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LITERATUR
22. September 2004

Aufstieg und Fall des Jeffrey Archer

 

The true fascination of Jeffrey Howard Archer lies in what his career tells us about the people and institutions around him.

Michael Crick [1]

 

Where There's a Will…

Jeffrey Archer [2]

 

Jeffrey Archer gehört zur kleinen Gruppe jener Menschen, die aus Stroh Gold machen können – und aus Gold Stroh!

Man kann seine Biographie als Märchen erzählen:

 

Ausgebildet an der Eliteuniversität Oxford (Brasenose College), erlangt er erstmals landesweiten Ruhm, als es ihm gelingt für das Wohltätigkeitsunternehmen Oxfam 1 Mio. Pfund (nach heutigem Maßstab wären das fast 10 Mio.) zu sammeln; sensationellerweise kann er die Beatles für dieses Projekt gewinnen. Oxfam, heute in ganz England allgegenwärtig, begann damit seinen eigentlichen Aufstieg.

Jeffrey Archer (rechts) sammelt für Oxfam zusammen mit den Beatles

In Oxford wird Archer auch einer der besten Sprinter des Landes, er gehört zu den gefragten "Oxford Blues" (der offiziellen Athletikmannschaft der Uni), er läuft sogar für die Nationalmannschaft. Später führt er den Oxford University Athletics Club als Trainer zu einem historischen Erfolg im prestigeträchtigen Zweikampf mit Cambridge. Er lernt eine der gescheitesten (und hübschesten) Studentinnen des Landes kennen und heiratet sie wenig später: Mary Weeden, "the catch of the generation", der man eine glänzende akademische Karriere voraussagte. Nach Studienabschluss widmet er sich der Politik und gewinnt mit überzeugender Mehrheit einen Sitz im Unterhaus (MP im House of Commons), dessen jüngstes Mitglied er wird. Zeitgleich verdient er als Unternehmer und Börsenspekulant seine erste Million. 1976 schreibt Archer sein erstes Buch und wird umgehend zum Bestsellerautor. Nachfolgend verkauft sich jedes seiner Bücher millionenfach, die Gesamtauflage wird auf über 150 Mio. geschätzt, womit Archer weltweit zu den meistverkauften zeitgenössischen Autoren zählt. Margaret Thatcher beruft ihn zum Deputy Chairman der Tory-Partei. Mit Unterstützung seines persönlichen Freundes John Major erlangt Archer den Adelstitel und wird "Baron Archer of Weston-super-Mare of Mark in the County of Somerset". Ein neuer politischer Triumph bahnt sich an, als er 1999 mit guten Gewinnaussichten für den Londoner Bürgermeisterposten kandidiert…

 

So zumindest liest sich Archers illustre Geschichte, wenn man ihm zuhören würde. Fragt man hingegen den Mann auf der Strasse, so wird man mit höchster Wahrscheinlichkeit den Satz zu hören bekommen: He is a notorious liar (er ist ein unverbesserlicher Lügner). Die wahre Geschichte, wie sie z.B. Crick erzählt, weiß einiges hinzuzufügen:

 

Der junge Archer versuchte sich vergebens in mehreren Karrieren, z.B. als Militärkadett oder Polizist, er scheiterte jedes Mal an der erschreckenden Aussicht auf langsamen Progress. Er wird, trotz fehlender Qualifikation, Lehrer, erschleicht sich den Zugang zur Universität, in die er nie als richtiger Student eingeschrieben ist und auch keinen Abschluss macht, sondern wo er "Forschungen betreibt". Sein Erfolg mit Oxfam, wobei er die Beatles eher überrumpelt und übertölpelt statt überzeugt hatte, wird überschattet von Selbstbereicherungsvorwürfen. Zwar puscht Archer sich wie besessen zu einem Leistungssportler, der an der Uni gute Resultate erzielt, doch weder gelingt es ihm zur nationalen Spitze vorzudringen noch war er überhaupt berechtigt als Oxford Blue anzutreten, und an einem Länderkampf nimmt er nur einmal teil, als in der Nachsaison eine B-Mannschaft nach Schweden geschickt wird, um deutlich zu verlieren. Die glückliche Ehe mit der faszinierenden Mary wird zudem von Affären überschattet. Die vielversprechende Chemikerin verzichtet weitestgehend auf eine eigene Karriere zugunsten ihres Ehemannes. Ins House of Commons gelangt Archer 1969 tatsächlich sehr jung, doch kann seine Behauptung, das jüngste Mitglied gewesen zu sein, den Tatsachen nicht standhalten (vier andere MP’s waren vor ihm in jüngeren Jahren dort [3]). Die riskanten wirtschaftlichen Unternehmungen zeitigen nur kurzfristigen Erfolg, stets unterhalb der vielbeschworenen ersten Million, und stehen zudem im Verdacht durch Insiderhandel zustande gekommen zu sein. Schließlich führen sie zum finanziellen Ruin. Hochverschuldet muss Archer seine junge politische Karriere an den Nagel hängen. Um die schwierige finanzielle Situation zu lösen, beschließt das Energiebündel mit den mittelmäßigen Schulzensuren und einer Schreibschwäche, Bestseller zu schreiben und hat – wunderbarerweise – Erfolg! Endlich verdient er die langersehnte Million und noch einige dazu. Nun wird er wieder gesellschaftsfähig. Freilich verschweigt er, dass es sich beim Posten des Deputy Chairman der Tories um einen inoffiziellen und ehrenamtlichen Job handelt, der lediglich dazu dient, dem überarbeiteten Chairman Handlangerdienste zu leisten.

