Die Deutsche Schachjugend hat ihrem höchstklassigstem Mannschaftsturnier auf den neckischen Namen „Deutsche Vereinsmeisterschaft“ getauft. Man wundert sich deshalb, ob es dort nicht so sehr um die antretenden Mannschaften geht, sondern um die dahinterstehenden Vereine. Wir hegten keine Ambitionen, unserer U20-Mannschaft eine Bürde dieser Art aufzulasten und gaben der Nomenklatur stattdessen die uns gewogene Interpretation, nach der alle Anreisenden ohne Rücksicht auf Spielberechtigung oder Schachverstand zu einem Haufen zu vereinen sind – zu einem Haufen, der selbst die interne Differenzierung aufgrund der Profilwahl in der Sekundarstufe 2 fürchtet. Oder wann sollte nochmal die Ernte des Lebens eingetrieben werden?
Es fällt nicht leicht, ein vernünftiges Bild des schachlichen Geschehens zu zeichnen, wenn man selbst nicht den Nervenkitzel verspürt, eine eigene Partie zu spielen. Mit dem Schwung der Leichtsinnigkeit pfeift man allen, denen man habhaft werden kann, die „ganz klare“ Gewinnvariante ins Ohr, nur um zwei Züge später zu bemerken, wie fahrlässig es ist, die Stellungseinschätzung nach Erspähen der einen offensichtlichen Idee abzubrechen. Lasst also ab von der Hoffnung, hier einen ausgewogenen Turnierbericht zu lesen. Es folgt eine Wiedergabe des Geschehens, wie es sich von einer Ausbuchtung des Haufens aus anfühlt.
Es war also am 2. Weihnachtstage, als gegen 10:30 Uhr das Dunkel der grausten aller Vorzeiten wich und das Licht dieser, unserer Geschichte zu strahlen begann. Noch jetzt frage ich mich, ob über die mir verschlossenen Kanäle eine Partisanenkommunikation stattfand. In jedem Fall waren wir für unseren Teil vollständig, als Daniel in Neumark samt Weihnachtsgeschenk zustieg und fortan floss auch alles wieder reichlich über die mir vertrauten Kanäle. Erik fuchste sich geschwinden Schrittes durch verwinkelte Bahnhöfe; unsere unwahrscheinliche Kraft im Stemmen verschiedenster Gegenstände wurde bundesweit bewundert, wenngleich wir nicht spekulieren wollen, welchen Eindruck unser sonstiges Auftreten hinterließ. Hauptsache hoch pokern: „Das ist der Niklas, ich bin der Toni.“ Alles andere wäre ja auch unglaubwürdig.
Der Turnierverlauf hielt für uns abseits von Barfüßigkeit und Klabusterpils wenig Aufregung bereit. Es mittelte sich ziemlich viel heraus. Zwei individuelle Partien werden die Zeiten überdauern. Anfangs gab ich mich noch Überlegungen hin, mit welcher Roadmap aus jedem Kampf möglichst viele Mannschaftspunkte zu extrahieren sein mögen. Das erwies sich bald als unnötig, weil eigentlich nur aus Perspektive der Moral strategische Entscheidungen anfielen. Die Kräfteverhältnisse schienen hingegen immer klar oder ließen sich zumindest nie durch Remisieren beeinflussen.
Baden-Baden war für den Auftakt gleich ein bisschen viel. Aber vielleicht ein positives Ergebnis im Unterhaus und dann hoffen, dass vorn noch etwas zusammenkommt? … Noch vor der Zeitkontrolle gingen die hinteren vier Bretter (6er-Mannschaften!) verloren und meine Hoffnungen ruhten darauf, dass ein Silberschweif die Stimmung auf akzeptablem Niveau hält. So wie es lief, kam ich wenigstens in den seltenen Genuss, freie Sicht auf die Spitzenbretter zu haben. Die waren vom Gang so weit entfernt, dass ich üblicherweise Probleme hatte, die Materialverhältnisse abzuschätzen. Über das gesamte Turnier erfuhr ich von Daniels Punktaussichten deshalb oft nur gerüchteweise.
