeisters” ans Herz gelegt: Victor Kortchnoi: Chess is my Life. London 1977.
[22] Kingpin 37. S. 29ff.


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