John Major verleiht Archer die Peerswürde

Deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit wird Archer wenig später in einem undurchsichtigen Prostituiertenskandal erlangen. Dieser bringt ihn erneut zu Fall, auch wenn ihm ein Gericht wenig später in einem Verleumdungsprozess Recht gibt. Sein Nachfolger auf dem politischen Schleudersitz ist kein anderer als Michael Dobbs [4]. Archers dritter Anlauf, nach langer politischer Abstinenz, kommt erneut zum Scheitern, als 13 Jahre später eine neue Zeugenaussage ihn des Meineids (perjury) überführt: er wird zu 4 Jahren Haft verurteilt, von denen er 2 Jahre absitzen muss. Im Juni 2003 kommt er frei und macht sich seitdem für die Rechte der in Großbritannien einsitzenden Häftlinge stark.

 

Man kann Archer als "accident waiting to happen" charakterisieren, als macht- und geldgierigen Gauner oder aber als hochambitionierten, erzehrgeizigen, effizienten Energiemenschen, als Inkarnation der Redensart "Wo ein Wille ist, da ist ein Weg".

Zumindest auf einem Gebiet hat Archer letztere Einschätzung beeindruckend bewiesen: als Autor.

 

Bücher

Verursacht durch den Kollaps seiner riskanten Unternehmensspekulationen gelangt Archer Mitte der 70er Jahre an den Tiefpunkt seiner Rollercoaster-Karriere. Gerade noch ein aufstrebender Lebemann, plagen ihn quasi über Nacht Schulden in enormer Höhe, genug um einen Menschen zu brechen. Nicht aber diesen. Einzig und allein des Geldes wegen entschließt sich der Selfmademan dazu "einen Bestseller zu schreiben" und lässt sich von dieser scheinbar wahnwitzigen Idee auch nicht durch Gelächter und Warnung abbringen. Stattdessen zieht er sich zurück und schreibt, die soeben erlebte Pleite literarisch verarbeitend, "Not A Penny More, Not A Penny Less", eine amüsante Happy-End-Geschichte einer ideenreichen Revanche vier geprellter Investoren in eine "todsichere" Ölaktie. Wie alle Archer-Bücher, so braucht schon sein Erstling eine Menge lektorale Nachbesserung, aber am Ende steht ein lesenswertes Buch, das, vielleicht auch mit Hilfe des Namens, vor allem aber wegen der unermüdlichen Eigenwerbung, sogleich beachtlichen Erfolg hat. Es überzeugt weniger durch schriftstellerische Meisterschaft, wenngleich es einen ansprechenden Plot und eine flüssige Feder aufweist, als durch die Zielstrebigkeit und Willenskraft seines Autors, der nie zuvor auch nur literarisches Talent oder Hingabe sehen ließ. Angespornt durch den Erfolg gönnt sich Archer kaum eine Pause und bringt bereits im Jahr darauf, 1977, sein zweites Buch auf den Markt: "Shall We Tell The President". Was kümmert es, dass die Idee ein bisschen zu auffällig Frederick Forsyths "The Day Of The Jackal" gleicht; die dramatische Geschichte des in letzter Sekunde vereitelten Mordversuches an der ersten amerikanischen Präsidentin offenbart Archers tatsächliche schriftstellerische Stärke, die Kunst, spannend erzählen zu können. Aber auch eine seiner größten Schwächen: das Konstruieren zu vieler unglaubwürdiger Zufälle. Freilich, in suspense stories wie dieser mag man das verzeihen.

Nachdem der gescheiterte Geschäftsmann und Politiker nun doch noch die Bonanza fand, hätte man vermuten können, er würde nun fleißig schürfen, aber Archer wäre nicht Archer, wenn er selbst im Erfolg nicht nach Höherem strebte. Frühestes Produkt dieses unersättlichen Ehrgeizes ist der Wälzer "Kane And Abel" (1979), der ganz offensichtliche Versuch, einen Entwicklungsroman großen Stils, ein Meisterwerk ersten Ranges zu verfassen. Die Legende will es, dass Archer vor Freunden vom Literaturnobelpreis träumte. Das dickleibige Buch beginnt vielversprechend; insbesondere Abel Rosnovskis Kindheits- und Jugenderlebnisse sind nicht nur beeindruckend und bleiben lange im Gedächtnis, sie sind handwerklich auch solide gearbeitet und hätte der Möchtergern-Nobelist die Kraft gefunden nach 220 Seiten aufzuhören, er hätte einen weiteren Meilenstein in der kommerziellen Literatur geschaffen, dem man leicht auch den Ideenklau bei Solschenizyn, Dumas, Margaret Mitchell und Ian Fleming verziehen hätte. Leider offenbart sich in "Kain und Abel", das man oft als "Hauptwerk" Archers bezeichnet und das unerklärlicherweise tatsächlich seinen literarischen Durchbruch brachte, Archers Überambition, ein großer Schriftsteller zu werden, der sich mit Scott Fitzgerald, Sinclair Lewis oder sogar Theodor Dreiser (vgl. S. 207) messen könne, ohne zu realisieren, dass ihm dazu, zum ausschweifenden Erzählen, zum subtilen Charakterisieren, zum farbigen Stimmungsmalen, jegliches Talent fehlt! Warum nur genügte es ihm nicht, ein neuer Dumas zu werden? Je mehr das Opus zur Businessgeschichte verkommt, je mehr es Einfühlungsvermögen und künstlerische Klasse brauchte, langsame Handlungslinien befriedigend zu entwerfen, um so dünner wird das Ganze und grenzt nach vier-, fünfhundert Seiten fast ans Ungenießbare. Zunehmend strotzt das Buch von krassen Unglaubwürdigkeiten, reizlosen Bildern und zahllosen Wiederholungen. Zumindest in einem gleicht das "Hauptwerk" Mitchells "Vom Winde verweht", als es immer neue klischeetriefende und-dann-Geschichten produziert; deutlich ein Zeichen dafür, dass dem schnelllebigen Quirlgeist der Atem ausging. Die Schilderung des jahrzehntelangen Kampfes zwischen Abel Rosnovski, einem vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Typ, und William Kane, dem Erbe eines Bankenimperiums, bleibt aufgrund des zweiten Teils, den zweiten 300 Seiten, leider literarisch wertlos.