Im ersten Kampf hatte sein titelhungriger Gegner (2408) sehr früh eine Figur geben müssen, um genügend Unklarheiten auf dem Brett zu belassen, die ihm einen Sieg bescheren sollten. Daniel stellte sich dem Bauernmop gegenüber selbstbewusst auf und eine zeitlang schien es mir fernem Beobachter unklar, wie irgendeine Seite Fortschritte erzielen sollte. Als Daniels Gegner dennoch den Vorwärtsgang einlegte, kamen in mir Bedenken auf, irgendetwas Offensichtliches nicht verstanden zu haben. Das hielt an, bis Daniel eine Remisabwicklung ausließ und nun auch wir Kiebitze begriffen, dass er mit großen Schritten ritscheratsche dem Sieg entgegen eilte. Da zudem Erik seine Partie retten konnte, gingen wir zwar mit einer Niederlage, aber dennoch ganz guter Dinge aus der Auftaktrunde. Die FIDE sollte sich beeilen, endlich die Titel zu gewähren. Live-DWZ > 2000 – hallo?!
Die zweite Runde brachte uns mit Frankenthal die erste machbare Aufgabe und nach dem Aussetzen am Vormittag konnte man nun auch Lucas am Brett bestaunen – also theoretisch, denn ich sah ihn nicht spielen. Nach 9 Zügen war es vorbei mit dem ernsthaften Schach. Der Spieß von c5 über d4 nach g1 entschied die Sache zu unseren Gunsten. Oder war es etwa doch 32. … Dxc2? Als ich die Bretter zum ersten Mal in Augenschein nahm, konnte ich meinen Blick nicht von Tonis Brett lösen.
Hatte sein Gegner seinen eigenen d-Bauern vom Brett gehustet? Wo soll der verloren gegangen sein? Die ernüchternde Auflösung gibt es hier.
Der Kampf war jedoch nicht entschieden. Das Gefeilsche um Remisgebote wurde mir mit dem trübseeligen „Na, mit einem Sieg wird das hier nichts mehr.“ vorgetragen. Zupass kam uns dann aber Huys Gegnerin, die ihm bei seinem einzigen Punktgewinn unterstützte. Daniel parierte vorn einen verkorksten Elfer und machte damit unseren ersten Sieg sicher. Wie auch andere Mannschaften feststellen mussten, kann man erst aufatmen, nachdem man Frankthal hinter sich gelassen hat. Nur gut, dass Niklas seine Nase am Zwinger trainiert.
Die Dinge entwickelten sich nun prächtig – zumindest habe ich mir das sagen lassen, denn ich trat jetzt erstmal in den Hintergrund. Die Idee mit dem Bootcamp stellte sich schon am ersten Abend als recht unpraktikabel heraus. Glücksspiele wurden im linksrheinischen Düsseldorf sowieso nicht gern gesehen, insbesondere dann nicht, wenn man trotz Königs-Halbem aus der Runde fliegt. Stattdessen gab es den Switch zum Unglücksspiel „Die Herberge zur Sägemühle“. Mürrisch fauchte ich mich in den Morgen und als die Stimme versagte, ging ich zum Klopfen an der Bettkante über. Und doch ließ sich der Schichtbetrieb kaum länger als 2 Minuten aus dem Takt bringen.
Liegend freute mich auf die Runden: Sollen die Jungs nur spielen, ich arbeite währenddessen an meiner Konstitution. Das ging ganz gut und die Stimmung erhellte sich, bis die finster illernden Logistikgeister aus der vertrieben geglaubten Vorzeit ihren Weg nach Düsseldorf fanden. Nach dem unerwartet sauberen Sieg gegen Lippstadt wollte niemand gegen Coswig pausieren. „Ich mach’s schon, wenn die Mannschaft das will.“ Doch wer soll sich schon bemüßigt fühlen, dieses Wollen zu verbalisieren? Vom Schlaf gezeichnet nahm ich mein Zeichengerät zur Hand, zeichnete die Namen der safe Gesetzten ins Protokoll und verfolgte schlafdelierend dem Stand der Diskussion. OK, Huy spielt, Lucas nicht, Unterschrift. Und doch mogelte sich Lucas irgendwie auf den Meldungszettel, weil man halt doch das schreibt, an was man gerade denkt.