Mit "A Quiver Full Of Arrows" (1980), dem ersten Kurzgeschichtenband, bäckt Archer wieder kleinere Brötchen und das tut seiner Schreiberei sichtlich gut. Keine einzige der zwölf Erzählungen kann als wirklich misslungen gelten und einige darunter sind kleine Juwelen. Sie alle sind flott erzählt, geistreich, witzig und gelegentlich auch erotisch, sie zeigen erneut deutlich auf, wo Archers Reserven liegen. Seine handwerklichen Fähigkeiten sind sicherlich begrenzt, aber eine lebhafte Phantasie und die innere Energie, die auch sein Schreiben ausstrahlt, schafft es immer wieder auf der Inhaltsebene in den Bann zu ziehen, d.h. was da passiert, ist immer wieder – zumindest zu diesem frühen Zeitpunkt - lesenswert, weniger wie es dargestellt wird. Dazu gehört auch jene nette Geschichte vom Backgammon-Weltmeister, der in der Klubmeisterschaft nicht gewinnen konnte, die gut und gerne auch als Schacherzählung hätte funktionieren können.

Es kann nun kaum noch eine (böse) Überraschung sein - hat man das Achterbahnprinzip Archers begriffen, die seltene Fähigkeit, mit dem Hintern einzureißen, was die Hände geschaffen haben, um es dann in der Zirkellogik wieder aufzubauen - dass Archer zwei Jahre darauf erneut mit einem 500 Seiten-Klopper aufwartet, in dem er die magere Geschichte um "Kain und Abel" weitererzählen will, leider substantiell wesentlich dünner. In "The Prodigal Daughter" wird der Werdegang von Rosnovskis Tochter verfolgt, auf ihrem Weg zur ersten US-Präsidentin (dieselbe, die in "Shall We Tell The President" erschossen werden sollte). Dabei begeht er aber nicht nur dieselben Fehler wie in besagtem "Hauptwerk", nein, er verstärkt sie noch. Derartige Geld- und Erfolgsstorys sind nicht nur sterbenslangweilig, sie sind auch amateurhaft zusammengeschrieben, unsäglich aufgebläht und von zahllosen banalen Dialogen geprägt (kurz: es ist das erste Archer-Buch, das ich nicht beenden konnte). Ein solches Machwerk ist eigentlich genug, um die Reputation eines Autors dauerhaft zu schädigen, steht da aber in dicken Lettern "ARCHER" drauf und ist es von Marketingkünstlern effektvoll lanciert und bietet es sich marktschreierisch dem US-Markt an und wird es von einer übermenschlichen Energie promoted, dann freilich kann selbst ein solches Produkt zum "Number One Bestseller" werden.

Mit "First Among Equals" kommt Archer 1984 zurück, einem, in seinem engen Spektrum, einmaligem Buch. Darin verarbeitet er seine erste politische Pleite. Das Buch ist also sowohl aus biographischer Sicht von Interesse als auch als Einblick ins politische und seelische Innenleben der britischen Gesellschaft. Politik wird hier vielmehr als Spiel und Sport begriffen, als Beschäftigung, denn als Beruf, wie in Deutschland. Nur so lässt sich das einmalige Phänomen erklären, dass hochrangige Politiker wie Archer, Michael Dobbs oder Douglas Hurd sich nach oder während ihrer Karriere zu Bestsellerautoren mausern, die vergleichsweise schamlos ihre parlamentarische Erfahrung in Auflagentantiemen ummünzen. Politik wird weniger als Schachspiel dargestellt, sondern als ein Pferderennen oder Roulettespiel mit Wetteinsatz, auf jeden Fall ein Glücksspiel: das entlastet die Figurenverantwortung und nimmt der politischen Entscheidung den belastenden Schicksalscharakter, der die deutsche Politikszene so oft beschwert. In unserem Falle merkt man dem Buch wohltuend an, dass sein Verfasser wieder was zu sagen hat und nicht um den amerikanischen Markt buhlt (was könnte die amerikanische Öffentlichkeit mehr langweilen, als britischer Parlamentarismus oder irgendein anderer europäischer, for that matter?): es ist relativ flüssig geschrieben, auch wenn es mit der monoton wechselnden Viererperspektive etwas einfallslos konstruiert scheint – Archer hat seine literarischen Lektionen ganz offensichtlich bei John Dos Passos (oder einem seiner zahlreichen Nachfolger) und dessen Versatztechnik genossen, ohne freilich dessen Virtuosität auch nur annähernd zu erreichen. Politik wird darin viel mehr als Knochenarbeit denn Intrigantentum dargestellt, mit zahlreichen witzigen Momenten; insofern ist es der zynischen Sichtweise Michael Dobbs vorzuziehen. Ganz nebenbei, das mag besonders für den deutschen Leser interessant sein, lässt er die wesentlichen Passagen der jüngeren britischen Geschichte Revue passieren: die Heath-Ära, die Thatcher-Ära, der Falklandkonflikt, der EU-Beitritt Großbritanniens, das IRA-Phänomen etc. Wahrscheinlich, wollte man es zusammenfassen, vereinigt dieses Buch am deutlichsten Stärken und Schwächen des Verfassers: Archer in a nutshell. Genau besehen handelt es sich um eine zweite Novellensammlung, die durch einen roten Faden – die vier Protagonisten, aufsteigende Jungpolitiker aus verschiedenen politischen Lagern – verbunden sind.

Erst mit "A Matter Of Honour" (1986), einem Geheimdienstthriller um die Ikone des Zaren, schuf Archer wieder einen wirklichen page-turner. Dieses Buch hat alles, was ein Thriller braucht; man gewinnt damit keinen Nobelpreis, aber Millionen, in Dollar und Fans. Es zeichnet sich durch zahlreiche überraschende Wendungen aus, ohne Zweifel eine weitere Stärke Archers: überraschen zu können.

Zwei Jahre später macht er sie zum Programm mit "A Twist In The Tale", der zweiten Kurzgeschichtensammlung, die leider nicht mehr ganz so frisch und überzeugend wirkt, möglicherweise auf erste Verschleißerscheinungen hinweist, ein Problem, unter dem fast alle folgenden Werke leiden. Trotzdem: wie Archer fast schon routiniert Spannung erzeugt, wie er immer wieder das Unerwartete geschehen lässt, das erweckt noch immer Bewunderung und lässt in den besten Fällen an Somerset Maugham erinnern, manchmal, wie man noch sehen wird, zu deutlich. Demjenigen Leser, der den literarischen Werdegang bis hierher verfolgte, muss freilich aufstoßen, das meiste – sowohl hinsichtlich des Aufbaus als auch der Themen – schon einmal gelesen zu haben. Archer gingen offensichtlich auf dem Höhepunkt seiner Schriftstellerkarriere die Mittel und Ideen aus, mehr und mehr wirken die Bücher altbacken und aufgewärmt…

Das gilt weniger für den Wälzer "As The Crow Flies" von 1991, der noch immer beeindruckenden Geschichte Charly Trumpers, der es, wie einst Abel, sprichwörtlich vom Tellerwäscher zum Millionär schafft, denn in diesem voluminösen Roman scheint Archer erstmals das Genre der epischen Erzählung annähernd zu meistern, die typischen und unausrottbaren Schwächen freilich mit inbegriffen. Vor allem beschreibt sich Archer, deutlich wie nie zuvor, selbst: den ewigen Energiemenschen mit nie zu sättigenden Ambitionen. Dieser Übermensch ist stets lernwillig, anpassungsfähig und steht immer etwas früher auf als alle andern. Ein Rezept, das in einer imaginierten Welt von nur guten und nur bösen Menschen restlos aufgehen mag, allein Archers Biographie zeigt dessen Fiktionalität. Meiner Meinung nach ist dies sein ambitioniertestes Buch, weit besser als "Kain und Abel", nicht zuletzt weil viel vom Gewäsch, von den unglaubwürdigen Zufällen, von Wiederholungen etc. weggelassen wurde, ohne freilich ganz darauf zu verzichten. Auch stilistisch betritt Archer – innerhalb seines engen Spektrums – Neuland; insbesondere der Versuch des Perspektivenwechsels – es treten mehrere Erzähler auf -, verleiht dem Buch eine gewisse Frische. Aber es bleibt dabei: Archer ist kein Künstler von Rang, er kann gute Leseerlebnisse schaffen, aber keine große Literatur. Nicht zuletzt, weil er kein Stamina besitzt, weil er zu ungeduldig ist; der Anfang in dieser Art Saga-Bücher ist immer besser als das Ende, das meist aus öden Aufsichtsratssitzungen, Übernahmen und Börsenspekulationen besteht. Um den Leser bei der Stange zu halten nutzt er den billigen Trick, spannungsgeladene Entscheidungssituationen, wie Wahlen oder Auktionen, ausführlich zu schildern.

Das gilt auch noch nicht für "Honour Among Thieves" (1993), vielleicht Archers bestem Thriller, die dramatische Odyssee der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, von Saddam Husseins Schergen zum Zwecke der öffentlichen Demütigung aus den Bibliothekskatakomben Washingtons gestohlen, und ihre wundersame Rettung. Die Story gewinnt glücklicherweise an Plausibilität vor dem Hintergrund der neueren Ereignisse im Irak. Ein Buch, das regelrecht nach großer Verfilmung schreit!

Das gilt sehr wohl jedoch für Archers dritte Novellensammlung, die dem bislang Geleisteten kaum etwas hinzufügen kann. In "Twelve Red Herrings" gibt es noch zwei, drei geradlinige reizvolle Erzählungen (insbesondere "Do Not Pass Go" überzeugt), es gibt auch die gelegentliche "nette Geschichte", aber das ändert am Gesamteindruck wenig, der nun in aller Deutlichkeit suggeriert, dass Archer als Autor ausgebrannt ist. Selbst dort, wo er eine interessante Idee probiert – nämlich eine Begebenheit mit vier verschiedenen möglichen Ausgängen zu versehen -, ist die Basishandlung derart lau und langweilig, dass man sich schwerlich bis zum Ende durchquälen kann. Nur ein einziger bemerkenswerter Gedanke sticht hervor, eben weil er zeigt, wie sehr Archer von seinen Erfolgsmitteln weiß: "…that however talented an artist might be, it was industry and dedication that ultimately marked out the few who succeeded from the many who failed" (263).

Mit "The Fourth Estate" (1996) hätte der Verschleiß nun auch dem fanatischsten aller Archer-Fans (das ist vermutlich der egostarke Archer selbst) sichtbar werden müssen: 550 Seiten für einen Drittaufguss von "Kain und Abel" sind einfach zuviel! Daran ändert auch nichts, wenn der Autor erstmals ernsthaft versucht, das gute-Menschen-schlechte-Menschen-Image abzulegen und zwei gewissenlose Aufsteiger mit durchaus menschlichen Schwächen, zwei zukünftige Medientycoons (deutlich an Murdoch angelehnt) portraitiert, auch nicht, dass es ein kritisches Buch über Medienpower, Meinungsmache, Verquickung von Politik und Medien, von Quotenjagd etc. ist; am Ende bleibt eine dünne Story, deren Handlung sich in drei Worten zusammenfassen lässt: kaufen, kaufen, kaufen. Nichts anderes tun die beiden, nur die Beträge ändern sich, was mit ein paar Kleinmünzen begann, endet mit Milliarden, sprich, erneut: vom Tellerwäscher zum Millionär. Und als wüsste Archer tatsächlich um seine Schwäche, findet sich im Wortwust erneut das Geständnis: "Having a good story is not enough. You must then be able to commit it to paper. That’s what takes real talent" (354). Um wie viel mehr gilt dies, wenn selbst die Story arm ist?