Was bin ich froh, dass dieser Aussetzer ohne Folgen blieb. Lucas gewann seine Partie ohne Probleme und Daniel ist zu wohl erzogen, als dass er mir Vorhaltungen machen würde. Ich wurde noch Zeuge des seltsam leichtfüßigen Sieges von Niklas, vernahm wohlwollend die Berichte vom ersten Brett und freute mich nach Zählung der Damen auf Eriks Brett. Huy hingegen hätte mit der Partie gegen seine Gegnerin noch einen Tag warten sollen. Toni stand schwierig, aber aufgrund der anderen Bretter machte ich mir wenig Sorgen als ich zum Verwandtenbesuch aufbrach. Der späte Anruf brachte die Ernüchterung: „Ach! Nur Unentschieden! Spreche ihn besser nicht drauf an.“ Tue ich auch jetzt nicht, obwohl die Partie mehr mit Schach zu tun hatte als vieles, was sonst so in meiner Sichtweite lag.
Auch in Hinblick auf den weiteren Turnierverlauf kann man dem Ergebnis gegen Coswig wenig Positives abgewinnen. Obwohl uns dieser eine Mannschaftspunkt geklaut wurde, mussten wir jetzt mit angeschlagener Moral gegen Hamburg ran. Bemerkenswert war eigentlich nur, dass Daniel hier sein einziges Turnierei abholte. Gegen Halle in der Vorschlussrunde war er dann wieder auf dem Posten, aber nach Einschlägen an Brett 4 und 5 war auch hier nichts mehr zu holen. Niklas erreichte eine sehr seltsame Stellung, in der ihm nicht nur Material fehlte, sondern auch noch die Möglichkeit, irgendetwas zu drohen. Und dennoch musste sein Gegner nun schon sehr tief in die Schlucht greifen, um neue Ideen zu generieren. Er fischte dabei aber allerdings erfolgreich.
Diese Doppelniederlage hätte bei vielen Mannschaften wohl die Spritzigkeit des letzten Abends gebrochen. Wir fanden jedoch bald Trost. Die einen beim Entsaften, die anderen bei der Guiness-Schorle. Es dauerte nicht lang und wir wurden wieder lauter als die Bayern. Der Schnauzer heiratete die gewichtige Zunge, das Komitee zur Erstellung des Regelbuches ging mit dem Gedanken schwanger, auch dem Kartenspielen ein strenges Zeitregiment aufzuerlegen. Der Süßwasserfisch laichte, seinen Kopf gehüllt im imposantesten Balzkleid. Der blasse Drache züngelte an den Fließen und erfuhr die Gewalt der Fliehkraft in der Backe. Wieder mal blieb es Daniel überlassen, allen zu zeigen, wie man es richtig macht, während die Ohrenzeugen sich wohlgefällig in den Schlaf grinsten. Nein, ein sächsisches Team wird von solchen Dämonen nicht heimgesucht, deren Austreibung wir so oft einstudiert haben, dass wir sie auch nachts um drei manisch performen können. Und doch war allein die Lösung der Lippstädter gefragt.
Wir schlossen mit einem hohen, aber belanglosen Sieg gegen Darmstadt, nahmen Tobi in Empfang und genossen Düfte des Döners – gleichzeitig vor und nachdem dieser seiner natürlichen Bestimmung zugeführt wurde. Wer es schafft, Schlüssel aus Briefkästen zu fingern, ist nicht länger mehr auf Türklinken angewiesen.
Beim Böhmen erreichte uns die Lebensberatung, diesmal aus scheinbar qualifizierter Quelle, gleichzeitig mit dem Smiley. Die Düsseldorfer Organisation der Konsumentenversorgung erwies sich danach als inkompatibel mit unserem unbeschwerten Ansatz. Auch die Feier in der Brücke war zu cool für uns.
Die Siegerehrung war da schon lange vorbei. Die 7:7 Mannschafts- und 20:22 Brettpunkte gehen insbesondere bei Berücksichtigung des Vorjahrs in Ordnung. Mir wollte immer scheinen, dass sich das Niveau mancher Spielanlage mit wenig Aufwand spürbar hätte verbessern lassen. Aber wie gesagt, war das Mannschaftsergebnis eigentlich immer zu deutlich, als dass es an einzelnen Partien gelegen hätte.
Der Zug erreichte den oberen Bahnhof am Neujahrstag 23:30 Uhr. Der Haufen durchlief seine Paradoxie rückwärts; der Lehrer trollte sich des nachts noch – sicher lachend – in den Remishafen; das Licht der Geschichte erlosch und das Tohuwabu nahm mit einem breiten Grinsen wieder Platz. So war es. So wird es sein.