Als dann zwei Jahre später "The Eleventh Commandment" erschien, hätte man glauben können, Archer hätte tatsächlich begriffen und sich endlich auf das konzentriert, worin er Meister ist. Und dieses Buch ist ein Muster, was die Spannungserzeugung betrifft, enorm clever, wenn auch einfach konstruiert, so wie ein guter Thriller sein muss: voller Überraschungen und sich überlagernder Konflikte, die schließlich alle überzeugend zusammenlaufen. Aber dann packt den Überehrgeizigen die Ambition erneut und er versucht sich zum weiteren Mal an der Geschichte antagonistischer Zwillinge: "Sons Of Fortune" (2002) ist vermutlich sein schwächstes Produkt, so schlecht gemacht, dass es einem fast den ganzen Archer verderben kann. Er sollte – man verzeihe die Wiederholungen – keine Bücher schreiben, in denen Personencharakteristiken notwendig sind, denn das kann er nun mal nicht! Stattdessen fabriziert er Schablonen – so uneindeutig, dass der Leser selbst nach 300 Seiten noch nicht zwischen Nat und Fletcher, Jimmy und Tom, den Hauptfiguren, zu unterscheiden weiß. So langweilt er mit gewollt-und-nicht-gekonnt-Prosa. Die Größe eines Autors liegt in der Selbsterkenntnis der eigenen Unfähigkeiten: nur so konnte Archers Vorbild Ian Fleming Weltruhm erringen, der konsequent alle Beschreibungen vermied. Nirgendwo wird es deutlicher als in seinen letzten Büchern: Archer schreibt immer nur im eigenen Saft, selbstbegeistert von der Ignoranz des Erfolgreichen.

In gewisser Weise trifft das auch auf den vierten Kurzgeschichtenband zu (To Cut a Long Story Short, 2000), der, sieht man mal von der ersten Erzählung ab, die eine Lehrparabel über die Macht des Wortes und deren gekonnten Ge- und Missbrauch im juristischen Betrieb darstellt, inklusive erkenntnistheoretischer und sprachphilosophischer Konnotationen, nichts enthält, was der Erwähnung noch wert wäre. Wie gesagt, das alles gilt in erster Linie für den Archer-Kenner; der Neuling mag auch in den beiden letzten literarischen Erzeugnissen noch Lesenswertes finden.

So gesehen konnte Archer nichts Besseres geschehen als seine Inhaftierung wegen Meineids (perjury); sie gab ihm die Möglichkeit ein vollkommen neues Genre zu probieren: das Tagebuch, das Gefängnistagebuch. Auch sein "Prison Diary" (2002/2003), dessen erste zwei Teile mittlerweile erschienen sind, brachte es umgehend zum Bestseller. Worin liegt der Erfolg begründet? Sicherlich nicht in den erneut zahlreichen Platituden – Archer versorgt seine Leser z.B. akribisch mit Schlaf- und Essenszeiten - , und wohl auch nicht in den zahlreichen Wehklagen und Eitelkeiten [5], sondern sowohl in der Schadenfreude des Lesevolkes als auch in den Zustandsbeschreibungen, die das britische Strafsystem schwer kritisieren (insbesondere die interne Kriminalität, der den Drogenkonsum und -handel, der viele Kleinverbrecher erst zu wirklichen macht). "This is Great Britain in the twenty-first century, not Turkey, not Nigeria, not Kosovo, but Britain" (53). Gekonnt nutzt der Multimillionär das politische Potential um erneut Aufsehen zu erregen und sich zugleich eine dritte politische Karriere nach dem Knast aufzubauen, als Rächer und Reformer. Litten die meisten seiner Wälzer am fehlenden Durchhaltevermögen trotz geglücktem Start, so präsentiert sich das Gefängnistagebuch umgekehrt, es gewinnt an Faszination, wenn man die ersten Kapitel übersteht.

 

Schach

Wo soll in einem Leben auf der Überholspur, die gelegentlichen Frontalzusammenstösse und Unfälle inbegriffen, wo soll da Platz für das ruhigste, das langwierigste, das tiefsinnigste aller Spiele sein? Vielleicht, so könnte man erwarten, sitzt Häftling FF8282 in seiner Zelle und spielt ein Spielchen mit einem Co-Insassen. Nichts da, selbst der Gefängnisalltag ist scheinbar straff durchorganisiert und ausgeplant, da bleibt keine Zeit für Müßiggang: Bücher müssen vorbereitet, Tagebücher geschrieben werden, vermeintliche Fans werden befriedigt, Lektionen erteilt und alles sonst, was ein überdrehtes Ego braucht um sich seiner Sonderstellung gewiss zu sein. Kein einziges Wort zum Schach in den Gefängnistagebüchern und auch die Biographen wissen – es kann nicht mehr verwundern - nichts, aber auch gar nichts, von einem solchen Interesse zu berichten. Und doch spielt es in zwölf von sechzehn Büchern eine mehr oder weniger explizite Rolle, wird es erwähnt, als Metapher oder als einfaches Utensil.

 

Man findet den gelegentlichen und doch so typischen Sprachgebrauch von Schachtermini, etwa in "The Prodigal Daughter", wo Mark über ein "opening gambit" im ersten Gespräch mit seiner späteren Geliebten nachsinnt (23) [6] oder es dient, um ein soziales Milieu zu charakterisieren, etwa in "Kane and Abel", wo es zu Williams – des Bankerben – großbürgerlicher und elitärer Erziehung gehört. Schach eignet sich immer wieder, um sozialen Status zu symbolisieren (Estate 133). Die Situation des Kalten Krieges wird als schachbrettartig dargestellt (Matter 17) oder die Russen – in guter alter James-Bond-Manier – als eiskalte Strategen, sprich: clevere Schachspieler (Commandment 158). Der künftige Aufsteiger und Erfolgsmensch, seine Überlegenheit, lässt sich dankbar an Schachsiegen aufzeigen (Kane 40). Aber umgekehrt muss es nicht immer die Konkurrenzsituation unterstreichen, es kann auch als Freundschaftsspiel verstanden werden, denn wer Schach spielt, ist im Moment intim mit dem anderen verbunden. In "Honour" wird die Ambiguität der Situation herausgestrichen – "Anyone watching the two bankers sparring with each other might have been surprised to learn that they played chess together every Sunday night" (236), wohingegen man in "Estate" über das wöchentliche Schachspiel Freundschaft schließt (157, 197) [7]. Den gegenteiligen Effekt unterstreicht Archer in "Crow”, wo er Charlie Trumpers "the biggest deal of my life” als reine Konfrontation mit der Schachsituation – "we faced each other, just a few feet apart, like rival chess players" – vergleicht (360). Schach findet aber auch als reines Spiel Erwähnung; es wird seine absorbierende Kraft genutzt, etwa während eines Bombenangriffs: "Two regulars in a corner continued a game of chess as if the war were no more than an inconvenience” (387f.).

Oft ist es Archers Witz, der seine Bücher genießbar macht. Auch das Schach kann dabei im Mittelpunkt stehen, etwa wenn die terroristischen Besetzer einer Botschaft ein Schachturnier mit ihren Geißeln abhalten.

 

Über diesen akzidentiellen Gebrauch hinaus gibt es durchaus Szenen, in dem das Spiel sinntragenden Charakter erhält.

Als Stephen in "Not a Penny More, Not a Penny Less" soeben erfährt in großem Stile geschröpft worden zu sein, da erinnert er sich, auf Rache für den Gaunerspekulanten sinnend, an die abendlichen Schachpartien mit dem Großvater; der geniale Racheplan nimmt damit erste Form an. "His grandfather’s advice to him, when as a small child he failed to win their nightly game of chess, floated across his mind: Stevie, don’t get cross, get even” (64) – was immer das auch bedeuten mag. Der Schachorientierte strategische Rat des Großvaters wird auf die Lebenssituation übertragen und damit das Gesamtunternehmen als ein Schachspiel interpretiert, zumindest in diesem einen, entscheidenden Moment.

 

Eine nette Kurzgeschichte – "The Luncheon" – in Archers erstem und bestem Novellenband ("A Quiver Full of Arrows") kennt den Vergleich der dominanten femme fatal mit einer Schachkönigin. "She wore a long white cocktail dress and her blond hair was done up in one of those buns that looks like a cottage loaf. The overall effect made her appear somewhat like a chess queen” (33) und da der männliche Erzähler sich des Namens der Schönen nicht erinnern kann, die ihn enthusiastisch, wie einen langjährigen Bekannten, begrüßt, so bleibt er dabei, sie im Geiste als "white queen” zu bezeichnen. Der junge und noch erfolglose Autor lädt die verwöhnte Verlegergattin zum Essen ein, bei jedem Gange nervös zusammenrechnend, ob sein letztes Geld reichen wird, ob er sich der Blamage entziehen kann. Archer gelingt mit Hilfe der Verbildlichung als Weiße Königin die Charakterisierung der extravaganten Amerikanerin; sie gestattet ihm, schnurstracks zur Handlungserzählung zu gelangen. Die Geschichte ist zwar harmlos, zeigt aber beispielhaft, wie ein Schriftsteller gekonnt seine Schwächen verbergen kann. Vielleicht fiel das umso leichter, da die Grundidee einer gleichnamigen short novel Somerset Maughams entstammt [8], in der die Schachreferenz freilich fehlt, die nichtsdestotrotz sich deutlich besser liest als Archers Imitation.

"A Weekend to Remember", eine weitere Kurzgeschichte aus Archers letztem Band "To Cut a Long Story Short" zeichnet sich auch nicht gerade durch Brillanz aus - man kann sie maximal als gefällig bezeichnen – wohl aber durch erneute Einbringung der Schachmetapher. Diesmal begreift sich der Erzähler, der eine junge hübsche Frau kennen lernt, mit ihr nach Paris reist um schließlich nicht nur enttäuscht festzustellen, dass da nichts zu holen ist, sondern dass er in einem anderen Liebesspiel, im Spiel um Macht und Verführung, nur missbraucht wurde: "I realised I must be a pawn in a far bigger game; but would it be a bishop or a knight that finally removed me from the board?" (198). Es dauert nicht lange, bis der eigentliche Spieler auf der Bühne, oder besser, dem Spielbrett erscheint: "Check…The knight has advanced across the board – or, to be more accurate, the Channel – and I have a feeling he’s about to be brought into play" (199). Archer reitet die Analogie noch weiter, die weibliche Begleitung des "Knights” wird ebenso als Bauer im Spiel identifiziert, geschlagen von der (diesmal) Schwarzen Königin; mit ihr tut sich der Geschlagene zusammen, zieht er sich aus dem Schach usw.

Man merkt schon, das alles ist keine große Literatur und wird es auch nicht werden, wenn wir uns nun den beiden expliziten Schachgeschichten zuwenden, aber man darf bei alldem nicht vergessen, dass vermutlich mehr, wesentlich mehr Menschen diesen Kram gelesen haben, als die "Schachnovelle" und "Lushins Verteidigung" und die "Lüneburg-Variante" zusammen. Wenn es also um Breitenwirkung geht, um versteckte Werbung, wenn man so will, dann kann man aus schachlicher Sicht nicht an Archer vorbei. (Wie oft habe ich in England erfahren, dass der Name Stefan Zweig in Schachkreisen unbekannt ist, wohingegen die Nennung Archers sofort zu Tiraden veranlasst. Statistisch gesehen hat allein in GB jeder Bürger zwei Archer Bücher gekauft/gelesen. [9])

 

Schach als persuasive Metapher scheint zu Archers festem Begriffsschema zu gehören, denn die erste seiner beiden "Schachnovellen", unter dem eindeutigen Titel "Checkmate" in "A Twiste in the Tale" (172 – 182) veröffentlich, kreist erneut um die Thematik der sexuellen Verführungskraft der Frau/Königin am Leitfaden des Schachspiels. Die Eingangsszene ist tatsächlich so atemberaubend wie unwahrscheinlich [10]: eine wundersame Schönheit tritt ein und erregt unter den versammelten Männern Aufsehen: große blaue Augen, jung, hautenges Minikleid, Stöckelschuhe. Kein Wunder, schließlich betritt sie den unwahrscheinlichsten aller Orte: einen Turniersaal! Kein Wunder auch, dass der Erzähler nur schwerlich sich auf seine erste Partie konzentrieren kann, sitzt er doch in ihrer Nähe und erhascht sogar einen Blickkontakt, ein scheues Lächeln. Auch die Spielpause bietet keine Gelegenheit, drei andere Verehrer haben ihr bereits einen Drink angeboten. So bleibt vorerst nur, ihr in der zweiten Partie gelegentlich zuzuschauen und mitzuerleben, wie sie von einem mittelmäßigen Spieler, einer grauen Escheinung, einem Buchhaltertypen, hoffnungslos überspielt wird. Endlich ergibt sich doch die Chance: "I introduced myself and found that just shaking hands with her was a sexual experience" – soviel über sexuellen Magnetismus. Selbstredend lässt sich der Erzähler die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, man plauscht ein bisschen über die bisherigen Partien und kommt schließlich zu Sache: man lässt sich kutschieren, man kennt seinen Text – "Have you time to drop in for a drink?" – und meistert die Tonlage - "It would have to be a quick one". Das Signal kommt gleich noch mal, als sie sich schon in der Höhle des Löwen befindet, das exotische Schachbrett bewundert und die Herausforderung zu einer kleinen Partie annimmt: "Time for a quick one". Unserem Helden fällt nun nichts Intelligenteres ein, als um einen Spieleinsatz zu fragen, 10 Pfund zu offerieren. Er kann sich nicht verkneifen anzufügen "You take something off", im Falle der Niederlage. Nun, das war nicht ganz fair, zugegeben, denn schließlich wusste er aus der gekiebitzten Partie um ihre geringe Spielstärke, aber da man sich nur "auf ein schnelles" verabredet hatte, droht keine Gefahr; was macht schon ein Schuh. "She wasn’t a bad player – what the pros call a patzer – though her Roux opening was somewhat orthodox. I managed to make the game last twenty minutes while sacrificing several pieces without making it look too obvious. When I said ‘Checkmate’, she kicked off both her shoes and laughed". Es bleibt natürlich nicht bei einem Spielchen und auch die Einsätze werden verdoppelt - "The second game took a little longer as I made a silly mistake early on, castling on my queen’s side, and it took several moves to recover. However, I still managed to finish the game off in under thirty minutes" – und verdreifacht…"It was the best game she had played all evening and her use of the Warsaw gambit kept me at the board for over thirty minutes. In fact I damn nearly lost early on because I found it hard to concentrate properly on her defence strategy. A couple of times Amanda chuckled when she thought she had got the better of me, but it became obvious she had had not seen Karpov play the Sicilian defence and win from a seemingly impossible position". Lässt sie sich – nur noch mit dem Nötigsten bekleidet - auf ein letztes Spiel ein? Satte 200 Pfund gegen alles? Na klar, das ist schließlich Archers Plot oder der "twist in the tale": "I have never been so comprehensively beaten in my life. Amanda was in a totally different class to me. She anticipated my every move and had gambits I had never encountered or even read of before". Plötzlich wird klar, wer hier die Puppen führte. Sie kassiert den Scheck, gönnt ihm noch ein Küsschen und weg ist sie. Aus dem Fenster sieht er sie nur noch in einen parkenden Wagen steigen, der Buchhalter öffnet ihr die Tür und fort sind die beiden.

Bedient wird mit diesem frivolen Geschichtchen, das sich sicher nicht viele Freunde in feministischen Kreisen macht, eher der Voyeur denn der ernsthafte Schachliebhaber, zu flau ist der Plot und zu schreiend die Fachfehler. Eine Blitzpartie mit 1 min pro Zug, eine Moskau-Eröffnung, eine Roux-Eröffnung [11], ein Warschau-Gambit und ein kopierter Sizilianer Karpows…, das ist doch zuviel des Guten, selbst wenn man künstlerische Freiheit einräumt. Aber dahinter verbirgt sich ein typisches Problem Archers, das viele seiner Kritiker auf verschiedensten Gebieten betont haben; seine Recherchen sind oberflächlich und vermutlich liest man allen möglichen Unsinn über Politik, Geheimdienste, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft ohne es als Laie zu realisieren. Man könnte auch in härteren Tönen von einem Blender sprechen. Das alles sieht an der Oberfläche gut aus, es klingt gut, kann aber keine Vertiefung vertragen. Exakt dies wirft man der Person Archers im Großen vor! Man darf nach dieser Lektüre davon ausgehen, in Archer keinen authentischen Schachspieler vorzufinden.

 

"The Endgame" lautet die zweite "Schachgeschichte" [12]; in ihr begegnen dem Leser die beiden Hauptfiguren in einem fast paradiesischen Zustand – schon das allein macht sie diskussionswürdig: am lodernden Kaminfeuer sitzend, einen edlen Cognac schlürfend, eine dicke Havanna schmauchend und – um das Glück perfekt zu machen – in eine Partie Schach vertieft. Cornelius Barrington, ein erfolgreicher und schwerreicher Unternehmer sitzt seinem Freund seit Kindertagen, dem Advokaten Frank Vintcent gegenüber. Unterschiedlicher kann man sich die Protagonisten kaum vorstellen, deren Leben gerade dabei ist, sich vollkommen zu ändern. Es ist nicht zuletzt das Schach, welches die Freundschaft am Leben erhält. "Among the things that had kept them close friends was their enduring love of chess. Frank joined Cornelius at The Willows for a game every Thursday evening, and the result usually remained in the balance, often ending in a stalemate”. Diesmal freilich muss sich der eine beugen: "’Congratulations’ sad Frank, looking up from the board. ‘I think you’ve got me beaten this time. I’m fairly sure there’s no escape.’ He smiled, placed the red king flat on the board…” Der rote König stellt durchaus keinen weiteren Missgriff Archers dar, vielmehr erinnert er daran, dass die frühen Figuren des St. George-Sets und auch noch die ersten Staunton-Figuren rot und weiß waren, übernommen von den Arabern. Tatsächlich deutet sich mit diesem Wink an, dass es sich um ein altes und wertvolles Set handelt, "a sixteenth-century Persian masterpiece" das im weiteren Handlungsverlauf seine Rolle spielen wird. Jedenfalls ist Cornelius dabei die Testamentfrage zu stellen und möchte deshalb ermitteln, wie die Familienmitglieder wirklich zu ihm stehen. Zu diesem Zwecke täuscht er seinen Bankrott vor, verkauft sein Schlösschen, versteigert das Inventar. Wir ersparen uns hier die vielen Komplikationen; man kann sich denken, wie die Betreffenden ihren wahren Charakter offenbaren – die einen unerwartet ihren schlechten, die anderen unerwartet ihren guten. Das Ganze wird fast selbstverständlich in Schachtermini diskutiert, man macht seine Züge, denkt die anderen als Bauern im Spiel, plant Strategie und Taktik etc. und auch das schachtypische Überraschungsmoment darf nicht fehlen, nicht alles geht schließlich glatt in einer solchen Partie. Ausgerechnet das antike Schachspiel geht in der obligatorischen Auktion für ein Butterbrot weg, aber da auch einige der Bauern im Spiel mitdenken, endet alles glücklich und die beiden Freunde dürfen sich am Ende des Durcheinanders wieder an selbiges setzen, am wärmenden Kamin, Cognac schlürfend und die Zigarre schmauchend ein "orthodoxes Damengambit" spielend, und um einiges klüger. Nirgendwo kommt Archer dem wahren Schachgeist, jenem noch ungelüfteten Geheimnis näher als in dieser literarischen Gelegenheitsarbeit, die den ordinären Leser langweilen mag [13], die jedem Caissa-Jünger jedoch aus dem Herzen sprechen muss, denn sie verbreitet in Millionenauflage noch einmal den Charme einer vergangenen Periode, der besten übrigens, die das Schach je kannte.

 

Literatur:

Jeffrey Archer:
Not A Penny More, Not A Penny Less. Coronet edition 198424 (1976).
Shall We Tell The President. Harper Collins Omnibus Edition 2001 (1977)
Kane And Abel. Coronet Edition 198427 (1979)
A Quiver Full Of Arrows. Harper Collins 1997 (1980)
The Prodigal Daughter. Harper Collins Omnibus Edition 2001 (1982)
First Among Equals. Coronet Edition 1985 (1984)
A Matter Of Honour. Coronet Edition 198710 (1988)
A Twist In The Tale. Coronet Edition 1989 (1988)
As The Crow Flies. Harper Collins edition 1997 (1991)
Honour Among Thieves. Harper Collins edition 1994 (1993)
Twelve Red Herrings. Harper Collins edition 1995 (1988)
The Fourth Estate. Harper Collins edition 1997 (1996)
The Eleventh Commandment. Harper Collins edition 1998
To Cut a Long Story Short. BCA edition. 2000
Sons Of Fortune. BCA edition. 2003 (2002)
A Prison Diary. Hell. Pan Books 2003 (2002)

Jonathan Mantle: Jeffrey Archer. In For A Penny. Sphere Books 1989 (1988)
Michael Crick: Jeffrey Archer. Stranger Than Fiction. London 2000.
Tim Dowling: Not The Archer Prison Diary. London 2000

 

 

--- Jörg Seidel, 22.09.2004 ---


[1] Michael Crick: Jeffrey Archer. Stranger Than Fiction. London 2000. Seite 463
[2] Jeffrey Archer: The Fourth Estate. London 1997 Seite 183
[3] vgl. Crick 147
[4] dessen Trilogie um den Premier Urquhart auf Metachess bereits besprochen wurde
[5] dies vor allem zog beißende Kritik auf sich; z.B.: Tim Dowling: "Not The Archer Prison Diary". London 2002
[6] ähnlich in "Commandment" 49
[7] ähnlich in "Commandment" 145
[8] "The Luncheon” in: The Complete Short Stories of William Somerset Maugham. Volume 1. S. 91-94
[9] Dowling S. 54
[10] sie liest sich wie Peter Krystufeks intimste Träumerei
[11] Diverse Datenbanken führen einen Spieler namens Luis Roux Cabral, der auch gegen Aljechin oder Eliskases spielte aber vielleicht darf man hier eher eine Affinität zu Philidor erraten, von dem Archer gehört haben mag und daraus schloss, dass es auch eine Roux-Eröffnung geben könnte.
[12] In: To Cut a Long Story Short. S. 31-77
[13] http://www.ciao.co.uk/To_Cut_A_Long_Story_Short_Jeffrey_Archer__Review_5065738/SortOrder/6


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